Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung

01.06.2004

Ein Diskussionsbeitrag

Der vorliegende Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union sollte eigentlich am 9. Mai unterzeichnet werden, noch vor den Wahlen zum Europa-Parlament am 13. Juni. Aber es hatte bei einer Regierungskonferenz im Dezember zunächst unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Mehrheitsbildung innerhalb der EU gegeben.2 Inzwischen wurden die Streitpunkte bei einer weiteren Konferenz der Staats- und Regierungschefs am 17. und 18. Juni in Brüssel ausgeräumt, so dass der Unterzeichnung nichts mehr im Wege steht.

Seit dem 1 . Mai ist die sogenannte Osterweiterung der EU vollendet. Die Union hot jetzt 25 Mitglieder. Zu den ,Altmitgliedern" Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die sich 1957 zur EWG zusammengeschlossen hatten, waren 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark dazugestoßen, 1976 Griechenland, Spanien und Portugal. Nachdem durch den Vertrag von Maastricht 1992/93 eine politische Union entstanden war, hatten sich dieser 1995 noch Osterreich, Schweden und Finnland angeschlossen. Dass Rumänien und Bulgarien bald ebenfalls aufgenommen werden, gilt als sicher. Ob die ebenfalls im Wartestand befindliche Türkei die Vollmitgliedschaft erhält, wird noch kontrovers diskutiert. Am 17./ 18. Juni erhielt schließlich auch Kroatien den Status eines Beitrittskandidaten.

Die Größe der Union darf aber nicht davon ablenken, dass sie nicht ganz Europa umfasst. Der Ausdruck "Europäische Verfassung", der vielfach verwendet wird, ist daher eigentlich eine Anmaßung. Denn die Schweiz, Norwegen und die nicht der EU angehörenden osteuropäischen Länder sind doch ohne Zweifel auch integraler Bestandteil Europas.

Gemischte Gefühle

Die Bilder von den Feiern in den Hauptstädten der Beitritts-länder lassen keinen Zweifel daran, doss der Beitritt mindestens von Teilen der Bevölkerung mit echter Freude, ja mitJubel begeleitet wurde. Gefühle, die ihre reale Grundlage darin haben, dass sich in Europa die Nationen nicht mehr gegenseitig zerfleischen werden und dass auch die Spaltung des Kontinents in feindliche Systeme überwunden ist. So drückte Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude, die als Europa-Hymne bei den Feiern erklang, die Stimmung vieler Menschen aus.

Dennoch zögert man, in den Jubel einzustimmen. Nicht nur, dass die Europa-Wahlen dann gezeigt haben, wie viele Menschen in den Beitrittsländern der EU skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Nicht nur, dass es die Angst so vieler Menschen gibt, dass die

Osterweiterung zu einer Abwärtsspirale führen werde, was Arbeitsplatzsicherheit und Lohnniveau angeht. Vor allem sind es Fragen nach der Politik der EU und die Sorge über vieles, was in dem Verfassungsentwurf steht - oder nicht steht -, die den Jubel dämpfen oder gar nicht erst nicht aufkommen lassen.

Der Verfassungsentwurf ist in der Bevölkerung kaum diskutiert worden, ja weitgehend nicht einmal in Grundzügen bekannt.3 Ist es da nicht höchste Zeit, dass die Bürgerinnen und Bürger ihn zur Kenntnis nehmen und beginnen, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen? Es kann doch nicht sein, dass die Grundlage für das Zusammenleben in Europa von den Bürgerinnen und Bürgern nicht wirklich getragen wird!

Schon heute werden mehr als 50% aller neuen Regelungen, die für die Bürgerinnen in den EUStaaten verbindlich sind, von Brüssel vorgegeben. Geregelt wird vieles, bis zum Krümmungsgrad von Euro-Gurken (Verordnung 1677/88 der Brüsseler Kommission vom 15. Juni 1988). Neben den Verordnungen sind es die Richtlinien, die von Brüssel erlassen werden und von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen, die diesen zunehmenden Einfluss begründen. In Brüssel wiederum ist eine höchst effektive Konzernlobby am Werk, deren Einfluss auf die europäische Politik kaum zu überschätzen ist.4

Gleichzeitig entwickelt sich die Europäische Union ohne echte Bürgerbeteiligung weiter. Ein solches Europa "von oben" aber erzeugt keine Europa-Begeisterung, sondern nur EuropaVerdruss - das ist in der geringen Beteiligung bei den Parlamentswahlen sichtbar geworden.

Es ist zwar spät, aber noch nicht zu spät...

Internationale Verträge bedürfen der Ratifizierung. Bis Ende 2006 haben die Mitgliedstaaten der EU für die Ratifizierung der Verfassung Zeit. Die Ratifizierung erfolgt entweder durch die Parlamente oder durch die Bürgerinnen und Bürger direkt. Das heißt, dass in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern Volksabstimmungen stattfinden werden. Solche Referenden würden die Chance bieten, das Verfassungsprojekt doch noch in einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren.

Es ist schlimm genug, dass der Entwurf nicht aus einem Verfassungsprozess von unten hervorgegangen ist, wie er u.a. auch von der Initiative Netzwerk Dreigliederung gemeinsam mit der IG-Eurovision und den Intercitizens Conferences (ICC) in einem Aufruf zum Projekt "EU 21" im Oktober2000 gefordert worden war. Um so schlimmer wäre es, dem Souverän nicht wenigstens das letzte Wort darüber zu lassen, ob er die Verfassung in dieser Form überhaupt will oder nicht. Im Falle derAblehnung stünde dann natürlich auch die Form, in der ein neuer Entwurf entstehen könnte und die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Entstehungsprozess neu zur Disposition.

Zu den Schlusslichtern in Sachen direkte Demokratie in Europa gehört die Bundesrepublik Deutschland. Dies, obwohl das deutsche Grundgesetz davon spricht, dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in "Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird (Art. 20, 2). Nur wurde dieses Abstimmungsrecht bisher nicht umgesetzt. Ein Vorstoß der Regierungskoalition in der vorigen Legislaturperiode, dies über eine Verfassungsänderung zu erreichen, scheiterte wegen der hierfür erforderlichen Zweidrittelmehrheit an der Verweigerung von CDU und CSU. Absurderweise und im Widerspruch zu ihrer eigenen Initiative verweigert die SPD ein Referendum über die EU-Verfassung. Edmund Stoiber dagegen hat es gefordert und auch die FDP vertritt es lautstark. Die Grünen haben auf ihrem Dresdner Parteitag einen entsprechenden Beschluss gefasst, - was aber Außenminister Fischer nicht angefochten hat, bei seinem Nein zu bleiben, für das er die demokratietheoretisch atemberaubende Begründung fand, wegen der besonderen historischen Bedeutung der in Frage stehenden Entscheidung sei das Volk damit nicht direkt zu befassen. Eine ForsaUmfrage beweist, dass eine große Mehrheit der Deutschen - 74 % - für ein solches Referendum ist; noch mehr, nämlich 87 %, sprechen sich generell für Bürgerentscheide aus. Mit dem Thema lassen sich also Stimmen gewinnen, was zu einem Teil die eigenartige Konstellation von Befürwortern und Gegnern erklären mag.

