Demokratie als neuzeitlicher Impuls

Quelle: GA 334, S. 138-142, 1. Ausgabe 1983, 19.03.1920, Zürich

Zusammengefaßt ist im Grunde genommen erst in den letzten drei bis vier Jahrhunderten das Leben dieser drei Gebiete. Sie brauchen sich nur zu erinnern - um eines anzuführen -, wie mit der Entwickelung der mittelalterlichen Verhältnisse in die neuzeitlichen herauf Schulen, bis in die Universitäten herauf, nicht Gründungen des Staates waren, sondern Gründungen waren von Kirchengemeinschaften oder anderen Gemeinschaften, die ihre Entwickelung neben den Ansätzen zum staatlichen Leben gehabt haben. Erst Im Laufe der drei bis vier letzten Jahrhunderte entstand die Anschauung, daß der Einheitsstaat seine Macht auch ausdehnen müsse zum Beispiel über Schulen, über Universitäten und dergleichen. Ebenso kann man sagen: auch das Wirtschaftsleben war getragen von unter wirtschaftlichen Impulsen gefaßten Korporationen, es war geführt von denjenigen Persönlichkeiten, die Vereinigungen gebildet haben nur aus wirtschaftlichen Antrieben heraus. Und erst wiederum im Laufe der drei bis vier letzten Jahrhunderte hat der Staat auch über das Wirtschaftsleben seine Macht ausgedehnt, so daß diese Zusammenfassung von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben eigentlich etwas ist, was erst in der neueren Zeit in seiner vollen Bedeutung heraufgezogen ist, wenn es auch seine Ansätze selbstverständlich, weil ja alles im geschichtlichen Leben der Menschen sich voraus ankündigt, schon früher da und dort gezeigt hat.

Demgegenüber möchte die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus jedes dieser drei Gebiete auf seinen selbständigen Boden stellen. Sie geht davon aus, daß ein gewisser Impuls mit einer inneren Notwendigkeit im Laufe der neuesten Geschichte, ich möchte wieder sagen, aus den Tiefen des menschlichen Fühlens und Empfindens heraufgezogen ist an die Oberfläche des geschichtlichen Werdens. Und das ist - man kann es, ich glaube, selbst wenn man noch so befangen ist, nicht leugnen -, daß im öffentlichen Leben trotz allem, was heute hervortritt, der mächtigste Impuls der ist nach der Demokratie. Dieser Impuls tritt wie etwas Elementares auf in der Menschheitsentwickelung. Man kann sagen: Wie in dem einzelnen Menschen einer bestimmten Epoche seines Lebens, sagen wir, die Geschlechtsreife auftritt, so tritt in der Entwickelung der europäischen Menschheit, sich vorbereitend seit dem 15. Jahrhundert, die Tendenz nach der Demokratie hervor.

Versucht man in den verschiedenen Formen, die für das demokratische Zusammenleben der Menschen gefordert werden, das Wesentlichste herauszufinden, so ist es zum Schlusse doch dieses - wenigstens ergibt sich dies als das einzig Vernunftmögliche -, daß die Angelegenheiten des Staates besorgt werden sollen aus dem Zusammenarbeiten und Zusammenurteilen aller mündig gewordenen Menschen, die in diesem Zusammenarbeiten, in diesem Zusammenurteilen als Gleiche angesehen werden, so daß jeder als ein Gleicher dem anderen gegenübersteht, gleichberechtigt in seinem Urteil, gleichberechtigt in dem Beitrag, den er zum sozialen Leben zu leisten hat, auch gleich in allem, was er von diesem sozialen Leben zu fordern hat. Dies ist zunächst die abstrakte demokratische Forderung. Sie wird konkret dadurch, daß wichtigste Empfindungen und Gefühlsimpulse mit ihr im neueren geschichtlichen Leben der Menschheit sich verbinden. Man kann auch sagen, daß diese demokratische Tendenz in die Staatsgebilde Europas eingezogen ist in der verschiedensten Weise kämpfend gegen dasjenige, was aus feudalen, aus anderen Gesellschaftsordnungen heraufgezogen ist. Es hat sich der demokratische Zug mehr oder weniger hineingeschoben in die altgebliebenen Formen. Aber der Drang dazu prägte sich ganz deutlich in der neueren Geschichte aus. Indem so die Staaten nicht umhin konnten, zu ihren früheren Kräften die demokratische Kraft irgendwie hinzuzufügen, wenn es auch manche, ich möchte sagen, nur schandenhalber getan haben, so dehnten sie dieses demokratische Prinzip auch über die Gebiete des Geisteslebens und des Wirtschaftslebens aus.

