Idealismus Ideal, Demokratismus Natur Mitteleuropas

Quelle: GA 199, S. 132-135, 1. Ausgabe 1967, 22.08.1920, Dornach

Und gehen wir von diesem Asien zu Mitteleuropa, da finden wir, daß sich dieser mitteleuropäische Mensch da, wo er wirklich ein solcher ist - ich habe ihn gestern dadurch charakterisiert, daß ich Sie hinwies auf Fichtes Satz: Die äußere Sinneswelt ist nur das versinnlichte Material meiner Pflicht, sie hat an sich keine Existenz, sie ist dazu da, damit ich etwas habe, womit ich meine Pflicht ausführen kann. - Der Mensch, der aus diesem Untergrunde in den mittleren Gegenden der Erde lebte und lebt, der lebt nun, geradeso wie der Inder im Stoffwechsel lebt, im rhythmischen System. Dasjenige, worinnen man lebt, bleibt unbewußt. Der Inder strebte noch als zu einem Ideal zum rhythmischen System hinauf, und ihm wurde es bewußt. Der Mitteleuropäer lebt in diesem rhythmischen System, ihm wird es nicht bewußt, und er gestaltet aus dadurch, daß er in diesem rhythmischen System lebt, alles dasjenige, was das rechtliche, das demokratische, das staatliche Element in der sozialen Organisation ist. Er gestaltet es einseitig aus, aber er gestaltet es in dem Sinne aus, wie ich das gestern angedeutet habe, denn er ist besonders dazu veranlagt, dasjenige auszugestalten, was im Wechselspiel geschieht zwischen Mensch und Mensch, im Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Umgebung. Aber er hat wiederum ein Ideal. Er hat das Ideal, sich nun zum nächsten zu erheben, zu dem Nerven-Sinnesmenschen. So wie der Inder die Jogaphilosophie, das kunstvolle Atmen, das zur Erkenntnis auf besondere Art führt, als sein Ideal betrachtete, so der mitteleuropäische Mensch das Sich-hinauf-Schwingen zu Vorstellungen, die aus dem Nerven-Sinnesmenschen kommen, zu Vorstellungen, die ideell sind, zu Vorstellungen, die errungen werden durch eine Erhebung, so wie die Jogaphilosophie errungen wird von dem Inder durch eine Erhebung.

Daher ist es auch notwendig, daß man sich bewußt werde, will man Leute, die aus solchen Untergründen heraus geschaffen haben, wie Fichte, Hegel, Schelling, wie Goethe, will man sie wirklich verstehen, so muß man sie so verstehen, wie der Inder seine Jogaeingeweihten verstand. Aber diese besondere Seelenveranlagung, die dämpft die eigentliche Geistigkeit.

Man erlangt noch ein deutliches Bewußtsein davon, wie es zum Beispiel Hegel hat, daß die Ideen Wirklichkeiten sind. Dieses deutliche Bewußtsein hatte Hegel, Fichte, hatte Goethe, daß die Ideen Wirklichkeiten, Realitäten sind. Man gelangt eben auch dazu, so etwas zu sagen wie Fichte: Die äußere Sinneswelt ist für sich keine Existenz, sondern nur das versinnlichte Material meiner Pflicht. - Aber man kommt nicht zu jener Erfüllung der Ideen, welche der Orientale hatte. Man kommt dazu, zu sagen, wie Hegel sagte: Es beginnt die Geschichte, es lebt die Geschichte. Das ist die lebendige Bewegung der Ideen. - Aber man beschränkt sich allein auf diese äußere Wirklichkeit. Diese äußere Wirklichkeit sieht man geistig, ideell an. Aber man kann nicht, gerade wenn man Hegel ist, weder von Unsterblichkeit noch von Ungeburtlichkeit reden. Die Hegelsche Philosophie beginnt mit der Logik, das heißt mit demjenigen, was der Mensch endlich denkt, dehnt sich aus über eine gewisse Naturphilosophie, hat eine Seelenlehre, die aber nur von der irdischen Seele handelt, hat eine Staatslehre und hat zuletzt als das Höchste, zu dem sie sich aufschwingt, die Dreigliederung von Kunst, Religion, Wissenschaft. Aber darüber geht es nicht hinaus, da geht es nicht in die geistigen Welten hinein. Auf geistigste Art hat solch ein Mensch wie Hegel oder Fichte beschrieben dasjenige, was in der äußeren Welt ist; aber gedämpft ist alles dasjenige, was hinausschaut über die äußere Welt. Und so sehen wir, daß gerade dasjenige, was kein Gegenbild in der geistigen Welt hat, das Rechtsleben, das Staatsleben, was nur von dieser Welt ist, daß das gerade die Größe ausmacht dieser Ideengebäude, die da auftreten. Man sieht die äußere Welt als geistig an. Man kommt aber nicht über diese äußere Welt hinaus. Aber man schult den Geist, man bringt dem Geist eine gewisse Disziplin bei. Und legt man dann Wert auf eine gewisse innere Entwickelung, so findet das statt, daß dadurch gerade, wenn man sich heranschult an dem, was da in diesem Gebiete der Welt an Erziehung des Geistes durch die Ideenwelt geleistet werden kann, man gewissermaßen innerlich hinaufgetrieben wird in die geistige Welt. Das ist ja das Merkwürdige.