Wie immer man im einzelnen die Entwicklung einschätzen mag, sicher ist, dass ein Referendum auch in Deutschland bessere Chancen bieten würde, über die Inhalte der Verfassung endlich öffentlich zu debattieren. Diese Inhalte spielen bisher selbst da kaum einen Rolle, wo die Medien wenigstens punktuell von dem Verfassungsprojekt Notiz nehmen.

Die europäische Verfassung im Lichte der Aufgaben Europas in der heutigen Welt

Für eine öffentliche Diskussion braucht man nicht nur Detailargumente, sondern vor allem grundlegende Gesichtspunkte zur Beurteilung eines europäischen Verfassungsprojekts. Die europäische Vergangenheit im Guten wie im Bösen und die Geschichte der europäischen Einigung, sie geben wichtige Gesichtspunkte - aber nur in dem Maße, indem wir aus ihnen und aus dem Blick auf die Aufgaben der Zeit die Zukunftsaufgaben Europas in der Welt abzulesen vermögen.

In Teilen der Zivilgesellschaft tut man sich mit dieser Frage manchmal unnötig schwer, weil man besorgt ist, durch eine Reflexion auf die Aufgaben Europas in einen Eurozentrismus zurückzufallen. Man sollte sich indes klarmachen, dass es gegenüber den uniformierenden Tendenzen einer McWorld und eines von den USA bestimmten Empire von großer Bedeutung wäre, die Rolle einzelner Regionen im Menschheitsorganismus konstruktiv zu

beschreiben, - schon um einer Geopolitik, die sich unter umgekehrtem Vorzeichen an geopolitisch-machtstrategische Überlegungen orientiert, Paroli bieten zu können. Ebenso muss darauf abgehoben werden, dass bestimmte Werte zwar historisch in Europa zum ersten Mal artikuliert wurden, aber eben gerade keine eurozentristische, sondern globalmenschheitliche Bedeutung haben. Das geht so weit, dass die Kritik an dem, was Europa dem Süden der Welt angetan hat und noch antut, eben diese Werte von Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Solidarität gegen Europa wendet. Wir haben gegen unsere eigenen Ideale verstoßen. Das sollte uns als Europäer darauf aufmerksam machen, dass wir gerade bei der weltweiten Verwirklichung dieser Ideale, die in Europa ihren historischen Quellpunkt haben, eine Aufgabe haben, der Welt zu dienen und nicht bloß Europa als territorialem Gebilde.

So gesehen geht es auch nicht an, was "europäisch" ist zu messen an der Faktizität der Brüsseler Bürokratie - die in einzelnen Aspekten durchaus eher altägyptische Züge trägt als europäische. Vielmehr wären die europäischen Institutionen an den genannten europäischen Werten zu messen und da umzuformen, wo sie diesen nicht entsprechen.

Individualisierung und Globalisierung

In Europa hat das seinen Ausgang genommen, was wir Individualisierung nennen, das moderne Selbstbewusstsein, der Mündigkeitsimpuls, der individuelle Wille, Gesetzgeber des eigenen Lebens zu sein und die Gemeinschaft nicht länger als Vormund über sich zu dulden. Mündigkeit, in sozialer Verantwortung gelebt, kann zum Ausgangspunkt neuer menschlicherer Gemeinschaftsformen werden, die auf dem Respekt vor der Diversität der sie konstituierenden Freiheit jedes Einzelnen aufgebaut sein. Wird diese Verantwortung verfehlt, verformt sich der Individualismus - statt zum solidarischen Individualismus zu werden - in Egozentrismus.

Dieses Prinzip der Egoität, der Jagd nach dem eigenen Vorteil, notfalls auf Kosten anderer, wird in die Welt getragen durch die ebenfalls von Europa ausgehende Bewegung der Globalisierung. Diese begann, indem europäischer Entdecker und Kolonisatoren den Globus im wahrsten Sinne des Wortes er-fuhren. Das wirtschaftliche Geflecht, das sich in dieser Epoche bilde, ist zwar untergründig ein Netzwerk von Zusammenarbeitsbeziehungen in einer Fremdversorgungswirtschaft, die letztlich die Geschwisterlichkeit zur ökonomischen - nicht bloß allgemein moralischen - Notwendigkeit macht. Aber dieser Unterstrom der Globalisierung ist zunächst überdeckt von der krassen Unbrüderlichkeit einer Ökonomie, in der die Jagd nach Surplus zum Selbstzweck wird.

Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Subsidiarität im Mittelpunkt Ein Verfassung, wie immer man sie sonst sehen mag, vermittelt ein Stück Identitätsbewusstsein. Wahre Identität zu erlangen aber ist unmöglich ohne die Auseinandersetzung nicht nur mit den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, sondern auch den eigenen Schattenseiten. ZurAuseinandersetzung um die EU-Verfassung

Selbstbesinnung ist eine notwendige Voraussetzung, um eine tragfähige Verfassungsgrundlage zu erarbeiten.

Europa als Ausgangspunkt von Individualisierung das wäre doch wohl Grund genug, die individuellen Menschenrechte, ergänzt um die bürgerlichen Beteiligungsrecht und die sozialen Menschenrechte, ohne jeden Abstrich in den Mittelpunkt der eigenen Verfassungsentwicklung zu stellen! Es müsste Herausforderung sein, eine freie, auf Selbstorganisation beruhende Kultursphäre und zugleich eine wirklich partizipative, von der Basis ausgehende Demokratie zu schaffen.

Europa ist derAusgangspunkt zweier verheerender Weltkriege gewesen - europäische Politik hätte also allen Grund, sich von militärischen Superpower-Ambitionen zu verabschieden und sich auf eine aktive Friedensförderung und Konfliktvermeidung, etwa auch durch die Stärkung der UN, zu konzentrieren.

Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Europa müsste ernst machen mit seinen eigenen, Grundwerten von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die ja letztlich allen Eurozentrismus sprengen müssen. Auf dieser Basis soll Europa selbstlos und ohne eigene Machtansprüche zu einer weltweiten Friedensordnung und zum gerechtem Ausgleich zwischen Nord und Süd beitragen - auch dadurch, dass es sowohl auf dem eigenen Territorium wie weltweit eine Wirtschaftsform fördert, in der Organe des Interessenausgleichs fürfaire Preisverhältnisse sorgen.