Nun aber kam dadurch herauf in der Entwickelung der neueren Menschheit ein bedeutsamer Widerspruch im ganzen öffentlichen Leben. Gerade derjenige, der es ernst und ehrlich meint mit der Verwirklichung des demokratischen Triebes, der muß eigentlich diesen inneren Widerspruch im modernen öffentlichen Leben bemerken. Es ist der Widerspruch, den ich in der folgenden Weise charakterisieren möchte: Das Geistesleben kann sich bis in seinen wichtigsten Teil, in das Schulleben hinein, nicht aus etwas anderem herausentwickeln als aus den Fähigkeiten der Menschen, die durchaus individuell voneinander verschieden sind. In dem Augenblick, wo man das nivellierende Demokratische ausdehnen will über dasjenige, was einzeln in individueller Gestalt erwachsen will zum Blühen und Gedeihen des Geisteslebens, in dem Augenblick muß immer das Geistesleben in irgendeiner Weise leiden, muß immer in irgendeiner Weise sich gedrückt fühlen. Deshalb glaube ich: derjenige gerade, der es ehrlich meint mit der demokratischen Tendenz, so daß er sagt, überall da, wo nur im öffentlichen Leben Demokratie sein kann, muß sie sein, der muß sagen: Dann muß man von all dem, worüber alle mündig gewordenen Menschen entscheiden als Gleiche, dasjenige ausscheiden, worüber wahrhaftig nicht alle mündig gewordenen Menschen als Gleiche ein sachgemäßes Urteil haben können. Indem dieser Gedanke bis in seine äußersten Konsequenzen verfolgt wird, indem man sich auch prüft, ob man wirklich alles berücksichtigt, was dabei in Betracht kommt, kommt man doch dazu, sich zu sagen: gerade wenn man Demokratisierung des modernen Staatslebens anstrebt, muß man herausschälen das ganze Geistesleben aus diesem Staatsleben, aus dem politisch-juristischen Leben.

[...] Beim Wirtschaftsleben liegen im Grunde die Dinge ähnlich. Während das Geistesleben es zu tun hat mit demjenigen, was als Fähigkeit im Menschen veranlagt ist, was in freier Weise entfaltet werden muß, was gewissermaßen der Mensch durch seine Geburt hier ins physische Dasein hereinträgt, hat es das Wirtschaftsleben zu tun mit dem, was auf der Erfahrung aufgebaut sein muß, was aufgebaut sein muß aus dem, wohinein man wächst, indem man in einem bestimmten Wirtschaftsgebiet mit seiner Berufstätigkeit aufgeht. Daher kann im Wirtschaftsleben wiederum das nicht maßgebend sein, was aus dem demokratischen Leben stammt, sondern nur dasjenige, was aus fachlichen und sachlichen Untergründen heraus ist.

[...] Ich weiß sehr gut, daß viele Menschen einen wahren Schrecken bekommen, wenn man ihnen von dieser Dreigliederung des sozialen Organismus, die sich als notwendig erweisen soll für die Zukunft, spricht. Aber das geschieht nur aus dem Grunde, weil man gewöhnlich glaubt, nun soll der Staat auseinandergesplittert werden in drei Teile: Wie sollen diese drei Teile dann zusammenwirken? - In Wahrheit wird gerade dadurch, daß diese drei Teile zu ihrer vollen Entfaltung gebracht werden auf die Art, wie ich es allerdings nur skizzieren konnte, die Einheit aufrecht erhalten, denn der Mensch als Einheit steht ja in allen drei Gliedern darinnen. Er wirkt mit in irgendeiner Weise an dem geistigen Organismus. Wenn er Kinder hat, so ist er interessiert an dem geistigen Organismus durch die Schule. Mit seinen geistigen Interessen ist er irgendwie verstrickt in den geistigen Organismus. Er trägt das, was er aus dem geistigen Organismus hat, da er mitwirkend ist als mündig gewordener Mensch im demokratischen Staatswesen, in seinen Taten, in seinem Leben auch in dieses demokratische Staatswesen hinein. Das aber, was öffentliches Recht, was öffentliche Sicherheit, öffentliche Wohlfahrt und so weiter ist, was angeht jeden mündig gewordenen Menschen, das wird auf dem Boden des einheitlichen Staatswesens entwickelt. Und mit den Verfassungen der Seele, die man da entwickelt im unmittelbaren Wechselverhältnis von Mensch zu Mensch, tritt man wieder ein im Wirtschaftsleben in sein spezielles Gebiet, in dem man verkettet ist durch verschiedene Assoziationen, in denen man tätig ist. Man trägt das, was man aus dem Geistesleben, aus dem Staatsleben hat, in dieses Wirtschaftsleben hinein, befruchtet es durch das, hält es aufrecht, bringt Recht und bringt geistige Befruchtung hinein in dieses Wirtschaftsleben. Der Mensch selbst bildet die Einheit zwischen dem, was nicht Gliederung in Stände ist.

