Militaristische Arbeitspflicht statt Liebe zum Mitmenschen

Quelle: GA 335, S. 139-141, 1. Ausgabe 2005, 08.06.1920, Stuttgart

Nun, auch jener Charles Eliot, von dem ich gesprochen habe, gibt ungefähr an, was er sich als eine Art Zukunftsreligion denkt, wenn die Menschen nicht mehr glauben werden an einen außerweltlichen Gott oder wenn sie in weiten Kreisen nicht mehr an Dämonologie glauben werden. Er sagt: Es wird herrschen der Hinblick auf einen einheitlichen Gott, der den Dingen innerlich ist, der auch der Menschenseele innerlich ist und der in alledem wirkt, was Naturgesetze sind. - Aber man sieht aus dieser Rede, und es ist ja darin auch deutlich ausgesprochen, daß sich auch für einen solchen gutmeinenden Menschen, wie es Charles Eliot ist, zusammenkoppelt dieser Gott mit dem, was er weiß über den in der Welt sich ausbreitenden Stoff, über die ewig sich verwandelnde, aber unzerstörbare Kraft. Im Grunde genommen ist ihm die Einheit Gottes nichts anderes als die Einheit des Stoffes und der Kraft. Und aus solchen theoretischen Bekenntnissen heraus predigt er der Welt dann das, was dem Menschen als praktische Lebensgrundlage zur Unterlage dienen soll. Da sagt er: Ewig leuchtend sein wird der Satz «Diene deinem Mitmenschen». Diene deinem Mitmenschen - das wiederholt sich immer wieder und wiederum in jener Rede. Aber bei einem solchen Satz, einer solchen Forderung handelt es sich wahrlich nicht allein darum, daß die Sachen ausgesprochen werden, sondern da handelt es sich darum, ob dasjenige, was da gefordert wird von den Menschen, von diesen Menschen auch erfüllt werden kann - erfüllt werden dadurch, daß sich aus den Tiefen ihrer Seele heraus Kräfte loslösen, die zuletzt ihr Ergebnis finden in sozialem Menschendienst, in sozialem Wirken nach dem Satz: «Diene deinem Mitmenschen». Mit anderen Worten, fragen muß man: Ist eine Weltanschauung in der Lage, eine Grundlage zu bilden für wahre Menschenliebe? Ist eine Weltanschauung in der Lage, die Wurzel jener Pflanze zu sein, welche, wenn sie herauswächst aus dem Boden, als Menschenliebe blüht und fruchtet?

Diese Frage läßt sich nicht einseitig logisch und theoretisch beantworten. Diese Frage läßt sich allein auf Grundlage dessen, was geschichtlich geschieht, beantworten. Und hätte Eliot nur die Erfahrung abgewartet, die sich jetzt durch die Gestaltung des europäischen Ostens und in Asien ergibt und ergeben wird, dann hätte er seine Bedenken bekommen müssen. Denn das geschichtliche Ergebnis ist, daß die sozialistische Lehre, die nur bauen will auf denselben naturwissenschaftlichen Voraussetzungen, auf denen Eliot die Welt der Zukunft, das Leben überhaupt aufgebaut wissen will, daß diese sozialistische Richtung nicht in der Lage ist, das soziale Leben auf die freie, aus dem menschlichen Inneren hervorquellende, in der Welt fruchtende Liebe zu begründen. Denn nicht tönt uns entgegen aus dieser sozialen Lehre und sozialen Tyrannei dasjenige, was weckend wäre für Menschenliebe. Nicht tönt uns entgegen die Erfüllung des Spruches: Diene deinen Mitmenschen, weil du sie liebst -, sondern es tönt uns entgegen das trockene, leere, den Menschen ausödende Wort von der Pflicht zur Arbeit, von dem wie mit militärischem Drill zur Arbeit Getriebenwerden der Menschen.

Und ich möchte sagen: Hört man auf der einen Seite Charles Eliot 1909, wo die Erfahrung der Gegenwart noch nicht vorlag, von dem Lehrstuhl der Harvard-Universität herunter seine paradigmatische Rede halten, so tönt einem wie ein Echo aus einer späteren Zeit entgegen jene Rede, die vor kurzem der russische sozialistische Kriegsminister gehalten hat, der da sagte: Diejenigen Menschen, die es ehrlich meinen mit der sozialen Ordnung, die werden nicht verkennen, was wir diesem Kriege verdanken. Er hat uns unsere Söhne zurückgeschickt als Soldaten. Sie sind tüchtige Soldaten geworden. Sie haben gelernt zu gehorchen und sich der Autorität zu fügen. Nicht wollen wir verkennen, was wir diesem Kriege verdanken dadurch, daß er uns Offiziere ausgebildet hat, die befehlen können, die den Menschen durch Zwang an die entsprechende Stelle zu rücken verstehen. Und wir wollen nicht der führenden Männer des Krieges vergessen, die in der Lage sind zu organisieren, so daß sich der Autorität dieses Organisierens jeder fügt. - Wie ein Echo tönt diese Rede von dem Übersetzen des Militarismus in die soziale Lebensgestaltung entgegen demjenigen, was - nur als Weltanschauung, weil in der Umgebung niemand daran dachte, es zu verwirklichen - aus der Rede Eliots uns entgegentönt.