Die Rückkehr des Nazismus

01.10.2010

Obwohl das soziale Leben unleugbar das Produkt unserer Gefühle, Gedanken und Taten ist, stehen wir doch draußen. Undurchdringlich türmt sich vor uns das Chaos aus Wirtschaft, Staat und Kulturgespenstern auf. Rein affirmativ können wir zwar fassen: wir sind das selbst, die das da machen. Da wir unsere objektive Urheberschaft jedoch nicht auch bewusst mitvollziehen, vollzieht sich wie ein gewaltiges Naturschauspiel vor unseren Augen, was wir selbst bewirken. Wir kommen in die schizophrene Situation, dass wir nicht wollen, was wir doch zu verantworten haben, und nennen es „Krise“. Damit stehen wir heute vor der selben Erkenntnisgrenze wie unsere Groß- und Urgroßeltern, bevor sie Mörder wurden. Und wie sie neigen offenbar auch wir desto stärker dem Nazismus zu, je länger wir zögern, diese vermeintlich äußere Krise als Erkenntnisproblem zu fassen – und zu lösen. Als Symptom dieser Entwicklung zeigt sich gegenwärtig, dass im Gefolge der Finanzkrise die plumpe Nazi-Logik wieder salonfähig gemacht wird – nicht etwa von einer „unteren Schicht“, sondern von der „intellektuellen Elite“ Deutschlands.

Der öffentlich-rechtliche Nazi-Jargon

Das ZDF verkündete jüngst in seinen „Nachrichten“, dass 56% der Deutschen den Thesen Thilo Sarrazins zustimmten.[1] Zur Erinnerung: Thilo Sarrazin, das ist der SPD- Politiker und Vorstand der Deutschen Bundesbank, der einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Blut vermutet: Deutschland werde dümmer, weil die Ausländer fruchtbarer seien als die Deutschen. Laut Sarrazin ist also die höher entwickelte Kultur an das Erbmaterial einer Volksgruppe gebunden.[2] Das ist Adolf Hitler. Das ist die Grundannahme des Nationalsozialismus, zu der sich jetzt, 65 Jahre nach dem unfreiwilligen Ende des dritten Reiches, wieder 56% der Deutschen bekennen – wenn man dem ZDF glauben schenken mag.

