Strafe bei Kindern, wenn überhaupt, dann nur aus der Ruhe

Quelle: GA 309, S. 082-084, 5. Ausgabe 1981, 17.04.1924, Bern

Im Leben zeigt sich gerade das falsche Materialistische der Erziehung dann, wenn der Mensch nicht kann in sich sein ewiges Teil spüren, einfach innerlich erfahren. Er wird es erfahren, wie der Tod ein Ereignis ist im Leben, nicht ein Ende des Lebens, wenn er nur methodisch richtig erzogen wird, das heißt, wenn die Grundsätze der Erziehung abgelesen werden aus der Menschennatur selber. Dann aber kommt man dazu, das ganze Verhältnis des Erziehers zum Kinde, zum späteren jungen Menschen so aufzufassen, daß man weiß: da wirkt nicht bloß die Äußerlichkeit, da wirken eben - für das ganz kleine Kind habe ich das schon erörtert - Imponderabilien, da wirkt Unwägbares und Unanschaubares.

Das muß man berücksichtigen, wenn es sich um so etwas handelt, wie da auch bei einer Frage gesagt worden ist, um die Strafe als Erziehungsmittel. Nicht wahr, da kann es sich nicht wiederum darum handeln: soll man strafen oder soll man nicht strafen. Wie will man gewissen Dingen, die die Kinder ausfressen, beikommen, wenn man etwa die Strafen ganz abstellt? Das ist eine, ich möchte sagen, ganz individuelle Frage, ob man strafen soll oder nicht. Es gibt Kinder, denen kommt man mit ganz etwas anderem bei als mit Strafe, und es gibt Kinder, denen kommt man überhaupt nicht bei ohne Strafe. Nur wird immer die Art des Strafens schon ein wenig abhängen davon, ob der Lehrer dieses oder jenes Temperament hat. Man muß sich klar darüber sein, daß man es mit Menschen zu tun hat, nicht mit Schnitzereien eines Bildhauers; man muß ihre Wesenheit berücksichtigen. Aber auch die Kinder müssen da berücksichtigt werden. Und man braucht eigentlich gar nicht so viel zu reden, ob manchmal ein Klaps mehr oder weniger verabreicht werden soll. Da kommt das Wie viel mehr in Betracht als das Was. Alles handelt sich darum, daß nur eine Strafe, die verhängt wird in voller Besonnenheit, in voller innerer Ruhe des Lehrers, eigentlich wirkt, während, wenn sie erteilt wird aus der Zornmütigkeit des Lehrers heraus, sie gar nicht wirken kann. Da kann der Lehrer durch Selbsterziehung natürlich ungeheuer viel machen. Sonst kann es so kommen, daß, wenn ein Kind einen Klecks gemacht hat, der Lehrer wütend wird und das Nachbarkind anfängt auszuzanken, das auch über dieses Kind wütend geworden ist: Du sollst nicht gleich wütend werden! - Da sagt das Kind: Es werden ja auch erwachsene Menschen wütend, wenn ihnen Unannehmlichkeiten begegnen. - Sagt der Lehrer: Wütend darfst du nicht werden, sonst schmeiße ich dir das Tintenfaß an den Kopf. - Wenn in dieser Weise gestraft wird aus der Zornmütigkeit heraus, dann kommt endlich auch das zustande, was einmal in einer Erziehung da war: Eine Erzieherin kam unter ihre zu erziehenden Kinder, die ein mäßiges Alter noch hatten. Die Kinder spielten. Die Erzieherin sagte: Aber was macht ihr da für einen Krakeel, was treibt ihr da, warum seid ihr denn so laut, warum schreit ihr denn so viel? - Bis dann ein Kind sich aufraffte und sagte: Sie sind ja die einzige, die schreit. - Es kommt durchaus darauf an, daß die Seelenverfassung des Strafenden, des Ermahnenden im Strafen und im Ermahnen die allergrößte Rolle spielt. Daher kann sogar die Vorsicht angewendet werden, wenn das Kind etwas ausgefressen hat: zunächst es ignorieren vor dem Kinde, eine Nacht darüber schlafen. Am nächsten Tage wird die Sache vorgenommen. Dann ist bei dem Erzieher mindestens die nötige innere Ruhe eingetreten. Da wird - ob eine Ermahnung oder eine Strafe eintreten soll - unter allen Umständen eine richtigere Wirkung erzielt werden, als wenn die Sache in Zornmütigkeit erledigt worden wäre. Gewiß, auch das hat seine Schattenseiten, aber man muß bei den Dingen abwägen und nicht in Einseitigkeit verfallen.