Schweizerische Demokratie nur scheinbare Demokratie

Quelle: GA 339, S. 063-064, 3. Ausgabe 1984, 14.10.1921, Dornach

Gestern versuchte ich zu entwickeln, wie man den ersten Teil eines Dreigliederungsvortrags vor einem gewissen Publikum behandeln könnte, und ich machte darauf aufmerksam, daß es namentlich notwendig ist, eine Empfindung hervorzurufen für den besonderen Charakter des auf sich selbst gestellten Geisteslebens. Im zweiten Teil wird es sich darum handeln, überhaupt einer gegenwärtigen Menschheit erst begreiflich zu machen, daß es so etwas geben kann wie einen demokratisch-politischen Zusammenhang, der Gleichheit anzustreben hat. Denn eigentlich - und das muß man bedenken, namentlich wenn man sich für einen solchen Vortrag vorbereitet - ist das der Fall, daß der gegenwärtige Mensch gar keine Empfindung hat für ein solches Staatsgebilde, das auf das Recht als auf sein eigentliches Fundament aufgebaut ist. Und dieser Teil, der politisch-staatliche Teil des Vortrags, er wird ganz besonders schwierig zu behandeln sein innerhalb der schweizerischen Verhältnisse. Und es wird sich ganz besonders darum handeln, daß die Redner, welche innerhalb der schweizerischen Verhältnisse die Dreigliederung des sozialen Organismus vertreten wollen, gerade von den also bedingten schweizerischen Verhältnissen ausgehen, und besonders darum, daß sie bei dem mittleren, dem rechtlich-staatlichen Teil, Rücksicht darauf nehmen, wie man aus den schweizerischen Verhältnissen heraus zu reden hat. Denn die Sache liegt ja im allgemeinen so: Durch die Verhältnisse der neueren Menschheitsentwickelung ist das eigentliche Staatsleben als solches, das sich eigentlich im Rechtsstaat ausleben sollte, im wesentlichen verschwunden, und was sich im Staate auslebt, ist eigentlich ein chaotisches Zusammensein der geistigen Elemente des menschlichen Daseins und der wirtschaftlichen Elemente. Man könnte sagen: In den modernen Staaten haben sich allmählich die geistigen Elemente und die wirtschaftlichen Elemente durcheinandergeschweißt, und das eigentliche Staatsleben ist zwischendurch eben heruntergefallen, eigentlich verschwunden. Dies ist besonders innerhalb der schweizerischen Verhältnisse bemerkbar.

Da haben wir es überall zu tun mit einer in ihren eigentlichen Ausgestaltungen unmöglichen, scheinbaren Demokratisierung des geistigen Lebens und mit einer Demokratisierung des Wirtschaftslebens, und damit, daß die Leute glauben, dieses scheinbar demokratisierte Gemisch von Geistesleben und Wirtschaftsleben, das wäre eine Demokratie. Und da sie sich ihre Vorstellung von Demokratie gebildet haben aus dieser Mischung heraus, da sie also eine vollständige Scheinvorstellung von Demokratie haben, so ist es so schwierig gerade zu den Schweizern von wirklicher Demokratie zu sprechen. Eigentlich verstehen gerade von wirklicher Demokratie die Schweizer am allerallerwenigsten.

Man denkt in der Schweiz darüber nach, wie man die Schulen demokratisieren soll. Das ist ungefähr so, als wenn man darüber nachdenken und aus wirklichen, wahren Begriffen heraus eine Vorstellung davon bekommen sollte, wie man einen Stiefel zu einer guten Kopfbedeckung macht. Und in ähnlicher Weise werden hier die staatlichen sogenannten demokratischen Begriffe behandelt. Es nützt ja nichts, über diese Dinge, ich möchte sagen, leisetreterisch zu sprechen, um, wenn man hauptsächlich vor Schweizern spricht, höflich zu sprechen; denn dann würden wir uns doch nicht verstehen können. In der Höflichkeit über solche Dinge kann man sich ja niemals ordentlich verstehen. Nun, gerade deshalb ist es notwendig, den Begriff des Rechts und der Gleichheit der Menschen vor einer solchen Bevölkerung zu erörtern, wie es die schweizerische ist.