Ob man den Umfragen der Meinungsmacher glauben darf, ist dieser Tage allerdings mehr als fraglich. Zu offensichtlich trifft Sarrazin die heimlichen Neigungen der „gebildeten“ Schicht auf den Sesseln vieler deutscher Redaktionsbüros. Gemeinschaftlich rollt die deutsche Presse den roten Teppich für den Trommler aus. Die Zeit etwa antwortet auf den Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, der entsetzt feststellte, „dass Herr Sarrazin mit seinen Äußerungen, mit seinem Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler wirklich eine große Ehre macht“,[3] mit dem Titel: „Sarrazin und Hitler? Der Zentralrat der Juden macht sich lächerlich.“[4] Der Spiegel ergreift in seinen Artikeln unverhohlen Partei für Thilo Sarrazin und druckt Auszüge seiner Hetzschrift. Focus lässt Thilo Sarrazins Thesen über das höherwertige Erbmaterial von einem „Intelligenzforscher“[5] bestätigen, und erteilt Wolfgang Clement das Wort, jenem SPD-Mann also, der in seiner Zeit als Arbeitsminister Arbeitslose als „Parasiten“ beschimpft hatte: „Die Meinung, die Sarrazin vertritt, ist nicht extrem. Er zeigt die Desintegration bestimmter Gruppen in Deutschland auf und macht Vorschläge zur Lösung ... Die in der Tat dummen Bemerkungen über jüdische und baskische Gene hat er längst öffentlich bedauert und ihr Zustandekommen mit einem Blackout begründet.“[6] Ein Blackout scheint auch das Problem des ersten deutschen "öffentlich- rechtlichen" Nachrichtensenders, der ARD, zu sein. Da fragt man sich nämlich: "Sarrazin weg - Integrationsproblem gelöst?" Die naiv-hinterhältige Frage ist typisch für die Art von unbeholfener Intellektualität, wie sie in den Bildungsanstalten, die Sarrazin so wichtig sind, konserviert wird. Dieser Intellektualität ist es allerdings zu eigen, dass sie kaum ihren irrationalen Nährboden überdecken kann. Wer dennoch die Botschaft des Staatssenders verpasst haben sollte, darf bei der unterkühlten Dame im schwarzen Kostüm aus der Tagesschau nachsitzen: „In der Debatte über Integration in Deutschland hat sich auch Bundesinnenminister Thomas de Maziere für eine sachliche Diskussion ausgesprochen" erfährt der Zuschauer etwa in den 20-Uhr-“Nachrichten“ am 05.09.2010. Und er wird gleich im nächsten Satz darüber aufgeklärt, was unter einer sachlichen Diskussion zu verstehen ist: "In der ARD Sendung „Bericht aus Berlin“ sagte er, Probleme wie Bildungsferne und mangelnder Aufstiegswille seien keine Frage der Religion, sondern eine Frage der Schichtzugehörigkeit". Die wenigsten Zuschauer werden verstanden haben, was de Maziere damit sagen will, dass er nämlich nicht nur nach Volksgruppen, sondern auch nach Ständen einteilt, denn man hat die Schlagworte "Bildungsferne" und "Schichtzugehörigkeit" noch im Ohr, als die ARD unmittelbar nach diesem Satz einen integrierten Türken sein Sprüchlein aufsagen lässt: "Nur wenn das Elternhaus mit der Bildungseinrichtung in die selbe Richtung marschiert, können unsere Kinder Erfolge erzielen" Sofort darauf der ARD-Kommentator: "Den Problemen in Neukölln ist mit freiwilligen Bildungsangeboten nicht beizukommen. Der Bezirksbürgermeister fordert verpflichtende Kita-Besuche bereits ab einem Jahr." Und dann nagelt der Bürgermeister den Sarg zu, allerdings nicht ohne sich dabei ordentlich auf die Finger zu klopfen: "Natürlich brauchen wir die Kindergartenpflicht ab dem ersten Lebensjahr, da gibt es z-z-zich Studien drüber (er stottert ausgerechnet bei der Nennung seiner „Quellen“), dass wenn die Kinder in die Schulen kommen, die Messen gesungen sind. Die Anlagen müssen geweckt werden, sie müssen herausgefordert werden, ihre Phantasie muss angeregt werden - das können sie nicht erwarten von Kindern in Elternhäusern, wo keiner Deutsch spricht und die Eltern Analphabeten sind." Also: Die Anlagen wecken, die Kinder herausfordern, die Phantasie wecken, das kann nur einer, wo Deutsch spricht. Der Kommentator darauf: "Im Bericht aus Berlin des ARD Hauptstadtstudios kündigt der Innenminister Sanktionen für Menschen an, die sich nicht integrieren wollen." Und dann darf der Innenminister der BRD doch noch beweisen, dass er nicht nur Fachmann ist für Schichtzugehörigkeit, sondern auch für Volkszugehörigkeit: " Wir haben vielleicht 10 - 15% wirkliche Integrationsverweigerer, um die müssen wir uns sehr kümmern - und das tun wir auch. Und das sollten wir verstärken!"

Der Innenminister der BRD will sich also verstärkt um "Integrationsverweigerer" kümmern. Der Staat zwingt die "Verweigerer", die das deutsche Erbgut zu verschandeln drohen, ihre einjährigen Babys in Erziehungsanstalten eben dieses Staates zu geben. Dieser Gedanke ist derart pervers, dass es einem die Sprache verschlägt. Dass ausgerechnet die Anstalten, in die der Staat die Kinder zwingen will, von der Pisa-Studie als Ursache dafür angegeben werden, warum Migranten in Deutschland deutlich weniger Bildungschancen haben als in anderen Ländern und sich somit schlechter integrieren können – wer will das dann noch wissen?

