Tod als Zusammenfassung kleiner Sterben

Quelle: GA 326, S. 075-079, 3. Ausgabe 1977, 28.12.1922, Dornach

Ein Biologe des 19. Jahrhunderts, Weismann, hat den Gedanken gefaßt, daß man eigentlich, wenn man den Organismus irgendeines Lebewesens biologisch erfaßt, die Wechselwirkung der Organe, oder bei niederen Organismen die Wechselwirkung der Teile als das Wesentliche annehmen muß, daß man dadurch zu einer Erfassung desjenigen kommt, wie der Organismus lebt, daß aber bei der Untersuchung des Organismus selber, bei dem Erkennen des Organismus in der Wechselwirkung seiner Teile sich kein Charakteristikon dafür findet, daß der Organismus auch sterben muß. Wenn man nur auf den Organismus hinschaut, sagte sich Weismann, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewirkt hat, dann findet man nichts, was das Sterben anschaulich mache kann. Daher, sagte er, gibt es innerhalb des lebendigen Organismus überhaupt nichts, was einen dazu bringen könnte, aus der Wesenheit des Organismus heraus die Idee zu fassen, daß der Organismus sterben müßte. Das einzige, was einem zeigen kann, daß der Organismus sterben muß, ist für Weismann das Vorhandensein der Leiche. Das heißt, man bildet sich den Begriff für das Sterben nicht aus an dem lebendigen Organismus. Man findet kein Merkmal, kein Charakteristikon im lebendigen Organismus, aus dem heraus man erkennen könnte, das Sterbende gehört hinzu zu dem Organismus, sondern man muß erst die Leiche haben. Und wenn dann dieses Ereignis eintritt, daß für einen lebendigen Organismus eine Leiche da ist, so ist diese Leiche dasjenige, das einem zeigt: Der Organismus hat auch das Sterbenkönnen für sich.

Nun sagt aber Weismann, es gibt eine Organismenwelt, bei der man niemals Leichen entdecken kann. Das sind die Einzelligen Lebewesen. Die teilen sich bloß, da kann man keine Leiche entdecken. Nehmen Sie an: ein einzelliges Lebewesen in seiner Vermehrung. Das Schema stellt sich in folgender Weise dar. Solch ein einzelliges Lebewesen teile sich in zwei, jedes wieder in zwei und so weiter. So geht die Entwicklung vorwärts, niemals ist eine Leiche da. Also, sagt sich Weismann, sind eben die einzelligen Wesen unsterblich. Das ist die berühmte Unsterblichkeit der Einzelligen für die Biologie des 19. Jahrhunderts. Und warum werden sie als unsterblich angesehen? Nun, weil sie eben nirgends eine Leiche zeigen, und weil man den Begriff des Sterbens im Organischen nicht unterbringt, wenn es einem nicht die Leiche zeigt. Wo sich einem also die Leiche nicht zeigt, hat man auch nicht den Begriff des Sterbens unterzubringen. Folglich sind diejenigen Lebewesen, die keine Leiche zeigen, unsterblich.

Sehen Sie, gerade an einem solchen Beispiel zeigt sich, wie weit man in der neueren Zeit von dem Zusammenleben seiner Vorstellungen und überhaupt seiner inneren Erlebnisse mit der Welt sich entfernt hat. Der Begriff des Organismus ist nicht mehr so, daß man ihm noch anmerken kann, er muß auch sterben. Man muß es aus dem äußeren Bestehen des Leichenhaften ersehen, daß der Organismus sterben kann. Gewiß, wenn man einen lebendigen Organismus nur so anschaut, daß man ihn außen hat, wenn man nicht dasjenige, was in ihm ist, miterleben kann, wenn man also nicht sich in ihn hineinleben kann, dann findet man auch nicht das Sterben im Organismus und braucht ein äußeres Merkmal dafür. Das aber bezeugt, daß man sich mit seiner Vorstellung überhaupt von den Dingen getrennt fühlt.