Eine einheitsstaatlich-machtstaatliche Struktur der Europäischen Union ist dagegen mit all dem unvereinbar. Notwendig dagegen wäre gerade die Auflösung von Machtstrukturen durch gesellschaftliche Gliederung. Darin kann man dem auf S. 31 ff. abgedruckten Aufruf der IG Eurovision nur aus vollem Herzen zustimmen.

Dass sich die Europäische Union nicht als Großmacht versteht, das wäre gerade auch im Verhältnis zu Amerika wichtig. Kritisieren wir das, was im Irak geschieht, etwa nur deshalb, weil wir gleiche Macht wollen wie Amerika? Oder deshalb, weil wir eine solche Form der Machtpolitik für unzeitgemäß halten? Habermas und Derridas Idee der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Friedensdemonstrationen gegen den Irak-Krieg jedenfalls geht von dem zweiten Motiv aus.

Statt Großmacht sein zu wollen, müsste die EU als Vorreiterin einer neuen Politik wirken, die machtfreie Räume schafft, fördert und sichert. Es geht um eine neue Form von Staatlichkeit, die nicht obrigkeitlich wirkt, sondern nur da "subsidiär" (hilfsweise) eingreift, wo Selbstverwaltung und Selbstorganisation noch nicht gelingen.

In diesen Wertorientierungen läge auch die reale und nicht bloß deklamatorische Anknüpfung an die christlichen Wurzeln Europas. Auch der Gedanke der Subsidiaritätz.B. taucht ja zuerst in christlichen Soziallehren auf. Dagegen würde es der menschenrechtlich gebotenen weltanschaulichen Neutralität des modernen Staates widersprechen, Gott und damit ein bestimmtes Glaubensbekenntnis in die Präambel der Verfassung aufzunehmen, wie von konservativ-religiösen Kreisen gefordert.

Der europäische Verfassungsprozess in historischer Perspektive

Die europäische Integrationsbewegung hat in bezug auf die europäischen Wertorientierungen von vornherein etwas Zwiespältiges. Ein Internationalismus, der Krieg und Hader zwischen den Europäischen Völkern überwinden will, mischt sich mit politischen, ökonomischen und kulturellen Hegemonialinteressen. Besonders deutlich wird das an dem Vordenker der Integration, dem Grafen Richard Nicolas von Coudenhove-Kalergi. 1923 erscheint seine Schrift "Paneuropa", in der er Programm und Ziele der im gleichen Jahr von ihm begründeten Paneuropa-Bewegung festlegt. Damals musste das Projekt eines europäischen Staatenbundes vielen völlig utopistisch erscheinen. Um so erstaunlicher ist es, wie sich nach dem II. Weltkrieg die Einigung exakt nach Coudenhoves Fahrplan vollzieht, über die ökonomische Union zur politischen. Coudenhove, der 1938 vor den Nazis emigrieren musste, gewinnt das Gehör von Politikern und Wirtschaftsverantwortlichen; den fruchtbarsten Boden findet er noch eigener Aussage in katholischen Kreisen.

Er setzt sich in seinen Schriften zwar gegen den totalen Staat ein, doch ist Demokratie für ihn eine Legitimationsform von Herrschaft und keine Erneuerung der Gesellschaft von unten her. D.h. er verficht den Gedanken einer - in der europäischen Kulturtradition wurzelnden, demokratisch legitimierten - "geistigen Aristokratie". Letztlich ist sein Konzept, das im Grundsatz, nicht in den Einzelheiten, von vielen Europapolitikern noch wie vor geteilt wird, das von Europa als einer Supermacht: "Wir wollen Europa, verbunden durch Bande der Freundschaft mit seinen mächtigen Nachbarn Amerika und Russland, zu einer Weltmacht wiedervereinigen, gleichberechtigt ihren beiden Nachbarn und dem neuen China." So formuliert er es in den 60er Jahren.

Ein solches Integrationskonzept ist für viele verlokkend; gerade durch seine inhaltliche Unbestimmtheit eignet es sich zur Klammer für durchaus unterschiedliche Interessen und Bestrebungen, von dem Versuch, das Heilige Römische Reich wieder aufleben zu lassen, bis zum Realisierung eines Europas der Konzerne. Die Aufgaben Europas in der heutigen Zeit verfehlt es jedoch an entscheidender Stelle. - Churchills berühmter Züricher Rede vom September 1946 über die "Vereinigten Staaten von Europa" ging übrigens ein Treffen mit Coudenhove am Genfer See voraus.

Nachkriegsentwicklung

Marshallplan und Kalter Krieg führen zu einer Spaltung Europas, so dass die Integration zunächst nur als westeuropäische stattfindet (wenn man von dem ost-westübergreifenden Europa-Rat absieht). Die Westeuropäische Integration vollzieht sich - impulsiert von Politikern wie Jean Monnet und RobertSchumann - über die Gründung der Europäischen Gemeinschaftfür Kohle und Stahl (Montanunion 1951) und die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG durch die Römischen Verträge von 195 7.

Schritt fürSchritt folgt dann der Aufbau und die Entwicklung all jener Institutionen, mit denen heute Europa identifiziert wird: Europäisches Parlament (1958; zum ersten Mal direkt gewählt 1979), Europäische Kommission in Brüssel und der Ministerrat, bestehend aus den Fachministern der Mitgliedsstaaten (1967), Europäischer Rat (Gipfel der Staats- und Regierungschefs) mit von Land zu Land "wandernder" Präsidentschaft. Mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte wird ein wesentlicher Schritt auf die Union zu getan und der Einstieg in den Binnenmarkt geleistet.

Das Jahr 1989: eine vergebene Chance

Dann kommt das Jahr 1989 und mit ihm eine komplette Wandlung der europäischen Situation. Der autoritäre Staatssozialismus wird von einerfriedlichen Revolution zum Zusammenbruch gebracht. Die Umbruchbewegung strebt zunächst nach einer sozialen Erneuerung, die zwischen Staatssozialismus und westlich-kapitalistischem System einen dritten Weg sucht. Mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE (später OSZE) hat sich 1973-1975 bereits ein institutioneller Ansatz einer ge-samteuropäischen Zusammenarbeit gebildet.

1989 schien die Möglichkeit zu eröffnen, in der "einen Welt" eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz zu verwirklichen. Groß waren die Hoffnungen auf die Möglichkeiten, die durch Abrüstung gewonnenen gewaltigen Finanzmittel in die Entwicklungszusammenarbeit zu lenken. Und genauso groß waren die Erwartungen, sich jetzt endlich den ökologische Problemen stellen und nachhaltige Entwicklung fördern zu können, Erwartungen, die den Erdgipfel der UN in Rio 1992 prägten.