Vorhut Sprachzwang

Wenn Ausländer in Deutschland leben wollen, müssen sie erst mal Deutsch sprechen. Da sind sich mittlerweile fast alle einig. Aber warum müssen sie das eigentlich? Wer nachhakt, erfährt: "Damit die sich hier zurechtfinden". Es ist also nett gemeint. Es geht um das Wohl der Ausländer, man sorgt sich um sie, man wünscht ihnen, dass sie es weit bringen in Deutschland. Das Wörtchen "muss" drückt nach dieser Interpretation eine innere Notwendigkeit aus: wer Deutsch verstehen will, muss Deutsch verstehen. Logisch. Damit er zurecht kommt.

Da stellt sich dann aber doch eine nicht unerhebliche Frage: der Ausländer, was ist das für ein dummes Wesen, dass es nicht selber drauf kommt, was es braucht, um zurecht zu kommen in der Welt? Denn so muss es wohl sein - oder warum reden die Deutschen sonst darüber, dass diese Ausländer endlich mal Deutsch können brauchen müssen? Ich persönlich glaube: Ein Mensch mit „Migrationshintergrund“ ist grundsätzlich nicht mehr und nicht weniger in der Lage, selber die Maßnahmen zu ergreifen, die er im Leben fürs Zurechtzukommen braucht, als einer ohne. Wenn er die deutsche Sprache braucht, eignet er sich die deutsche Sprache an. Sonst wäre er ja blöd. Und wenn er sie nicht braucht, dann eignet er sie sich nicht an. Sonst wäre er ja noch blöder. Und insofern bliebe der deutsch-sprechenden Bevölkerung, ein freilassendes Angebot zu machen - wenn es sich bei der Integrationsdebatte wirklich darum handelte, dass sich die einen für die anderen wünschten, dass diese möglichst weit kämen in Deutschland.

Darum geht es aber nicht. Das Wörtchen „muss“ drückt nicht eine innere Notwendigkeit aus, sondern die Tatsache, dass die Mehrheit eben mehr an der Staatsgewalt beteiligt ist als die Minderheit und diese Gewalt nutzt, um die Minderheit zu zwingen. Es bezeichnet eine ganz äußere Gewalt. Der Staat soll dafür sorgen, dass die Minderheit die Sprache der Mehrheit annehmen muss, wenn sie in Deutschland leben will. Die Deutschen sorgen sich also nicht um die Ausländer, sondern um sich selbst – wobei sie allerdings nicht so genau wissen, wer oder was dieses selbst eigentlich ist.

Ist ein Deutscher jemand, der die deutsche Sprache spricht? Dann gehörte zum einen auch Österreich zu Deutschland. Zum anderen wäre aber unerklärlich, warum solche Sprach- Deutschen innerhalb eines Staatsgebietes nicht neben und mit Menschen leben können, die eine andere Sprache bevorzugen und in diesem Sinn „nicht-deutsch“ sind. Oder sollte „deutsch“ vielleicht die Tatsache bezeichnen, dass ein Mensch Bürger des Staates „Deutschland“ ist? Dann fragt sich, weshalb die Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft von der Sprache abhängig gemacht werden sollte. Es fragt sich insbesondere, warum in Deutschland 6,7 Millionen anders-sprechende das Gesetz mit derselben Härte zu spüren bekommen wie die deutsch-sprechenden, während sie gleichzeitig durch Ausschluss von der Wahl an der demokratischen Mitgestaltung dieses Gesetzes gehindert werden. Oder meint „deutsch“ gar das Blut? Man könnte es annehmen, wo doch der zugegeben wenig elegante Begriff „Ausländer“ durch den eleganteren Ausdruck „Mensch mit Migrationshintergrund“ ersetzt, bzw. ergänzt wurde. Wer hat nämlich keinen Migrationshintergrund, oder: wie weit muss man eigentlich den „deutschen“ Stammbaum zurückverfolgen können, um nicht als „Mensch mit Migrationshintergrund“ zu gelten?

