Von geistiger Freiheit zu seelischer Gleichheit und leiblicher Brüderlichkeit

Quelle: GA 333, S. 062-064, 2. Ausgabe 1985, 22.07.1919, Ulm

Ich möchte sagen: Zwei Wege sehen wir, der eine links, der andere rechts. Der eine gibt uns die Möglichkeit, stehenzubleiben bei denjenigen Anschauungen, die die bloße Naturwissenschaft gebracht hat, und von dieser Anschauung, die die Naturwissenschaft gebracht hat, nun auch überzugehen zu den sozialen Anschauungen; also von dem Glauben auszugehen, man könne mit demselben Ideenvermögen, mit dem man die Natur begreift, auch das soziale Leben begreifen. Das haben Karl Marx und Friedrich Engels getan, das tun Lenin und Trotzki. Deshalb kommen sie zu ihren Wegen. Das sehen die Menschen heute noch nicht ein, daß die Naturwissenschaft auf der einen Seite steht, und daß ihre letzten Konsequenzen in dem sozialen Chaos, im sozialen Niedergang zum Ausdruck kommen. Der furchtbare Glaube, der im Osten Europas jetzt alle wirkliche menschliche Kultur vernichten will, dieser furchtbare Glaube des Lenin und Trotzkij, er geht hervor aus dem anderen Glauben, daß man die Wege der naturwissenschaftlichen Erkenntnis auch im sozialen Leben gehen müsse. Was ist denn geschehen unter dem Einfluß dieses neueren materialistisch-naturwissenschaftlichen Glaubens? Es ist das geschehen, daß unser ganzes Geistesleben mechanisiert worden ist. Dadurch aber, daß unser Geistesleben sich nicht mehr erhebt zu Gedanken über den übersinnlichen Menschen, daß es sich mechanisiert an der äußeren mechanistischen Naturanschauung, dadurch werden zu gleicher Zeit die Seelen vegetarisiert, pflanzenähnlich, schläfrig gemacht. So sehen wir, daß wir neben dem mechanisierten Geist eine vegetarisierte Seele im modernen Kulturleben haben.

Aber wenn die Seele nicht durchwärmt ist vom Geiste, wenn der Geist nicht durchleuchtet ist von dem übersinnlichen Erkennen, dann entwickeln sich im Leibe die tierischen Eigenschaften, die heute in den antisozialen Trieben leben und die im Osten von Europa zum Henker der Kultur werden wollen. Dann entwickelt sich unter dem Vorgehen, sozialisieren zu wollen, das Allerantisozialste; dann wird das leibliche Leben neben dem mechanisierten Geiste, der vegetarisierten Seele, animalisiert. Die wildesten Instinkte und Triebe treten als historische Forderungen auf. Das ist der Weg, der links geht.

Der andere Weg, der rechts geht, ist der, der sich in der heute mitgeteilten Weise hineinfindet in die Anschauung des übersinnlichen Menschen, der übersinnlichen Welt, der auch die Entwicklung des Menschen im übersinnlichen Lichte schaut, der hinaufdringt zum wirklich freien Geiste.

Aus den Ideen, aus denen ich die Freiheit des menschlichen Fortschritts schildern wollte in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit», wollte ich den Grund legen zu demjenigen, das der Mensch erleben kann als Bewußtsein seiner wirklichen inneren Freiheit durch das Ergreifen des geistigen Lebens. Nur der Geist, der den Menschen durchdringt, kann wahrhaftig frei werden. Derjenige Geist, der nur die Natur durchdringt und alles soziale Leben nach dem Muster der neueren Naturwissenschaft formen wollte, wird mechanistisch unfrei. Und die Seele, die nur von diesem Geiste durchdrungen ist, schläft wie die Pflanze. Diejenige Seele, die durchwärmt wird von dem wahren pulsierenden Wollen der Geist-Erkenntnis der übersinnlichen Menschennatur, diese Seele tritt vor den anderen Menschen im sozialen Leben hin, sie lernt im anderen Menschen den übersinnlichen Menschen schätzen. Sie lernt das Göttliche im Urbild in jedem Menschen schauen. Sie lernt soziales Fühlen jedem Menschen gegenüber. Sie lernt, wie mit Bezug auf diese innerste Seele alle Menschen hier auf der Erde gleich sind. Und in dieser vom Geiste durchwärmten Seele kann sich, auf dem anderen Wege rechts, Gleichheit entwickeln. Und werden die Leiber durchtränkt und durchgeistigt von dem übersinnlichen Bewußtsein, werden sie durchwärmt, werden sie veredelt von dem, was die Seele aufnimmt, indem sie erweckt wird durch den Geist, nicht vegetarisiert bleibt, dann werden die Leiber auch nicht animalisiert; dann werden die Leiber so, daß sie das entwickeln, was man im weitesten Umfang echte Liebe nennen kann.

Dann, dann weiß der Mensch, daß er in seinen Erdenleib als übersinnliches Wesen einzieht, daß er in diesen Leib einzieht, um die Liebe in diesem Leibe zu entwickeln, um zu dem Geiste hin die Liebe zu entwickeln. Dann weiß er, daß im Erdenleibe Brüderlichkeit sein muß, sonst kann in der unbrüderlichen Menschheit der Einzelne nicht ein ganzer, ein voller Mensch sein.

So führt uns die Fortsetzung des alten Weges zur Mechanisierung des Geistes, zur Vegetarisierung der Seele, zur Animalisierung des Leibes. So führt uns der Weg, der durch Geisteswissenschaft gezeigt werden soll, zu den wahren sozialen Tugenden, aber zu den sozialen Tugenden, die vom Geiste durchleuchtet, von der Seele durchwärmt sind; die von dem veredelten Menschenleibe ausgeführt werden.

So führt uns die geistige Erkenntnis des übersinnlichen Menschen dazu, auf der Erde in einem schönen Neubau der Zukunft zu begründen: Freiheit im Geistesleben. Der durchgeistigte Mensch wird ein freier Mensch sein. Gleichheit im geistdurchwärmten Seelenleben: Die Seele, die den Geist in sich aufnimmt, wird die andere Seele, die ihr im sozialen Leben entgegentritt, als ihr gleich, wahrhaftig wie in einem großen Geheimnis erfassen und behandeln. Und der veredelte Leib, der durch den Geist und die Seele veredelte Leib, er wird zum Ausüber wahrster, echtester Menschenliebe, der wahren Brüderlichkeit. So wird die soziale Menschenordnung in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch die richtige Erfassung von Leib, Seele und Geist erfolgen können.