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Gesamtwille nur im Rechtsleben möglich
Quelle: GA 024, S. 204-207, 2. Ausgabe 1982, 07.1919
Von zwei Seiten her macht sich diese Unterdrückung geltend. Von der Seite des Staates und von derjenigen des Wirtschaftslebens. Und der Mensch stürmt bewußt oder unbewußt gegen die Bedrückung an. In diesem Anstürmen liegt die wirkliche Ursache der sozialen Forderungen unserer Gegenwart. Alles andere, das in diesen Forderungen lebt, ist an die Oberfläche getriebene Welle, die verbirgt, was in den Untergründen der Menschennaturen waltet.
Der Ansturm gegen die Bedrückung des Staates spricht sie aus in dem Streben nach wahrer Demokratie; der Ansturm gegen die Bedrückung des Wirtschaftslebens in dem anderen Streben, nach sozialer Gliederung des Wirtschafslebens..
Für das, was seit drei bis vier Jahrhunderten zum modernen Staate geworden ist, fordert die Menschheit die Demokratie. Soll diese Demokratie wahrhaftige Tatsache werden, dann muß sie auf diejenigen Kräfte der Menschennatur aufgebaut sein, die sich wirklich demokratisch ausleben können. Sollen aus Staaten Demokratien werden, dann müssen diese Einrichtungen sein, in denen die Menschen zur Geltung bringen können, was das Verhältnis eines jeden erwachsenen, mündig gewordenen Menschen zu jedem anderen regelt. Und jeder erwachsene, mündig gewordene Mensch muß gleichen Anteil haben an dieser Regelung. Verwaltung und Volksvertretung müssen so gehalten sein, daß sich in ihnen auslebt, was aus dem Bewußtsein eines Menschen sich ergibt einfach dadurch, daß er ein seelisch gesunder, mündiger Mensch ist.
Kann eine solche Volksvertretung und eine solche Verwaltung auch das Geistesleben regeln, das die volle Entfaltung der individuellen menschlichen Anlagen bewirken muß, wenn diese Entfaltung nicht zum Unheil des sozialen Lebens verkümmern und unterbunden werden soll? Diese Entfaltung beruht darauf, daß sie auf einem Boden gepflegt wird, auf dem nur so gehandelt wird, wie es sich aus den Impulsen des Geisteslebens heraus selbst ergibt. Spezifische Anlage wird nur von spezifisch entwickelter Anlage wirklich erkannt und richtig gepflegt. Und sie wird nur richtig auf den Weg in das Leben hineingewiesen, wenn der Weisende aus den Erfahrungen heraus handelt, die ihm die Erfahrung aus dem Lebenskreise heraus gibt, in den er weisen soll. Für die rechte Pflege eines sozial gesunden Gemeinstaftslebens sind Persönlichkeiten notwendig, welche einzelne Zweige des Lebens durch eine in diesen ausgebildete Erfahrung genau kennen, und die in sich den Sinn dafür entwickeln, innerhalb des Geisteslebens ihre Erfahrung zur Offenbarung zu bringen. Man denke an den sozial bedeutungsvollsten Zweig des Geisteslebens: an die Schule auf jeder Stufe. Kann denn die Entfaltung der individuellen Menschenkräfte und ihre Vorbereitung für das Leben auf einem bestimmten Gebiete gedeihlich nicht nur von einer Persönlichkeit besorgt werden, die individuelle Erfahrung auf diesem Gebiete hat? Und kann jemals etwas sozial Heilsames entstehen, wenn für die Stellung einer solchen Persönlichkeit an ihren Platz etwas anderes maßgebend ist als das Walten ihrer individuellen Fähigkeiten selbst? Was in der Demokratie sich auslebt, kann nur auf dasjenige sich beziehen, was jeder mündige Mensch mit jedem mündigen Menschen gemein hat. Es gibt keine Möglichkeit, durch dasjenige, was in der Demokratie sich ausleben kann, eine Regelung darüber zu finden, was ganz im Kreise des individuellen Menschenwesens liegt. Will man ehrlich und wahr die Demokratie durchführen, so muß man von ihrem Boden ausschließen alles, was in diesen Kreis gehört. Auf demokratischem Boden und innerhalb der Verwaltungseinrichtungen, die auf diesem Boden auswachsen können, kann kein Impuls entstehen, der richtunggebend sein darf für eine menschliche Betätigung, die frei aus der individuellen Begabung des Menschen fließen soll. Die Demokratie muß sich für unfähig zu einem solchen Impulse erklären gerade dann, wenn sie wahre Demokratie sein will. Will man aus dem bisherigen Staate eine wahre Demokratie herausgestalten, so muß man aus dieser alles dasjenige herausnehmen und es seiner vollen Selbstverwaltung überliefern, über das nur die individuelle Entwickelung des besonderen Menschen die rechten Impulse entwickeln kann, und das keine Regelung erfahren kann durch dasjenige, was in jedem Menschen einfach dadurch lebt, daß er ein mündiger Mensch geworden ist.
Die sozialen Verhältnisse, über die jeder mündig gewordene Mensch urteilsfähig ist, sind die Rechtsbeziehungen von Mensch zu Mensch. Es sind dies zugleich diejenigen Lebensverhältnisse, die ihren sozialen Charakter nur dadurch erhalten können, daß sie in demokratischen Einrichtungen sich als ein Gesamtwille aus dem wirklichen Zusammenwirken der gleichen menschlichen Einzelwillen ergeben. Bei allem, was auf dem Boden der individuellen menschlichen Fähigkeiten erwachsen soll, kann nicht ein Gesamtwille in den Einrichtungen zum Ausdruck kommen; sondern diese Einrichtungen müssen solche sein, in denen die Einzelwillen sich voll zur Geltung bringen können. Der einzelne Mensch muß gewissermaßen wie eine Naturgrundlage sich verhalten können. Man kann nicht über eine Landfläche hin aus Bedürfnissen heraus, die abgesehen von den einzelnen Teilen dieser Landfläche gefaßt sind, diese bewirtschaften; man muß aus dem Wesen der einzelnen Teile kennenlernen, was sie besonders hervorbringenkönnen. So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wirken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellen menschlichen Fähigkeiten.