Das Projekt Nazismus

Sarrazin ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass der SPD-Politiker vielen Menschen in Deutschland aus der Seele zu sprechen scheint. Dieses „aus der Seele sprechen“ für diejenigen, die ihre Intelligenz offenbar tatsächlich geerbt haben, ist das, was in Deutschland derzeit unter dem Arbeitstitel "Integrationsdebatte" zelebriert wird. Aber wieso ausgerechnet jetzt? Kein ausländischer Krimineller bietet sich derzeit als Sündenbock an. Die Zuwanderung ist seit Jahren rückläufig. Woher also plötzlich die gesteigerte Ausländerfeindlichkeit? Die Islamische Zeitung schreibt: „Man kann getrost davon ausgehen, dass es bei diesem Projekt nicht nur um die Rettung des deutschen Vaterlandes geht, sondern in erster Linie auch um die Rettung der Interessen der Vermögenden im Lande. Diese Interessen sind wie man weiß durchaus bedroht. So dürfen auf keinen Fall, besonders in den Zeiten sich nun ankündigender sozialer Entbehrungen, die Stützen der Gesellschaft selbst in das Visier des Volkszornes geraten... Das Sarrazin-Projekt versucht im Kern nichts Anderes, als das globale Freund-Feind Projekt gegen die neuen „Barbaren“ in die deutsche Innenpolitik zu projizieren. Neue Feindbilder und neue Ängste sollen dabei einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichen.“[7]

In der Geschichtsprüfung mussten wir als „mittelfristige“ und „kurzfristige“ Ursachen für den Nationalsozialismus die Korruption des Parlaments durch das Kapitalinteresse, die Wirtschaftskrise, den Zerfall der Weimarer Republik, die hohe Arbeitslosigkeit usw. benennen. Wir alle haben es gelernt: die soziale Not wuchs, also wurden die Deutschen Nazis. Die Masse einte sich in der Abgrenzung zu anderen oder vermeintlich anderen, während die Hauptverantwortlichen der Krise den Hass befeuerten oder wenigstens mitspielten, um sich selbst noch ein Weilchen halten zu können. Adolf Hitler als „Trommler“, den man sich „vor den Karren“ glaubte spannen zu können. Millionen Schüler haben diesen Zusammenhang aufgeschrieben, und millionenfach wurde er seitdem heraufbeschworen. Wieso ist uns der Gedanke jetzt entfallen, wo er sich doch durch die aktuellen Geschehnisse aufdrängt? Weil wir ihn ohne jeden wirklichen Inhalt gedacht haben. Wir haben unsere Geschichte so betrachtet, wie der Physiker die tote Natur betrachtet: äußerlich-distanziert. Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, Hunger – artig haben wir sie als ursächliche „Faktoren“ für den Aufstieg des Nationalsozialismus aufgereiht. Ausgeklammert haben wir dabei den Urheber und das Opfer all dieser Faktoren: die Menschen.

