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Öffentliches Recht muß anders als Naturrecht im Fluß gehalten werden
Quelle: GA 337b, S. 139-146, 1. Ausgabe 1999, 06.04.1920, Dornach
Roman Boos: Wie kann in der Zukunft das Prinzip der Festlegung von rechtlichen Normen durch Kodifikation sich ausnehmen? Wie kann also von den parlamentarischen Zentren aus die Rechtswirkung ausgeübt werden, ohne daß ein Lähmen oder Absterben des Kodifikationsprinzips sich ergibt, wie es heute der Fall ist?
Rudolf Steiner: Die Verlebendigung des Rechtslebens, von der Herr Dr. Boos gesprochen hat, die wird, wie mir scheint, auf eine ganz selbstverständliche Weise im dreigegliederten sozialen Organismus allmählich herbeigeführt werden. Wie hat man sich denn im konkreten diese Gestaltung des dreigliedrigen sozialen Organismus zu denken? - Wirklich in einer ähnlichen Weise - es soll damit keine bloße Analogie ausgesprochen werden -, wirklich in einer ähnlichen Weise, wie man sich die organische Dreigliederung im natürlichen menschlichen Organismus selbst zu denken hat. [...]
Ein absolut kodifiziertes Recht würde sich als etwas ausnehmen, was der Entwicklung widerspricht. Wenn man ein starr kodifiziertes Recht hätte, wäre es im Grunde etwa ebenso, wie wenn man ein siebenjähriges Kind hätte, dessen organische Lebenskräfte Sie jetzt festsetzen würden, und, wenn das Kind vierzig Jahre alt geworden ist, verlangen würden, daß es noch danach lebte. So verhält es sich auch mit dem sozialen Organismus, der ja durchaus etwas Lebendiges ist und im Jahre 1940 nicht der gleiche sein wird wie im Jahre 1920. Zum Beispiel bei Grund und Boden handelt es sich nicht darum, solches kodifiziertes Recht festzustellen, sondern es handelt sich um ein lebendiges Wechselverhältnis zwischen dem Boden und den Persönlichkeiten, die in den beiden anderen charakterisierten Gebieten - dem geistigen und dem wirtschaftlichen - drinnenstehen und so wirken, daß alles immerfort in Fluß gehalten werden kann, um den wahren demokratischen Boden, auf dem alle Menschen ihre gegenwärtigen Beziehungen leben, auch abändern und metamorphosieren zu können. Das ist dasjenige, was gesagt werden muß in bezug auf die Festlegung der öffentlichen Rechtsverhältnisse.
Strafrechtsverhältnisse ergeben sich als das Sekundäre erst dann, wenn von einzelnen Persönlichkeiten in unsozialer Weise gegen dasjenige gehandelt wird, was festgelegt ist als das, was die mündig gewordenen Menschen als richtige Beziehung zueinander betrachten. Da allerdings ergibt sich für den dreigliedrigen sozialen Organismus bei einem praktischen Durchdenken des Strafrechtes, daß man nötig haben wird, auf die, ich möchte sagen Berechtigung der Strafe auch in praktisch-realer Weise ein wenig hinzuschauen. Ich muß sagen, daß die vielgepriesene Rechtswissenschaft es eigentlich nicht einmal auf diesem Gebiete zu einem klaren Rechtsbegriffe gebracht hat. Es gibt eine jetzt allerdings schon ältere Schrift, «Das Recht in der Strafe», von Ludwig Laistner. Darinnen wird in der Einleitung eine Geschichte aller Theorien gegeben über das Recht zur Strafe: Abschreckungsimpulse, Erziehungsimpulse und alle anderen Impulse. Laistner zeigt vor allem, daß diese Theorien eigentlich recht brüchig sind, und er kommt dann zu seiner eigenen Theorie, welche darin besteht, daß man ein Recht zur Strafe eigentlich nur daher ableiten kann, daß der Verbrecher sich durch seinen eigenen freien Willen in die Sphäre des anderen Menschen hineinbegeben hat. Nehmen wir also an, der eine Mensch hat - und das ist schon auch wiederum hypothetisch - sich irgendeinen Lebenskreis geschaffen; der andere tritt in diesen Lebenskreis hinein, indem er zum Beispiel in sein Haus oder oder in seine Gedanken eintritt und ihn beraubt. - Nun sagt Ludwig Laistner: Der hat sich selber in meinen Lebenskreis hineinbegeben, und dadurch habe ich eine Gewalt über ihn; geradeso, wie ich über mein Geld oder über meine eigenen Gedanken Gewalt habe, so habe ich nun auch über den Verbrecher Gewalt, weil er sich in meine Sphäre begeben hat. Diese Gewalt über ihn hat mir der Verbrecher selber zugestanden dadurch, daß er sich in meine Sphäre begeben hat. Ich kann diese Gewalt nun so realisieren, indem ich ihn bestrafe. Die Strafe ist nur das Äquivalent dafür, daß er sich in meine Kreise hineinbegeben hat. Das ist das einzige, was gefunden werden könnte im juristischen Denken über die Berechtigung, einen Verbrecher zu strafen. Ob das nun direkt geschieht oder in übertragenem Sinne, indem man es durch den Staat ausführen läßt, das sind dann wiederum sekundäre Fragen.
