Die einheitliche Goldwährung hat nicht zum Freihandel geführt

Quelle: GA 334, S. 227-228, 1. Ausgabe 1983, 04.05.1920, Basel

Es haben manche Leute, die heute aus mehr oder weniger Ideologie, aus Utopismus heraus das soziale Leben reformieren wollen, ja auch schon bemerkt, worauf ich jetzt hinweisen will; aber sie haben es nicht so bemerkt, daß sie haben hinschauen können auf das Prinzipielle, auf das es ankommt.

Man kann, wenn man verschiedene Bewegungen des 19. Jahrhunderts verfolgt, die seit der Mitte des Jahrhunderts darauf ausgingen, an die Stelle der Gold- und Silberwährung, der Doppelwährung, die Goldwährung als einheitliche Währung zu setzen, man kann bemerken, daß diese Anhänger des, sagen wir, Monometallismus, unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkte die Sache anfaßten. Sie sagten - und man kann das aus unzähligen Parlamentsberichten der europäischen Volksvertretungen konstatieren -, es müsse sich unter dem Einflusse der einheitlichen Goldwährung über die ganze zivilisierte Welt hin der Freihandel entwickeln, der Freihandel als der eigentliche Träger des ungehinderten Wirtschaftslebens, der nicht beeinträchtigt werde durch allerlei Zollschranken, Schutzzölle und so weiter. In allen möglichen Tonarten ist dieses von der Förderung des Freihandels durch den Monometallismus, durch die Goldwährung, besprochen worden. Aber was ist eingetreten unter dem Einfluß der Goldwährung? Gerade dort, wo diese Goldwährung in radikaler Weise eingedrungen ist, ist überall das Gegenteil von dem gekommen, was die gescheiten ökonomischen Praktiker vorausgesagt haben! Überall hat sich die Notwendigkeit ergeben, zu Schutzzöllen zu greifen, einschließlich der amerikanischen Staaten. Das heißt, diejenigen, die über die Goldwährung gesprochen haben aus ihrer praktischen Lebenskenntnis heraus oder aus nationalökonomischer Wissenschaft heraus, sie haben sich fast alle über dasjenige geirrt, was in der Wirklichkeit wurzelte.

Nun kann man sagen: Sind denn die Menschen alle dumm gewesen? Haben denn die Menschen wirklich keine Logik gehabt? Haben sie so wenig verstanden von dem Leben, daß das Gegenteil von dem eingetreten ist, was sie vorausgesagt haben? Ich bin nicht der Ansicht, daß die Leute etwa lauter Dummköpfe gewesen wären, die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich für den Freihandel auseinandergesetzt haben, ich finde sogar, daß das sehr gescheite Leute gewesen sind, daß sie mit scharfer Logik gesprochen haben und dennoch nichts getroffen haben von der Wirklichkeit!

Dasjenige, was nicht eingesehen wird, wenn man heute eine solche Sache bespricht, ist eben, daß man im Sinne derjenigen Denkungsweise, die sich im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte in der zivilisierten Welt herausgebildet hat, sehr gescheit sein kann und dennoch mit seinem Urteil wirklichkeitsfremd sein kann, daß man sich für einen großen Praktiker halten und die unpraktischsten Ratschläge geben kann, die nur irgend möglich sind. Und im Grunde genommen waren es diese unpraktischen Ratschläge, die im Laufe der letzten Jahrzehnte die Menschheit in ihre furchtbare Katastrophe hineingetrieben haben. Man hat insbesondere in Deutschland sehen können, wie die wirkliche Beherrschung der Zustände allmählich übergegangen ist in das Urteil der großen oder kleinen industriellen und kommerziellen Führer des Staates. Andere Leute sind mehr oder weniger abhängig geworden von den industriellen und kommerziellen Führern. Viel größer war der Einfluß der kommerziellen und industriellen Führer, als man eigentlich denken möchte. Erst während des Krieges hat sich gezeigt, wie eigentlich alles auf die Urteile von diesen Seiten gehört hat, und wie verhängnisvoll die Urteile von diesen Seiten aus geworden sind.

Und daran konnte man eben sehen, daß sich das ganze öffentliche Leben gewissermaßen summiert aus dem Urteile solcher angeblichen Praktiker heraus. Das aber hat die Summe gegeben, die als die verhängnisvolle Katastrophe über die zivilisierte Menschheit in den letzten fünf bis sechs Jahren hereingebrochen ist und die noch lange nicht abgeschlossen ist.

Was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft überhaupt veranlaßt aufzutreten, das ist die Bemerkung dieser Tatsache. Das war der Grund, warum gerade von der Seite her, von der diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft geltend gemacht wird, immer wieder und wiederum auf die praktische Auslebung dieser Geisteswissenschaft hingewiesen werden muß. Ich weiß, wie es einzelne Menschen, selbst die kleine Gruppe hier in Basel überrascht hat, als ich vor vielen Jahren darauf hingewiesen habe, daß wir ja mit einer sozusagen halbpraktischen Tätigkeit begonnen haben, nämlich Mysterienspiele aufzuführen.

Das haben schon manche «Mystiker» für etwas gehalten, das man eigentlich nicht tun sollte; denn da verschwägert man sich schon in einer gewissen Richtung mit praktischen Maßnahmen, die man nötig hat. Aber ich habe dazumal gesagt: Mein Ideal wäre es, nicht etwa bloß Spiele aufzuführen, sondern eine Banktätigkeit zu entfalten, um gerade das Praktischste des Lebens mit derjenigen Denkweise zu durchdringen, welche notwendig ist, wenn man fruchtbare Geisteswissenschaft treiben will. Indem ich immer davon überzeugt sein mußte, aus sachlichen Untergründen heraus, daß man nicht durch ein ungesundes, kurzsinniges Denken zu den Ergebnissen kommt, zu denen Geisteswissenschaft kommen will, sondern gerade durch ein gesundes, Umsichtiges und geistesgegenwärtiges Denken, und daß man lernen kann an Geisteswissenschaft das Denken so zu Schulen, wie man es unter der materialistischen Betrachtungsweise der letzten Jahrhunderte eben nicht schulen konnte; daß man gerade praktisch werden kann für das Leben durch die gesunde Denkweise, die notwendig ist, wenn man Geisteswissenschaft in dem Sinne, wie es hier gemeint ist, treibe. Ich möchte sagen: Es fällt gewissermaßen als ein Nebenprodukt ab die gesunde Behandlung des Lebens. Man ist gedrängt, wenn man nicht, blöde, nebulose, sondern wahre Einsicht in das Weltwesen durch Geisteswissenschaft erwerben will, nicht ein schwafelndes, nebuloses Denken zu entfalten, sondern ein Denken von viel größerer Klarheit, als man es heute gerade in der Wissenschaft gewöhnt ist. Und entfaltet man dieses Denken, gibt man sich Mühe, das zu verstehen, was Geisteswissenschaft Verstanden wissen will, dann schult man das Denken nebenbei so, daß man auch in praktischen Gebieten des Lebens richtig und sachgemäß denken kann und nicht mehr voraussagt, der Monometallismus werde den Freihandel entwickeln, wenn die Verhältnisse so liegen, daß unter der Goldwährung gerade die Schutzzölle kommen!