Aber blicken wir jetzt von der Unsicherheit, die in alles Denken über die Körperwelt hineingekommen war durch diese Absonderung der Begriffswelt von dem Selbsterlebnis, blicken wir in jene Zeit zurück, in welcher dieses Selbsterlebnis eben noch da war. Da gab es in der Tat ebenso, wie es nicht nur einen äußerlich gedachten Begriff eines Dreiecks oder Vierecks oder Pentagramms gab, sondern einen innerlich erlebten Begriff, so gab es einen innerlich erlebten Begriff des Entstehens und Vergehens, des Geborenwerdens und Sterbens. Und dieses innere Erlebnis des Geborenwerdens und Sterbens hatte in sich Gradation. Wenn man das Kind von innen nach außen belebter und belebter fand, wenn seine zuerst unbestimmten physiognomischen Züge innere Beseelung annahmen und man sich hineinlebte in dieses Heranleben des ganz kleinen Kindes, so erschien einem das als eine Fortsetzung des Geborenwerdens, gewissermaßen als ein schwächeres, weniger intensives, fortdauerndes Geborenwerden. Man hatte Grade im Erleben des Entstehens. Und wenn der Mensch anfing Runzeln zu kriegen, graue Haare zu kriegen, tatterig zu werden, so hatte man den geringeren Grad des Sterbens, ein weniger intensives Sterben, ein partielles Sterben. Und der Tod war nur die Zusammenfassung von vielen weniger intensiven Sterbeerlebnissen, wenn ich das paradoxe Wort gebrauchen darf. Der Begriff war innerlich belebt, der Begriff des Entstehens sowohl wie der Begriff des Vergehens, der Begriff des Geborenwerdens und der Begriff des Sterbens.

Aber indem man so diesen Begriff erlebte, erlebte man ihn zusammen mit der Körperwelt, so daß man eigentlich keine Grenze zog zwischen dem Selbsterlebnis und dem Naturgeschehen, daß gewissermaßen ohne Ufer das innere menschliche Land überging in das große Meer der Welt. Indem man das so erlebte, lebte man sich auch in die Körperwelt selber hinein. Und da haben diejenigen Persönlichkeiten früherer Zeiten, deren charakterischste Gedanken und Vorstellungen eigentlich in der äußeren Wissenschaft gar nicht mit Aufmerksamkeit verfolgt werden, daher auch gar nicht richtig verzeichnet werden, die haben sich ganz andere Ideen machen müssen über so etwas, wie Weismann hier seine - ich sage das jetzt in Gänsefüßchen - "Unsterblichkeit der Einzelligen" konstruierte. Denn was hätte solch ein älterer Denker, wenn er nun schon durch ein etwa auch damals vorhandenes Mikroskop, etwas gewußt hätte von der Teilung der Einzelligen, was hätte er sich für eine Vorstellung gemacht aus dem Zusammenleben mit der Welt? Er hätte gesagt: Ich habe zuerst das einzellige Wesen. Das teilt sich in zwei. Mit einer ungenauen Redeweise würde er vielleicht gesagt haben: Es atomisiert sich, es teilt sich, und für eine gewisse Zeit sind die zwei Teile wiederum als Organismen unteilbar, dann teilen sie sich weiter. Und wenn das Teilen beginnt, wenn das Atomisieren beginnt, dann tritt das Sterben ein. Er würde also nicht aus der Leiche das Sterben entnommen haben, sondern aus dem Atomisieren, aus dem Zerfälltwerden in Teile. Denn er stellte sich etwa vor, daß dasjenige, was lebensfähig ist, im mehr entstehenden Werden ist, daß das unatomisiert ist, und wenn die Tendenz zum Atomisieren auftritt, dann stirbt das Betreffende ab. Bei den Einzellern würde er nur gedacht haben, es sind eben für die zunächst im Momente als tot von einem Einzeller abgestoßenen zwei Wesen die Bedingungen da, daß sie gleich wiederum lebendig gemacht werden, und so fort. Das wäre sein Gedankengang gewesen. Aber mit dem Atomisieren, mit dem Zerklüftetwerden hätte er den Gedanken des Sterbens betont, und in seinem Sinne würde er, wenn der Fall so gewesen wäre, daß man den Einzeller gehabt hätte, der sich zerteilt hätte, und durch die Zerteilung nun nicht zwei neue Einzeller entstanden wären, sondern durch Mangel an Bedingungen des Lebens diese Einzeller sofort übergegangen wären in unorganische Teile, dann würde er gesagt haben: Aus der lebendigen Monade sind zwei Atome entstanden. Und er würde weiter gesagt haben: Überall da, wo man Leben hat, wo man das Leben anschaut, hat man es nicht mit Atomen zu tun. Findet man irgendwo in einem Lebendigen Atome, so ist soviel, als Atome drinnen sind, darinnen tot. Und überall, wo man Atome findet, ist der Tod, ist das Unorganische. So würde aus dem lebendigen inneren Erfahren der Weltempfindung, Weltwahrnehmung, der Weltbegriffe in einer älteren Zeit geurteilt worden sein.