Europa hätte die Chance gehabt, in diesen Prozessen eine aktiv vorwärtstreibende Rolle zu spielen und gleichzeitig seine eigene Einheit zu vollenden. - Und zwar als gleichberechtigte Synthese von Ost und West, im Sinne von Gorbatschows Wort vom "europäischen Haus", einem Wort, das damals in aller Munde war. Diese Synthese hätte auch in einen dritten Weg zu den zuvor in Ost und West verwirklichten Gesellschaftsordnungen münden können.

Aber leider verlief die Entwicklung ganz anders. Neue Kriege und Konflikte brachen aus; Sara jewo, von dem der erste Weltkrieg ausgegangen war, wurde wieder Ort eines grausamen Gemetzels. 1993 gab der amerikanische Politologe Huntington die Parole vom "Kampf der Kulturen" aus. Damit verabschiedete man sich von jedem Versuch, die strukturellen Ursachen kultureller Konflikte zu beseitigen und machte die Unmöglichkeit der Koexistenz der Kulturen faktisch zur Staatsdoktrin. Die Globalisierung, wie sie durch die 1986 gestartete 8. Handelsrunde des GATT und die aus ihr 1994/95 hervorgegangene Welthandelsorganisation WTO vorangetrieben wurde, war keine mit menschlichem Antlitz, sondern sie trug das Gepräge eines Turbokapitalismus, der nun das gesamte gesellschaftliche Leben dem Kommerz auszuliefern droht. Das Anwachsen der Geldspekulation und ihre Auswirkungen, z.B. in der Asienkrise, anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die einsetzende gnadenlose Konkurrenz der Standorte - die zu einem immer größeren Druck auf die Sozialsysteme und den öffentlichen Sektor führt: all das sind Stichworte für die genannte Entwicklung.

Die Erweiterung Westeuropas gen Osten

Und so treibt man denn auch zunächst einmal schlicht das Projekt einer westeuropäischen Union weiter voran: Der Maastricht-Vertrag schafft die EU, die Europäische Kommission wird zur EU-Kommission, der Ministerrat zum Rat der EU usw. Mit enormem Termindruck wird der Europäische Binnenmarkt realisiert: Freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital lauten die Stichworte. Der Vertrag von Amsterdam, auch "Maastricht 2" genannt, ändert, modifiziert und ergänzt bestehende Verträge und Rechtsakte der Union und vertieft den Integrationsprozess. 1999 schließlich führen elf Länder den Euro ein: Deutschland, Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten, Spanien, Portugal, Osterreich, Finnland und Irland.

Die auf diese Schritte folgende Osterweiterung ist unter solchen Bedingungen eben keine Ost-West-Integration, sondern die Erweiterung der (west)europäischen Union auf den Osten, der mit neuen Märkten und billigen Arbeitskräften lockt. Es wiederholt sich im Grund der gleiche Vorgang, den wir bei der deutschen Einheit erlebt haben: statt eines Zusammenschlusses auf wirklich gleicher Augenhöhe, gibt es eine Art Anschluss der neuen Länder. Nur dass die EU weniger als die Altbundesländer in der Pflicht steht, die Arbeitsund Lebensverhältnisse im Osten dem Westen nach und nach anzugleichen. Im Gegenteil, durch die Osterweiterung drohen eher Angleichungsprozesse in anderer Richtung.

Wechselwirkung zwischen WTO und EU

Über die WTO ist in dieser Zeitschrift schon viel geschrieben worden, auch über die Rolle der EU innerhalb der Welthandelsorganisation und dort speziell gegenüber den Ländern des Südens. An dieser Stelle ist die Wechselwirkung zwischen WTO und EU hervorzuheben: Die WTO bezieht durch ihre Abkommen immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ganz oder teilweise in die Handelspolitik ein, z.B. die öffentlichen Beziehungsdienstleistungen. Für die Handelspolitik ist aber jeweils die EU zuständig, der durch die Ausweitung dieses Politikbereichs automatisch eine größere Macht zuwächst.

Die gemeinsame Handelspolitik geht auf die römischen Verträge zurück. In Bezug auf den Warenverkehr machte sie in einem gemeinsamen Markt auch einen gewissen Sinn. Aber was ist, wenn durch die WTO-Abkommen viele Fragen zum Gegenstand der EU-Handelspolitik gemacht werden, die bisher von den Mitgliedsstaaten zu regeln waren, nun aber in die Zuständigkeit der EU fallen? Das kann nur zu einer Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips unter dem Deckmantel der notwendigen WTO-Kompatibilität der EU-Politik führen.

Die Frage der WTO-Korn patibilität spielt auch auf dem Feld der Agrarpolitik eine gewaltige Rolle. Bisher praktizierte die EU in der Landwirtschaft eine Form der Subventionierung, die durch die WTO-Abkommen, insbesondere das AoA (Agreement on Agriculture) in Zukunft verboten ist. Rund 50 Mrd. Euro, rund die Hälfte ihres Etats, lässt sich die EU ihre gemeinsame Agrarpolitik kosten. Um der WTO gerecht zu werden, müssen diese Beträge gekürzt bzw. in erlaubte Stützungsmaßnahmen, z.B. direkte produktionsentkoppelte Einkommenshilfen, umgewandelt werden. Dies geschieht im Rahmen der vom Rat 1999 beschlossenen "Agenda 2000".

Effizienz- und Legitimationsdefizit soll abgebaut werden

An dieserStelle wird vielleicht klarer, warum man überhaupt und gerade jetzt eine EUVerfassung benötigte, wo man doch seit 1951 bzw. 1957 ganz gut ohne eine solche zurecht gekommen war. Hätte man nicht einfach die Verträge fortschreiben bzw. ergänzen können, um die Integration voranzutreiben? Das war jetzt nicht mehr ausreichend, jedenfalls solange man die EU als Machtblock und nicht als Gemeinschaft horizontal vernetzter staatlicher Territorien, wirtschaftlicher Räume und eigenständiger Kulturinstitutionen ansah. Ein Machtblock benötigt eine ausreichend große Zentralisierung der Zu-ständigkeitfür das Ganze. Eine Staatengemeinschaft mit

25 Mitgliedstaaten, lässt sich nicht effizient als Weltmacht "steuern" ohne institutionelle Veränderungen, insbesondere ein erweitertes Mehrheitsprinzip. Einer muss sagen, wo es langgeht, so immer noch das gängige Denkmuster, und im Zweifel ist das die Mehrheit.