Man hat mir vielfach eingewendet, da würde man wiederum zurückgehen auf dasjenige, was im alten Griechenland Nährstand, Wehrstand, Lehrstand umfaßt hat. Ein solcher Einwand bezeugt nur, wie sehr oberflächlich man heute oftmals solche Dinge betrachtet. Denn nicht um eine Gliederung der Menschen selber, nicht um eine Einteilung in Stände, sondern darum handelt es sich, daß das äußere Leben in seinen Einrichtungen dreigegliedert wird. Gerade dadurch, daß der Mensch sich drinnen befindet in einem solchen dreigegliederten sozialen Organismus, ist es möglich, daß alle Stände aufhören, daß wirkliche Demokratie eintritt. Darauf weist, ich möchte sagen, für jeden Unbefangenen mit einer inneren Notwendigkeit gerade die Entwickelung der modernen Staaten.

Sehen wir denn nicht, daß sie auf der einen Seite dem notwendigen Impuls nach Demokratie Rechnung tragen müssen, aber dann die Demokratie wiederum verderben lassen dadurch, daß selbstverständlich aus dem Geistesleben heraus der Fähige im demokratischen Staatsleben immer mehr Gewicht haben wird als der weniger Fähige? In den Dingen, wo es auf die Fähigkeit ankommt, ist das ganz gerechtfertigt, zum Beispiel im geistigen Gebiet. Dagegen muß das eigentlich demokratische Staatswesen frei und rein gehalten werden von solchen übermächtigen Einflüssen besonders befähigter Persönlichkeiten, denn es muß eben ein Gebiet geben nach der Grundforderung der modernen Menschheit, in dem sich nur geltend macht dasjenige, was allen Menschen, die mündig geworden sind, in gleicher Weise zukommt.

Das wirtschaftliche Gebiet zeigt im besonderen Maße, wie unmöglich es ist, das einwirken zu lassen, was der Mensch durch seine besondere Artung sich als Fähigkeit im Wirtschaftsleben erwirbt. Er erwirbt sich dadurch vielleicht eine wirtschaftliche Übermacht. Sie darf aber nicht zu einer sozialen Übermacht werden. Sie wird es nur dadurch nicht, daß dasjenige, was wirtschaftliche Macht ist, was innerhalb des Wirtschaftslebens verbleibt, unmöglich zu einer politischen, zu einer rechtlichen Übermacht werden kann. Alles dasjenige, was heute gerade zur Karikatur der sogenannten sozialen Frage geführt hat, das würde überwunden werden, wenn man sich einlassen wollte darauf, daß das Wirtschaftsleben auf seinen eigenen Boden gestellt würde und das demokratische Staatsleben gerade dadurch ehrlich und aufrichtig wiederum auf seinen eigenen Boden sich stellen könnte.

[...] Wie für den einzelnen Menschen nicht bloß Ursache und Wirkung dastehen, sondern wie aus den Tiefen seines Wesens die Entwickelungskräfte aufschießen, so ist es der Fall mit der ganzen Menschheit. Und studiert man Geschichte wirklich sachgemäß, dann findet man - um nur eines anzuführen - so um die Mitte des 14., 15. Jahrhunderts solch einen Einschnitt in der Entwickelung der ganzen zivilisierten neueren Menschheit. Da findet man gerade jenen Übergang, der aus elementarer Notwendigkeit der Entwickelung heraus die neuere Menschheit mit ihren Forderungen eigentlich erst hat entstehen lassen. Oh, es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was der Mensch als das Richtige für sich ansieht zu einem menschenwürdigen Dasein seit diesem 15. Jahrhundert, und dem, was der Mensch des Mittelalters dafür angesehen hat.

Seelengeschichte - wir haben sie eigentlich gar nicht getrieben wie sie aus der Geisteswissenschaft hervorgehen kann, deren Repräsentant unser Bau in Dornach ist, die führt einen dazu, dasjenige, was ich das demokratische Prinzip genannt habe, als etwas in der neueren Menschheit so Auftretendes anzusehen, wie man die Eigenschaften ansieht, die auftreten im einzelnen Menschen, sagen wir im Alter der Geschlechtsreife. Durch dieses Hinblicken auf die Tatsache, daß die neuere Menschheit eben eine ganz andere ist, und daß auch bei der ganzen Menschheit wie beim einzelnen Menschen Rechnung getragen werden muß seinen Entwickelungsprinzipien, dadurch ergibt sich die Stärke der Überzeugung, daß Demokratie etwas ist, wogegen man sich nicht stemmen kann, daß man aber, weil Demokratie etwas ist, was aus dem elementarsten Menschenwesen heraufsprießt, gerade deshalb den sozialen Organismus dreigliedern muß, damit dasjenige, was demokratisch geordnet werden kann, eben in der Entwickelung der Menschheit zu seinem Recht kommt. Das ist das eine, dieses geisteswissenschaftliche Hinblicken auf die Entwickelungsimpulse der Menschheit.