Die Täter

Äußerlich-distanziert betrachtet hat das Wort „Mensch“ keinen Inhalt. Der verdrängte Inhalt des Gedankens wird erst wieder sichtbar, wenn man den selben Gedanken, dass nämlich die soziale Not den Nationalsozialismus beflügelte, einmal anders formuliert, wenn man sich klar macht: Die Menschen in Deutschland wurden nicht fertig mit den Bedingungen, mit denen sie durch die Entstehung einer Weltwirtschaft rechnen mussten. Und ebenso wurden sie nicht fertig mit den neuen Forderungen, die sich aus ihrem Rechtsempfinden ergaben. Es zeigte sich überall, dass ihr Denken ohnmächtig war gegenüber der geänderten sozialen Realität. Sie versuchten zwar, den Brand mit Flickenteppichen aus überkommene Denkmustern zu ersticken. Gerade indem sie damit unweigerlich scheiterten, offenbarten sie, dass ihnen auf geistigem Gebiet die Mittel fehlten, um der neuen Zeit gerecht zu werden. Wenn man den Gedanken so formuliert, ist er ein Zugeständnis an die geistige Ohnmacht des modernen Menschen. Und das macht den Unterschied. Das Zugeständnis der geistigen Ohnmacht ist kein Leugnen der Tatsache, dass die Gesellschaft in Abhängigkeit von der innerlich-geistigen Betätigung des Menschen geraten ist, sondern vielmehr selbst das erste bewusste Erfassen dieser innerlich-geistigen Betätigung. Gerade da, wo der Mensch sich nicht fürchtet, die Grenze zu sehen, vor der seine besten Fähigkeiten wertlos werden, weil er mit ihnen doch nicht hinüberkommt über diese Grenze, erfasst er sich selbst in Tätigkeit. An der Erkenntnisgrenze wird die Erkenntnistätigkeit als selbstverantwortlicher Entwicklungsprozess begriffen. Und angesichts der Tatsache, dass die Menschen nicht über die geistigen Mittel verfügten, die sozialen Triebkräfte zu ergreifen und ihre Pervertierung im Nationalsozialismus abzuwenden, hätte dieses bewusste Erfassen des Erkenntnisprozesses der Inhalt der Schule der Nachkriegszeit werden müssen.

Dann wäre die Schule ein Ort geworden, an dem der Lehrer seine pseudo-wissenschaftliche Distanziertheit hätte ablegen und ein Zugeständnis machen können. Und der Schüler hätte empfinden dürfen: Vor einer Erkenntnisgrenze stehen, das ist menschlich. Es wäre eine reale Verbindung entstanden zwischen dem Schüler und seinen Vorfahren, die so entsetzlich gescheitert sind. Und von diesem Punkt aus hätte er nicht nur sehen können, dass die Gesellschaft heute an den selben Fragen zu scheitern droht, sondern er wäre unmittelbar als mitverantwortlicher Träger dieser Gesellschaft erwacht, weil sein soziales Gewissen stets zugleich ein Appell an die eigene Erkenntnistätigkeit geworden wäre. Er hätte verstanden: An einer Erkenntnisgrenze stehen, und vielleicht auch an ihr scheitern, ist menschlich. Die Erkenntnisgrenze aber ignorieren, ist unmenschlich.

Dies freilich hätte nur in einer Schule geschehen können, in der das „Wissen“ nicht wie eine Verordnung daherkommt, weil die Schule Teil des Staatsapparat ist. Es hätte eine Schule bedurft, in welcher der Lehrer nicht dem Staat, sondern ausschließlich seinen Schülern und deren Eltern verantwortlich ist – eine freie Schule. Niemals hätten die Schüler einüben dürfen: hinter dem Lehrer steht der Staat, der Lehrer hat Macht, also schreibe ich, was der Lehrer verlangt: X ist die Ursache für den Nationalsozialismus. Er hätte vielmehr erleben müssen: ein Gedanke, aufgeschrieben und gelernt, weil man weiterkommen will, hat gar keinen Inhalt. Das ist nicht meine Erkenntnis. Nicht im Auswendigkönnen der Ideen meiner Lehrer zeigen sich meine höheren Fähigkeiten, sondern in der Auseinandersetzung mit der Welt, im allmählichen Überwinden der Erkenntnisgrenze, die nur mir gesetzt ist.