Aber gerade wenn man diese Steigerung der Effizienz der EU wollte, musste man auch das Legitimationsproblem bearbeiten, das die EU offensichtlich hat. Das Verfassungsprojekt sollte also nicht nur die EU effizienter machen, sondern ihr auch eine größere Akzeptanz bei den Bürgerinnen verschaffen. Ob dabei mehr als der Schein demokratischer Legitimation entstanden ist, wird sich zeigen müssen.

Wohl auch, um dem Eindruck entgegenzuwirken, die EU sei eine bloße polit-ökonomische Zweckallianz, und um zu signalisieren, man wolle eine Wertegemeinschaft sein, begann man zunächst mit der Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte. Hierzu setzte man 1999 einen Konvent ein, dessen Leiter der deutsche Ex-Bundespräsident Roman Herzog wurde. Man ließ zunächst offen, ob diese Charta den europäischen Verträgen nur vorangestellt würde, wie es z.B. noch im deutschen Koalitionsvertrag der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün formuliert und gefordert wurde.

Charta der Grundrechte: Vorschläge aus der Zivilgesellschaft

Nach Seattle war es Mode geworden, die Zivilgesellschaft in politische Projekte einzubeziehen, wenn auch häufig nur pro forma. So wurden auch Vorschläge aus der Zivilgesellschaft zur Charta erbeten. Das eintägige Hearing des Konvents dazu erwies sich dann allerdings eher als Force: 5 Minuten Redezeit pro Organisation, das wars. Die Einladung führte jedoch zu einer Reihe höchst interessanter Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft. So kam es auch zu den Vorschlägen, die Gerald Häfner, Robert Zuegg und ich für die Initiative Netzwerk Dreigliederung eingebracht haben. Unsere Skizze einer "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" wurde seinerzeit im Rundbrief dokumentiert und ist noch im Internet abzurufen. Unser Grundgedanke, der damals auch in der

Zeitschriftfür Rechtspolitik vertreten wurde, war eine konsequente Ausrichtung der Charta an den Menschenrechten und am Grundsatz der Subsidiarität, ganz im Sinne dessen, was auch hier über Kriterien einer europäischen Verfassung ausgeführt ist. Durch die Art der Formulierung der Charta hätte, so unser Ansatz, verhindert werden müssen, dass die weitere Integration dazu führt, dass das Schlechtere zum Standard wird - etwa in der Rechtsstellung öffentlicher Schulen in freier Trägerschaft oder bei der sozialen Sicherheit. Wir formulierten Prinzipien und Aufgaben der EU, die sich aus den Grundrechten ergeben und machten dabei den Versuch, den Subsidia ritätsgedanken - horizontale Vernetzung und Entscheidungen "vor Ort" bzw. durch die Betroffenen, statt undurchsichtiger hierarchischer Strukturen - konsequent und prägnant auszugestalten.

Von Nizza über Laeken nach Thessaloniki

Diese und andere Vorschläge aus der Zivilgesellschaft wurden vom Konvent aber nicht aufgegriffen, und zum Schluss kam ein Dokument heraus, das nicht voll befriedigen kann, weder bei den Freiheits-, noch bei den Beteiligungsrechten und bei den Sozialrechten. Unbefriedigend blieb vor allem auch, dass die Charta auf dem Ratsgipfel in Nizza im Dezember 2000 nur,,proklamiert" wurde, d.h. die in ihr enthaltenen Rechte waren nicht einklagbar. Mit dem Vertrag von Nizza wurde gleichzeitig die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in der EU bis zu einem gewissen Grad ausgedehnt.

Noch Nizza kam dann der Prozess in Gong, der ebenfalls in dieser Zeitschrift bereits wiederholt geschildert wurde: Ende 2001 beauftragen die Staats- und Regierungschefs der EU einen "Konvent zur Zukunft Europas", Vorschläge für eine grundlegende Erneuerung der Verträge auszuarbeiten und Reformen vorzubereiten, an deren Ende ein europäischer Verfassungsvertrag stehen soll. Präsident des Gremiums wurde Valery Giscard dEstaing. Im einzelnen wurden folgende Aufgabenfelder für die Erneuerung der Verträge genannt: Bessere Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der EU, Vereinfachung der Instrumente der EU, mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz. Zu den 105 Mitgliedern des Konvents gehörten auch Vertreter der Beitrittsländer, einschließlich der Beitrittskandidaten im Wartestand - also auch der Türkei.

Wieder war die Zivilgesellschaft gebeten, Vorschläge einzubringen, was ouch die Initiative Netzwerk Dreigliederung erneut tat - in einer Phase, wo von Seiten des Konventspräsidenten nur ein Gliederungsvorschlag vorlag, auf den wir Bezug nahmen.9 Übrigens zeigte sich auch hier wieder, wie schon bei der Charta, dass es nicht genügt, eine äußerliche Transparenz herzustellen, indem man zum Beispiel alle Dokumente ins Internet stellt, um eine wirkliche Beteiligung und gesteigertes Interesse der Menschen zu wecken."

Entgegen allen Unkenrufen, der Konvent werde ohne Ergebnis bleiben, gelang dem Gremium ein Verfassungsentwurf. Er wurde dem Ratsgipfel von Thessaloniki, der am 20. und 21 . Juni 2003 zusammentrat, vorgelegt und von diesem gebilligt. Zuvor bereits, am 16. April, war in Athen der Vertrag über den Beitritt der neuen Länderunterzeichnetworden. Der Entwurf wurde an die eingangs erwähnte Regierungskonferenz überwiesen - an der wieder die Beitrittsländerteilna hmen. Dort stockte der Prozess zunächst bei der Dezembertagung letzten Jahres und musste jetzt wieder in Gang gebracht werden.

Zum Inhalt der EU-Verfassung Versuch einer Bewertung

Der Umfang des Entwurfs hat etwas Monströses. Es handelt sich um den Versuch, zum einen die Ziele derUnion, die Unionsbürgerschaft, die Zuständigkeiten und Institutionen der Union und die Mitgliedschaft in ihr zu beschreiben, was im 1 . Teil geschieht. Als zweiten Teil hat man die Charta der Grundrechte eingefügt, und Teil 3 behandelt die Politiken und die Funktionsweise der Union und ist eine Art Synopse der bestehenden europäischen Verträge. Im Grunde ist das - ganz abgesehen von inhaltlichen Bedenken, auf die ich noch eingehen werde - viel zu voluminös und ins Detail gehend für eine Verfassung, die doch die Grundlagen des Zusammenlebens beschreiben soll, ohne dieses im Detail zu regeln. Teil IV enthält die Schlussbestimmungen, denen sich noch verschiedene Protokolle anschließen. Dieser Versuch, Disparates in einen Text zusammenzubringen, führt schon formal zu Brüchen und Redundanzen.

