Die Wissenschaft als Wegbereiter der Finanzkrise

01.04.2012

Im April 1919 erläuterte Rudolf Steiner in einem Vortrag in Stuttgart das Verhängnisvolle, das vor allem mit der Abhängigkeit der Wissenschaft von den herrschenden Mächten, hier speziell der Wirtschaftswissenschaft, erfolgt war: "...dass der moderne Proletarier ganz in die Wirtschaftsordnung hinein versklavt worden ist."[1] Vor einem überwiegend bürgerlichen Publikum machte Steiner deutlich, wer dafür verantwortlich war: Das Bürgertum, dessen Wissenschaft, dessen Geistesleben zur Ideologie degeneriert war: "... die Abhängigkeit dieses Geisteslebens von den Bedürfnissen des Staatslebens, das eingerichtet wurde nach und nach – das hat insbesondere die Weltkriegskatastrophe gezeigt - ganz nach den Bedürfnissen des modernen Wirtschaftslebens, die nicht allgemein menschliche Bedürfnisse waren“[2] war das Ergebnis bürgerlichen Versagens vor den Erfordernissen der Zeit. Noch markanter in der Wortwahl wurde Rudolf Steiner einen Tag später, als er vor den Arbeitern der Waldorf-Astoria- Zigarettenfabrik sprach: "... weil das geistige Kulitum so sehr Handlanger geworden ist der wirtschaftlichen und staatlichen Mächte, daher sind wir von der einen Seite in ein solches Elend hineingekommen ... Nicht etwa nur, was sonst in der Welt existiert, ist ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern vor allen Dingen ist auch unser Wissenschaftsbetrieb ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung."[3]

Die damit charakterisierte unseelige Verflechtung von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, in der sich letztlich alles nach den Interessen der Wirtschaft, genauer der Finanzwirtschaft richtet, zeigt sich deutlich am Entstehungsprozess der Finanzkrise, die 2008 in den USA begann, sich über die Welt ausbreitete und seitdem anhält. Es ist vor allem ein beschämendes Schauspiel der korrupten wissenschaftlichen Welt. Die Deregulierung der Finanzmärkte, welche unter anderem für diese verhängnisvolle Entwicklung angesehen werden kann, wurde in den USA von einer Reihe positiv gestimmter wissenschaftlicher Gutachten begleitet und auf politischer Seite von Personen durchgeführt, die aus dem Wissenschaftsbereich kamen und wiederum enge Verflechtungen mit der Finanzwelt hatten, bzw. sich in der Folge dieser Deregulierungen von der Finanzwelt außergewöhnlich gut bezahlen ließen.

Zwei Namen sollen hier exemplarisch dafür zeugen: Robert Rubin und Larry H. Summers. Beide Wirtschaftswissenschaftler, beide Finanzminister der USA.

Robert Rubin schloss sein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Harvard ab und war von 1964 bis 1992 in führender Stellung bei der Investmentbank Goldman Sachs tätig. Von 1995 bis 1999 war er Finanzminister der Clinton Administration. Rubin war entscheidend daran beteiligt eines der wichtigsten Gesetze aus der Zeit nach der Depression der 30er Jahre aufzuheben, die nach der großen Bankenkrise, 1929 bis 1933, von Roosevelt erlassen worden war: den Glass-Steel-Act. Dieses Gesetz schrieb die Einführung eines Trennbankensystems vor, welches die institutionelle Trennung zwischen dem Einlagen- und Kreditgeschäft und dem Wertpapiergeschäft sichern sollte. Rubin hob dieses Gesetz auf, eine Maßnahme, die unter anderem wesentlich zu der Explosion der Umsätze, Gewinne und Gehälter auf den Finanzmärkten beitrug. Gleichzeitig schlug Rubin alle Bemühungen nieder eine strengere Aufsicht über exotische Finanzprodukte zu ermöglichen.

Ganz nebenbei konnten in den USA dann die Travelers Group und die Citicorp zur Citigroup fusionieren, was vorher nicht möglich gewesen wäre. Dieses Detail findet hier Erwähnung, da Robert Rubin nach seinem Ausscheiden aus der Clinton-Administration bei eben dieser Citigroup als Berater tätig wurde. Seine Beratung war der Citigroup von 1999 bis 2009 insgesamt 126 Millionen $ in cash and stock für Mister Rubin wert. Während seiner Beratertätigkeit für die Citigroup war Rubin einer der Hauptverantwortlichen für die extreme Hinwendung ihrer Aktivitäten auf hochriskante Darlehen und komplexe Finanzprodukte. Nach Expertenmeinung die Saat für das Desaster in dem wir uns seither befinden.[4]

Larry Summers war wie Rubin Wirtschaftswissenschaftler und machte seinen Doktor in Harvard. 1995 wurde er stellvertretender Finanzminister unter Robert Rubin und war wie dieser an allen Deregulierungsmaßnahmen beteiligt. Summer machte sich dabei besonders für eine Deregulierung der Derivate stark. Auch das einer der maßgeblichen Krisenauslöser. 1999 wurde er als Rubins Nachfolger Finanzminister der USA.

