Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit keine alten Schlager

Quelle: GA 192, S. 273-274, 1. Ausgabe 1964, 06.07.1919, Stuttgart

Ich habe neulich in Heilbronn gesprochen. Was der Zeilenschinder über meinen Vortrag sagt, ist mir ganz gleichgültig, darauf kommt es nicht an, aber dieser Zeilenschinder findet es angemessen, die gegenwärtige Weltanschauung in einem kurzen, prägnanten Satz zum Ausdruck zu bringen. Er sagt: «Die Banalität seiner ganzen Aufmachung, die stark an amerikanische Propaganda erinnert, zeigte er am deutlichsten dadurch, wie er die alten Schlager der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in seine Dreigliederung einfügt.»

Also, es gibt in der heutigen Zivilisation die Möglichkeit, daß aus ihr heraus gesprochen wird - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind Schlager, sind alte Schlager. Prägen Sie sich das in Ihre Seelen, prägen Sie sich es in Ihre Herzen. So wie Hamlet gesagt hat, «Schreibtafel her, Schreibtafel her! daß ein Mensch immer lächeln und lächeln kann und doch ein Schurke sein kann!» Schreiben Sie sich das in Ihre Seele: Es gibt in der heutigen Kultur die Möglichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit «alte Schlager» zu nennen! Und dann fragt man, wo die Impulse für den Untergang dieser Kultur liegen? Seien Sie nicht zu bequem, meine lieben Freunde, seien Sie nicht lässig! Sagen Sie es den Leuten, daß das möglich ist, daß die edelsten Güter der Menschheit in diesen Tagen in den Dreck gezogen werden von dem, was sich «europäische Bildung» nennt. Dann werden Sie dieses Geistige vielleicht doch hinüberbringen, wenn Sie es den Menschen nur deutlich machen können, was sie in ihren Seelen verschlafen. Denn über diese Dinge lesen heute die Menschen hinweg, das nehmen sie als Selbstverständlichkeiten. Auf diese Dinge muß aber hingeschaut werden. Und ehe nicht gesehen wird, wie stark die Niedergangsimpulse sind, wie trivial dasjenige ist, was zuletzt in diese Weltkriegskatastrophe hineingesegelt hat, gibt es kein Heil. Und wenn es ein Heil gibt, so wird es doch nur möglich sein, wenn es aus der neuerlichen Vertiefung der Menschheit in ihre geistigen Untergründe hervorgeht:Wir können nicht in einer bloßen Aufwärmung alter Geistigkeit heute das Ziel sehen. Wir müssen heute im Innerlichen zu der Stärke kommen, eine neue Geistigkeit zu schaffen. Daran hängt das Schicksal Europas: Entweder diese neue Geistigkeit, oder Europa wird zum Grabe mit Bezug auf seine Kultur! Es gibt ein Drittes nicht, und für das eine oder für das andere muß sich die Menschheit entscheiden. Entweder in den Untergang hinein, oder, mutig in die neue Geistigkeit hinein!