Von offizieller Seite wird gerne auf die folgenden Punkte hingewiesen, um den durch die Verfassung erzielten Fortschritt darzutun:

Aus den bisherigen "Europäischen Gemeinschaften" - zu denen als eine auch die EU selbst gehörte - wird eine einheitliche Rechtspersönlichkeit "Europäische Union". Der EURATOMVertrag ist zwar inhaltlich noch nicht wie die anderen Verträge in Teil 3 der Verfassung integriert. Allerdings wird er ausdrücklich genannt und seine Nachführung wird verbindlich gemacht. Insofern ist das Argument deutscher Grüner, sie hätten EURATOM aus der Verfassung herausverhandelt, nicht zutreffend. - Die Schaffung des Amts eines Europäischen Außenministers soll zurStärkung der Zuständigkeit der EU beitragen. - Ein 2 1/2 Jahre amtierender Ratspräsident ersetzt die jetzige alle 6 Monate rotierende Ratspräsidentschaft. Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments wird in einigen Punkten verbessert. So darf es jetzt den Kommissionspräsidenten bestätigen. - Auch wird es - was eine echte Überraschung darstellt - ein sogenanntes europäisches Bürgerbegehren geben. Dieses führt allerdings nur bis zur Befassung der EU-Kommission mit den entsprechenden Anliegen, nicht jedoch zu einer Volksabstimmung.

Diese Punkte sind aber durchaus nicht ausreichend, um die Bedenken auszuräumen, die sich aufgrund einer ganzen Reihe anderer Bestimmungen ergeben. Ein Informationsmaterial derAttac-EU AG Stuttgart und Region fasst diese Kritikpunkte plakativ, aber zugleich sachlich prägnant zusammen (siehe Kosten)."

Auch das immer wieder angeführte Argument, ein entscheidender Fortschritt sei durch die Integration der Charta der Grundrechte erreicht, sticht nicht. Diese bildet den Teil 11 des Entwurfs. Zwar wird sie dadurch verbindlicher: die einzelnen Rechte werden einklagbar. Aber die Freude darüber währt höchstens so lange, bis man

eines Satzes ansichtig wird, der der Grundrechte-Charta nachgestellt worden ist und der da lautet: "Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, erfolgt im Rahmen der in diesen einschlägigen Teilen festgelegten Bedingungen und Grenzen." [Artikel H-52 (2)]. Das ist eine glatte Umkehrung des rechtsstaatlichen Basissatzes, dass die Gesetze und die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind, die den Kern der Verfassungen bilden, und nicht umgekehrt die Grundrechte durch Einzelbestimmungen begrenzt werden.

Das zweite Dementi der Grundrechte-Charta erfolgt gleich zu Beginn des Entwurfs, indem dessen Präambel ein Zitat von Thukydides vorangestellt wird, das das Mehrheitsprinzip zum Kern der Demokratie erklärt: "Die Verfassung, die wir haben ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist". (Thukydides, H, 37) - Menschenrechte sind jedoch gerade Minderheitenrechte, Rechte des einzelnen auch gegenüber den Mehrheiten, die ihm diese Rechte nicht schmälern dürfen, weil sie im Wesengehalt unumkehrbar und kein Gewährungsakt der Gemeinschaft sind.

Das Argument, der Entwurf senke das GrundrechteNiveau ab (vgl. Kasten), ist daher durchaus berechtigt. Auch wenn formal die nationalen Verfassungen nicht abgelöst werden, sondern voll bestehen bleiben, wird die europäische Verfassung im Rechtsleben der Union der erste Bezugspunkt sein, wodurch diese nationalen Verfassungen faktisch auf das Niveau von Länderverfassungen in einem Bundesstaat heruntergebracht werden können.

Des Pudels Kern: Die mächtige EU bekommt noch mehr Macht

"Der Rat, in dem Vertreter der nationalen Regierungen sitzen, ist vereinfacht gesagt das gesetzgebende Organ der Union. In einigen Bereichen - zu denen die wichtigsten gar nicht gehören - teilt der Ratseine Entscheidungsmacht mit dem Europaparlament (nicht sehr demokratisch!) Das war vertretbar, solange es meist Konsensentscheidungen gab. Dieses so genannte Mitentscheidungsverfahren gilt laut Nizza-Vertrag für 37 Politikfelder und soll nach dem jetzigen Verfassungsentwurf auf insgesamt 80 Bereiche ausgeweitet werden. - in 57 Bereichen (darunter so wichtigen wie Steuer- und Sprachenpolitik, soziale Sicherung und Verteidigung) kann der Rat laut Verfassungsentwurf nur einstimmig beschließen. In den übrigen, rund 100 Bereichen genügt die qualifizierte Mehrheit. Und hier wird die Sache kompliziert." Das schreibt Le Monde diplomatique Nr. 7259 vom 16.1 .2004 und benennt damit des Pudels Kern. Es geht um Macht und stärkere Zentralisierung.

An dieser Stelle entstand die Meinungsverschiedenheit über das komplizierte Problem derqualifizierten Mehrheit, die zum Scheitern des Dezembergipfels geführt hat. Spanien und Polen hatten sich gegen das Prinzip der "doppelten Mehrheit" gesträubt. Es sah vor, dass ein Beschluss dann als akzeptiert gilt, wenn mindestens 50 Prozent der EU-Länder zustimmen und die zustimmenden Länder 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Inzwischen haben die Opponenten eingelenkt und am 18. Juni 2004 der neuen Formel "55 Prozent der Staaten, 65 Prozent der Bevölkerung" zugestimmt.2

Zur Beurteilung der Machtstrukturen der EU ist noch die Arbeitsweise der Ministerräte zu berücksichtigen, die ja im Grunde das zentrale Gesetzgebungsorgan sind. Diese sind "zusammengesetzt aus Ministerialbeamten der Mitgliedsländer und formal angeführtvon zumeist ahnungslosen Ministern. Über 90 Prozent aller Entscheidungen fallen bereits im Coreper, dem bei den Wählern gänzlich unbekannten Rat der ständigen Vertreter. Ergebnis dieser Hinterzimmergesetzgebung sind dann jene Richtlinien, die als geltendes europäisches Recht von nationalen Parlamenten nur noch umgesetzt werden. De facto schreibt sich so die Exekutive ihre Gesetze selbst. Jeder Staat, der so verfasst wäre wie die Union, könnte niemals deren Mitglied werden.""