Ich muß Ihnen gestehen, mir ist, wenn ich Schriften der Scholastiker lese, immer bei diesen Schriften der Scholastiker so zumute, daß ich mir sage: Das kann denken, das weiß zu leben in Gedanken. - Auf eine gewisse andere Art, mehr dem Irdischen zugewandt, sage ich mir das auch bei Hegel: Der weiß zu leben in Gedanken - oder bei Fichte oder bei Schelling.

Selbst in der dekadenten Art, wie die Scholastik in der Neuscholastik zutage tritt, muß ich sagen, finde ich in der Scholastik immer noch mehr von entwickeltem Gedankenleben als zum Beispiel in der modernen Wissenschaft oder in der modernen populären Bücher- oder Zeitungsliteratur. Da ist schon alles Denken verdunstet und verduftet. Es ist schon wahr, die besseren Geister der Scholastik, in der Gegenwart zum Beispiel, denken Begriffe genauer als unsere Universitätsprofessoren der Philosophie. Aber das ist ja eben das Eigentümliche, wenn nun diese Gedanken auf einen wirken, wenn man zum Beispiel ein scholastisches Buch liest, so ein richtig scholastisch-katholisches Buch liest und es auf sich wirken läßt, gewissermaßen es zu einer Art von Selbsterziehung verwendet, die Seele wird über sich hinausgetrieben. Es wirkt wie eine Meditation. Es wirkt so, daß man zu etwas anderem kommt, Erleuchtung bewirkend. Und eine sehr merkwürdige Tatsache liegt vor.

Denken Sie sich einmal, solche modernen Dominikaner, Jesuiten, andere Ordensgeistliche, die sich in dasjenige, was jetzt noch von Scholastik vorhanden ist, hineinvertiefen, wenn sie nun ganz zu Ende wirken ließen auf sich dasjenige, was da an scholastischen Gedankenformen in ihnen erziehend wirkt, sie würden alle auf eine verhältnismäßig leichte Weise durch diese Erziehung zum Begreifen der Geisteswissenschaft kommen. Überließe man diejenigen, die Neuscholastik studieren, ihrem eigenen seelischen Werdegang, es würde gar nicht lange dauern, würden gerade diese katholischen Ordensgeistlichen sehr bald Anhänger der Geisteswissenschaft werden. Daher hat man - was nötig, damit sie es nicht werden? Man verbietet es ihnen. Man gibt ihnen das Dogma, welches die ganze Sache kupiert, welches das nicht aufkommen läßt, was heraus aus der Seele die Entwickelung bewirken würde. Man könnte heute noch immer demjenigen, der sich entwickeln will zur Geisteswissenschaft, als Meditationsbuch zum Beispiel jenes scholastische Buch in die Hand geben, das ich einmal hier vorgezeigt habe, das von einem Gegenwartsjesuiten verfaßt ist; aber ich habe Ihnen gesagt, es hat das Imprimatur durch jenen Erzbischof; es ist dasjenige kupiert, was entstehen würde im Menschen, wenn der Mensch sich ihm ganz frei überlassen könnte.

Diese Dinge, die muß man durchschauen, denn dann wird man einsehen, welche Wichtigkeit es hat für gewisse Kreise, ja nicht es bis zu den Konsequenzen desjenigen kommen zu lassen, was entstehen könnte, wenn man die Dinge frei wirken ließe in den Seelen. Dieses mitteleuropäische Streben besteht eben darinnen, von dem selbstverständlichen rhythmischen Menschen hinauf sich zu erheben zum Nerven-Sinnesmenschen, zu dem, der im ideellen Gebiete dasjenige hat, was er sich selbst erringt. Für diese Menschen ist die besondere Anlage vorhanden, das Leben der Erde als ein Geistiges zu begreifen. Das hat ja Hegel im umfassendsten Sinne getan.