Clinton sagte im April 2010 selbstkritisch, dass seine Finanzminister Rubin und Summers falsch gelegen hätten mit ihrem Rat die Derivate nicht zu regulieren: „ I think they were wrong and I think I was wrong to take their advice.“[5] Mit Beginn der Präsidentschaft George W. Bushs 2001 verließ Summers das Finanzministerium und wurde Präsident der Harvard University bis 2006 um dann die folgenden zwei Jahre für den Hedgefond D. E. Shaw & Company als Berater zu arbeiten. Als dies 2009 bekannt wurde, Summers war gerade zum chief economic adviser für Barak Obama ernannt worden, spielte er diese Tätigkeit als „Nebenjob“ herunter. Larry Summers bezog für diese zwei Jahre "Nebenjob“ 5,2 Milionen $.[6]

Es könnten noch andere Namen genannt werden, welche die Verflechtung von Wissenschaft, Staat und Finanzindustrie illustrieren:

Martin Feldstein, Direktor des abgestürzten Versicherungsriesen AIG und AIGFinancialProducts von 1988- 2009. In seine Zeit fiel der Zusammenbruch des Konzerns durch credit default swaps, Feldstein war von 1982-1984 Vorsitzender des Council of Economic Advisers des amerikanischen Präsidenten und chief economic advisor von Ronald Reagan. Feldstein war 30 Jahre lang Präsident des National Bureau of Economic Research. Natürlich lehrt Feldstein trotzdem weiterhin Wirtschaftswissenschaften, und natürlich an einer der rennomiertesten Universitäten der Welt in Harvard, obwohl seine Theorien einige Wenige unglaublich reich und Zehntausende um alle Ersparnisse gebracht haben.

Frederic Mishkin, Mitglied des Direktoriums der Fed, der Zentralbank der USA von 2006-2008, seit 1983 Professor für Ökonomie an der Columbia Business School. Mishkin schrieb als Co-Autor eine Analyse über die Stabilität des Finanzsystems von Island. Der Auftraggeber war die isländische Handelskammer. Sie reagierte damit auf kritische Berichte über eben diese Stabilität. Mishkin erhielt für seine Studie, in der er Island eine kräftige ökonomische Basis bescheinigte 124.000 $. Zweieinhalb Jahre nach Mishkins Report kollabierte Island spektakulär.

Ebenfalls einen postiven Bericht über die starken und gesunden Banken Islands schrieb einer der berühmtesten Ökonomen Großbritanniens, Richard Portes, Professor der London Business School. Beauftragt und bezahlt von der isländischen Handelskammer.

Glenn Hubbard, von 2001-2003 ökonomischer Chefberater für George W. Bush, Berater von Mitt Romney in dessen Wahlkampagnen 2008 und 2012, Professor für Finanzen und Ökonomie an der Columbia University seit 1994, gleichzeitig Vorstandsmitglied in diversen Unternehmen der Finanzindustrie wie etwa der global agierenden Private-Equity-Gesellschaft KKR (Kohlberg Kravis Roberts & Co.), der Capmark Financial Corporation und anderen.

Natürlich hatte keiner dieser „Wissenschaftler“, die prächtig an der Praktizierung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse verdient haben, die Folgen ihrer Theorien und Handlungen vorhersehen können, bei denen Millionen Menschen weltweit ihre Arbeit, ihr Haus, ihre Altersvorsorge verloren haben. Der Erfolg war ja wissenschaftlich abgesichert. Dass es dafür keine Gegenstimmen in der wissenschaftlichen Welt gab und gibt, die sich gleich laut bemerkbar machen können, dafür sorgt das System. Auf der Konferenz des Institute of New Economic Thinking am 14./15. April in Berlin scherzte der Ökonom Leijonhuvwud über das universitäre System, dass die Professoren ihren Studenten die alten Lehren, etwa von der Rationalität der Marktteilnehmer, immer wieder erzählten, an die sie trotz der erwiesenen Untauglichkeit immer noch glaubten, "... bis die Studenten merken, dass sie ihren Abschluss erst machen können, wenn sie es ebenfalls glauben.“

Es gibt erste aufsehenerregende Rebellionen von Studenten in Harvard (Occupy Harvard) gegen das herrschende Dogma[7], und führende Wissenschaftler erregen in den USA und langsam auch in Deutschland Aufsehen mit ihren abweichenden Meinungen, wobei nicht nur die Financial Times Deutschland eine führende Rolle spielt.(Zumindest in der Gestalt ihres Chefökonomen Thomas Fricke).[8] Einen wichtigen Satz sprach der Direktor des von George Soros initiierten und wesentlich mitfinanzierten Institute of New Economic Thinking (INET): „Die ökonomische Wissenschaft wird erst frei sein, wenn sie sich unabhängig macht von den mächtigen Interessen der Welt“. Ein Aufruf zur Freiheit des Geisteslebens?

Anmerkungen

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