Es gibt gute Gründe, zum Entwurf Nein zu sagen

Das über zentralistische Tendenzen Gesagte wird bestätigt durch meine eigene Wahrnehmung bei einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der großen Parteien im Stuttgarter EberhardLudwigs-Gymnasium, bei der klar wurde, dass im Grunde ein europäischer Einheitsstaat das Ziel und Ideal der politischen Klasse ist, auch wenn sie das bis vor einiger Zeit noch vehement abgestritten hätte. Dieser Ansatz ist eine logische Konsequenz aus der traditionellen Art, den Staat zu denken. Wirkliche Lehren aus der Geschichte werden mit dieser Verfassung nicht gezogen, bürokratische Hürden gegen die freie Kultur nicht beseitigt, dagegen Freifahrscheine für die Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors erteilt. Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit werden zwar beschworen, jedoch drohen sie jeweils an den falschen Ort zu geraten: nämlich dorthin, wo Freiheit zu Willkür, Gleichheit zur Gleichmacherei und Geschwisterlichkeit zur Vetterleswirtschaft wird.

Solange aber eine EU-Verfassung nicht konsequent an Menschenrechten und Subsidiarität orientiert ist, kann man gerade aus dem Ja zu Europa ein Nein zu ihr begründen. Die Gleichsetzung "Gegner des vorliegenden Entwurfs = Verfassungsgegner = Gegner Europas" ist demagogisch und unerträglich.

Wie geht es weiter?

Ich komme auf den Anfang zurück. Nach der bevorstehenden Unterzeichnung treten wir in die Phase der Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Verfassung ein. Dann werden in mindestens neun Ländern die Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt sein. Und seit überraschender Weise Tony Blair für Großbritannien ein Referendum angekündigt hat, ist bei den Befürwortern des Verfassungsprojekts große Sorge aufgekommen, es werde sich in England eine Mehrheit gegen den Text finden. Auch in anderen Ländern ist das Ergebnis der Abstimmungen nicht genau vorhersehbar - und außerdem abhängig davon, wie sich die öffentliche Debatte vorher noch entwickelt.

Die Projektbefürworter bekommen ein ernstes Problem bereits dann, wenn ein Land nicht mitmacht, denn

das Projekt ist auf Konsens angelegt. Ein Sprecher der EU-Kommission hat jüngst bekräftigt, bei einem Nein in einem Land könne die Verfassung nicht in Kraft treten. In einer Anlage zum Entwurf heißt es zu diesem Thema lediglich: "Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags über die Verfassung vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der Frage.""

Es wird also noch spannend werden. Denn wenn es wirklich zu einem Nein kommt, ist vieles wieder offen. Dann gibt es verschiedene Optionen, bis hin zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten auch auf der Verfassungsebene.

Referendum in allen Ländern gleichzeitig?

In den letzten Monaten wurde auch der Gedanke eines gesamteuropäischen Referendums ins Gespräch gebracht.

Man muss dies als Irreführung der Öffentlichkeit bezeichnen. Mangels gesetzlicher Grundlage wäre das Ergebnis nicht verbindlich und hätte allenfalls konsultativen Charakter. Ein Nein einzelner Länder würde in einem Ja einer europäischen Mehrheit untergehen. Das würde die ganze Verfassungskonstruktion auf den Kopf stellen, die ja auf der Zustimmung der einzelnen Länder beruht. Es gibt kein europäisches Staatsvolk Vielmehr müssen die Bürgerinnen und Bürger in jedem Land entscheiden, ob und welche Verfassung der EU sie akzeptieren.

Selbst wer nur einzelne Veränderungen der Verfassung wünscht, muss sich sagen, dass niemand ohne Not das Verfassungs-Paket noch einmal aufschnüren wird, dass also der einzige Weg, um etwas anderes zu bekommen, über das Scheitern des Projekts in der gegenwärtigen Form führt.

Warum ein Referendum auch in Deutschland so wichtig wäre Natürlich kann man für ein Referendum sein auch wenn man den Verfassungsentwurf befürwortet. Die FDP macht es uns vor. Aber die mit dem Referendum verbundene Diskussion ist eine Chance gerade für die Kritiker des Entwurfs, das Informationsdefizit über dessen Inhalte zu beheben. Insofern bietet die Frage des Referendums auch viele Ansatzpunkte zur Zusammenarbeit der globalisierungskritischen und der Demokratiebewegung in der Verfassungsfrage.

Im letzten Jahr sind die beiden Bewegungen zunächst enger zusammengerückt. Die Strömungen der Zivilgesellschaft in Europa, die sich vor allem für globale soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, haben begonnen, nicht nur ganz allgemein ein soziales Europa zu fordern, sondern sich für die Einzelheiten der Verfassungsdiskussion zu interessieren und sich kritisch mit der EU-Verfassung auseinander zu setzen. Dabei ist auch das Bewusstsein für die Anforderungen an einen demokratischen Entstehungsprozess einer Verfassung und an eine Verabschiedung durch Bürgerentscheide gewachsen. Umgekehrt entwickelte sich in der Demokratiebewegung, ZurAuseinandersetzung um die EU-Verfassu

sichtbar an den Publikationen etwa von "Mehr Demokratie e.V.", ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich der neoliberalen Form der Globalisierung zu widersetzen. Dadurch wurde bei vielen Mitwirkenden der Bewegung der Blick in bezug auf die Verfassung dafür geschärft, dass diese nicht nur wegen der formalen Defizite ihrer Entstehung bzw. Inkraftsetzung, sondern vor allem auch wegen ihrer marktfundamentalistisch orientierten Inhalte zu kritisieren sei.

Um so bedauerlicher sind Tendenzen, diese Annäherung zu behindern oder rückgängig zu machen. So ist es zum Beispiel schwer verständlich, dass bei einem Ratstreffen von Attac Deutschland eine Sperrminorität verhinderte, dass die Forderung nach einem Referendum in eine verfassungskritische Erklärung aufgenommen wurde.

Von dem Erfolg der Bemühungen, die Anliegen der verschiedenen Strömungen der Zivilgesellschaft, stärker miteinander ins Gespräch zu bringen und soweit als möglich gemeinsam zu handeln, wird in Zukunft sehr viel abhängen."

Gibt es einen Weg zu einem Verfassungsprozess von unten?