Aber diese Dinge, warum sind sie denn eigentlich unklar? Warum liegt da etwas vor, das fortwährend verhindert, wirklich scharf umrissene Begriffe zu haben? Weil diese Begriffe heute aus sozialen Verhältnissen heraus genommen sind, die an sich schon alle von lauter Lebensunklarheiten erfüllt sind. Es setzt ja tatsächlich das Recht voraus, daß zuerst ein Organismus vorhanden ist und durch den Organismus lebendige Bewegung und dadurch eine Zirkulation vorhanden ist - geradeso, wie es das Herz voraussetzt, daß zunächst andere Organe da sind, damit es funktionieren kann. Die Rechtsinstitution ist gewissermaßen das Herz des sozialen Organismus und setzt voraus, daß anderes sich entfaltet; sie setzt voraus, daß andere Kräfte schon da sind. Und wenn man in diesen anderen Verhältnissen Unklarheiten darin hat, dann ist es auch ganz selbstverständlich, daß kein scharf gefaßtes Rechtssystem dasein kann. Aber ein scharf gefaßtes Rechtssystem wird gerade dadurch zustandekommen, daß man in diesem dreigliedrigen sozialen Organismus sich wirklich entfalten läßt die den anderen Gliedern des sozialen Organismus ureigenen Kräfte. Dadurch werden erst die Unterlagen geschaffen, die eine wirkliche Rechtsbildung ergeben können.
Wir haben ja vor allen Dingen heute nicht einmal klar die Frage aufgeworfen: Welches ist denn der eigentliche Inhalt des Rechtssystems? Ja, sehen Sie, in einem gewissen Sinne muß ja eine Rechtswissenschaft gar sehr der Mathematik ähnlich sein, einer lebendigen Mathematik ähnlich sein. Aber was würden wir mit unserer ganzen Mathematik machen, wenn wir diese nicht im Leben realisieren könnten? Wir müssen sie anwenden können. Wenn die Mathematik nicht eine lebendige wäre und wir sie in der Wirklichkeit nicht anwenden könnten, so würde unsere ganze Mathematik keine Wissenschaft sein. Die Mathematik als solche ist eben zunächst eine formale Wissenschaft. In einem gewissen Sinne würde auch eine sachgemäß ausgearbeitete Rechtswissenschaft zunächst eine formale Wissenschaft sein. Aber diese formale Wissenschaft muß so sein, daß das Objekt ihrer Anwendung in der Wirklichkeit angetroffen wird. Und dieses Objekt ihrer Anwendung in der Wirklichkeit sind die Beziehungen der mündig gewordenen, nebeneinander lebenden Menschen, die nicht nur hier den Ausgleich ihrer Lebenskreise suchen, sondern auch noch im geistigen und im wirtschaftlichen Gliede des sozialen Organismus drinnenstehen.
So wird wirklich diese Dreigliederung des sozialen Organismus erst die Möglichkeit ergeben, daß öffentlich gedacht werden kann, und ein nicht öffentlich gedachtes Recht ist ja kein natürlich gesetztes Recht. Dadurch würde sich die Möglichkeit ergeben, daß sich solche Rechtsbegriffe öffentlich bilden, die dann beweglich sind, wie es heute zu Recht gefordert worden ist.