Ein Referendum über einen fertigen Entwurf, zu dem man nurJa oder Nein sagen kann, ist noch kein Verfassungsprozess von unten, wie er bereits in dem Aufruf ,EU 21" gefordert wurde. In diesem Grundanliegen stimme ich den Argumenten der IG Eurovision (S. 31 ff. in diesem Heft) zu. Was ich nicht teile, ist die Auffassung, wegen des genannten Defizits des Referendums sei dieses im Grund eine zu vernachlässigende Größe. Denn es ist zu befürchten, dass die Forderung nach einem Verfassungsprozess von unten kein nennenswertes Echo mehr findet, wenn der jetzt vorliegende Verfassungsentwurf erst einmal in Kraft gesetzt ist. Nur wenn das Verfassungsprojekt in der gegenwärtigen Form scheitert - und das wird mit hoher Wahrscheinlich nur durch den negativen Ausgang eines oder mehrer nationaler Referenden geschehen können -, dann und nur dann öffnet sich wieder ein Raum, in dem - vielleicht ein Verfassungsprozess von unten entstehen kann. Ein Verfassungsprozess ohne Zeitdruck, in dem die Kreativität der Zivilgesellschaft in der Entwicklung der Verfassung zur Geltung kommen kann. "Vielleicht" sage ich deshalb, weil Appelle allein dazu nicht genügen. Es wird vielmehr eines gehörigen Maßes on sozialer Kunst bedürfen, um die richtigen Partner in einem echten Dialog zusammenzuführen.

Die Menschen in den Staaten der EU müssen sich selbst um die Zukunft Europas kümmern. Bei dieser Zukunft geht es um weit mehr als um einen geschriebenen Verfassungstext. Es geht um die "Verfassung" Europas im Sinne seiner sozialen Befindlichkeit. DerAufschwung zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die dadurch ermöglichten unerwarteten Wendungen, die die Ereignisse bei den WTO-Gipfeln in Seattle und Cancun genommen haben, deuten darauf hin, dass eine Alternative durchgesetzt werden kann, wenn sich genügend viele Menschen dafür engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger in den Staaten der EU sollten sich nicht einreden lassen, dass sie doch nichts ausrichten können. Sie sollten sich vielmehr selbst für die Ausgestaltung des europäischen Hauses verantwortlich fühlen.


Quelle: Rundbrief Dreigliederung Nr. 2/2004


Anmerkungen

1 Es handelt sich um einen Extrakt aus verschiedenen Vorträgen, die der Autor in den letzten Monaten, vor ganz unterschiedlichem Publikum, zum Thema gehalten hat.

2 Vgl. C. Strawe: Verfassung der Europäischen Union: Die Zivilgesellschaft macht mobil. Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, 14. Jg., Heft 4, Dezember 2003.

3 Der Text kann heruntergeladen werden unter: hffp://europeanconvention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.deO3.pdf.

4 Vgl. Annette Groth: Konzern Europa. In: Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, 15. Jg. Heft 1/2004.

5 Vgl. http://mehr-demokratie.de/bu/pdf/studie eu-ve.pdf

6 Vgl. Aufruf zum Projekt ,EU 21" - Für eine europäische Verfassung von unten, www.sozialimpulse.de.aufruf.htm

7 Richard N. von Coudenhove-Kalergi: "Ein Leben für Europa. Meine Lebenserinnerungen". Köln/Berlin 1966 (Verlag Kiepenheuer und Witsch), 5. 21. Zitiert nach: Gerold Aregger: Der Wegbereiter der "Europäischen Gemeinschaft". Welches Europa? In: "Gegenwart". Nr. 3/4 1992.

8 http://www.sozialimpulse.de/skizze. hfm

9 http://www.sozialimpulse.de/Texte html/

verfassungsvertrag. htm

10 An einigen Stellen wurde sogar regelrechte Desinformation betrieben: so wurde ein Deutschland ein kleines Taschenbuch, das nur Teil I und II des Gesamtentwurfs enthält, von offizieller Seite als "der" Verfassungsentwurf verbreitet. Viele problematische Regelungen finden sich vor allem im Teil III, der dreimal so umfangreich ist wie die Teile I und II zusammen.

11 Karl Müller weist auf weitere Kritikpunkte hin, u.a. auf die Untergrabung der Autonomie der Mitgliedsstaaten und der Subsidiarität, schwere Demokratiedefizite und das Fehlen einer klaren Gewaltenteilung. 10 Neuralgic Points of the Constitution for Europe, http://www.currentconcerns.ch/archive/2004/03/ 20040311 .php

12 Bestandteil des Kompromisses sind auch Zusatzklauseln, in denen fir bestimmte Einzelfälle veränderte Stimmrechte verankert wurden. Ein Veto gibt es weiterhin in der Steuerpolitik und weiten Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik. Ein Kompromiss wurde auch bei der strittigen Frage der Zusammensetzung der Kommission gefunden: Bis zum Jahr 2014 entsendet jedes Land wie bisher einen Kommissar nach Brüssel. Danach wird die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedsländer reduziert, um die Effizienz zu erhöhen. Eine Rotation soll dazu führen, dass kein Land benachteiligt wird. Die Rotation bedeutet, dass jedes Land fir eine gewisse Periode keinen Vertreter in der Kommission haben wird.

13 Harald Schumann: Verhöhnung der Demokratie. Die Europawahlen sind eine Farce. Denn noch immer bestimmt die Brüsseler Beamtendiktatur, was in der EU passiert - und nicht das Europäische Parlament. taz Nr. 7380 vom 11.6.2004, Seite 11.

Ein wichtiges Thema sind Kompetenzzuweisung und Kompetenzaneignung durch die EU-Ebene. Bereits in der Vergangenheit war es so, dass die EU-Kommission die Methode der Koordinierung angewendet hat, um ihren Einflussbereich auszuweiten. Ein Einfallstor für EURegelungen ist auch die Flexibilitätsklausel (1-1 7). Diese Flexibilitätsklausel gab es bislang auch schon, sie erlaubte ein Tätigwerden der EU im Hinblick auf den Binnenmarkt, wenn die Befugnisse für die Union formal sonst nicht vorgesehen waren. Unter Berufung auf die Flexibilitätsklausel sind in der Vergangenheit 500 - 700 Rechtsakte erlassen worden!!! In der EUVerfassung wird nun die Flexibilitätsklausel auf alle Politikbereiche ausgedehnt! Das Prinzip der Subsidiarität wird unterminiert, weil die nationalen Parlamente völlig unwirksame Rechte zum Schutz der Subsidiarität erhalten (s. Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität am Ende der Verfassung). Zum anderen gilt selbst in den Bereichen geteilter Zuständigkeit zwischen Union und Mitgliedstaaten der Vorrang der Union: Die Mitgliedstaaten dürfen tätig werden, wenn die Union untätig bleibt. (s. I-i 1(2). Vgl. Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie

Die Europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen. PapyRossa Verlag, Köln 2004. Den Hinweis auf die Aussagen des Buches verdanke ich Elke Schenk.

14 Erklärung für die Schlussakte über die Unterzeichnung des Vertrages über die Verfassung.

15 Vgl. EU-AG-Kontrovers: Soll sich Attac der Kampagne für ein Referendum über die EU-Verfassung anschließen Anette Groth, Christoph Strawe: Pro Referendumskampagne: Nein zu einem Europa ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Burger. 5. Newsletter der EU-AG.