Kulturkampf statt Nazismus

Die Schaffung echter Kulturräume, in denen nicht vermeintliches Wissen nachgeäfft werden muss, um etwas zu gelten im Schein der Intellektualität, sondern in denen umgekehrt die individuellen Erkenntnisgrenzen sichtbar werden dürfen, ist die notwendige Vorraussetzung dafür, dass Menschen Antworten auf das finden, was jetzt als Finanzkrise, Gerechtigkeitskrise und Kulturverfall in Erscheinung tritt. Die Schaffung freier Kulturräume ist aber auch gleichzeitig die einzige realistische Antwort auf die Fragen, die in der „Integrationsdebatte“ berechtigt sind. Wer nämlich wirklich von seiner Volkskultur begeistert ist, wird diese Kultur notwendig gegenüber anderen durchsetzen wollen. Insofern ist der Kulturkampf eine Realität des menschlichen Daseins. Die Frage ist nur, ob die Menschheit jetzt reif genug ist, den Kulturkampf friedlich zu führen. Das kann ihr jedoch nur gelingen, wenn der Staat nicht mehr mit dem kulturellen Sektor verschmilzt, wenn ausgeschlossen werden kann, dass sich das Gewaltmonopol mit einer der miteinander streitenden Kulturströmungen verbindet. Wer den Frieden will, strebt danach, den „Leitkultur“-Staat in einen Rechtsstaat zu verwandeln, der eben die Rechte eines jeden Menschen, ungeachtet seiner Kultur, wahrnimmt.

Wie auch immer das Zukunftsszenario aussehen mag, ob die Deutschen eines Tages die Sprache einer türkischen Mehrheit lernen, oder ob sie der Welt beweisen, dass der Nationalsozialismus erblich ist - für denjenigen, der anders als Sarrazin und seine Trommler irgendeinen Inhalt mit dem Wort „Entwicklung“ verbinden kann, gibt es in jedem Fall nur eines zu tun: Er muss alle Kräfte daran setzen, den Staat in einen Garant der Freiheit zu verwandeln. Er muss bei jedem Menschen eines jeden Volkes das Bewusstsein dafür wecken, dass nur diejenige Staatsverwaltung eine rechtmäßige ist, die jedem Individuum das gleiche Recht gewährt, seine Kultur zu leben, mit allem, was zu ihr gehört. Deshalb muss er gerade dann, wenn er noch an den Rechtsstaat glauben mag, überall den Staat aus der Kulturverwaltung hinausdrängen. Niemals darf in einem Rechtsstaat nach der Art, wie über Rechtliches entschieden werden muss, auch über Kulturelles entschieden werden. Denn während sich auf rechtlichem Gebiet die Mehrheit durchsetzen muss, müssen auf kulturellem Gebiet Mehrheit und Minderheit gleichberechtigt neben- und miteinander leben können. In einem solchen Rechtsstaat bleibt es einem Einzelnen unbenommen, eine Kulturströmung für wertvoller zu erachten als eine andere. Mag auch sein, dass sich Menschen finden, die das Attribut „deutsch“ mit einem kulturellen Erbe verbinden, das sie pflegen oder gar verbreiten wollen. So lange sie nicht die Staatsgewalt für die Durchsetzung ihrer Neigung einspannen können, wird daraus kein Nachteil für Menschen mit anderen Vorlieben entstehen. Sieht der Staat davon ab, eine besondere Kulturströmung zu vertreten, und macht dafür das allgemein-menschliche zu seinem Gebiet, wird Gleichheit das Prinzip des Staates. Auf der anderen Seite wird Freiheit das Prinzip der Kultur. Die Waffe des Kulturkampfes ist dann nicht die staatliche Gewalt, sondern das öffentliche Ausleben der jeweiligen Kultur. Erst dann wird sich auch zeigen, was die „deutsche“ Kultur wert ist, denn in einem friedlichen Kampf werden nur diejenigen Kulturströmungen bestehen, für die sich Menschen begeistern können. Wer jetzt den Staat gegen eine andere Kultur ins Feld führen will, wird dann nur noch die Wahl haben, entweder von der ungewollten Kultur aufgesogen zu werden, oder selbst etwas zu entwickeln, das den Namen Kultur verdient. Er wird begeistern müssen. Der Christ wird darauf vertrauen müssen, dass das Christentum auch da leben kann, wo Menschen nicht aus Zwang, sondern aus innerem Antrieb handeln. Der Liebhaber der deutschen Sprache wird seine Sprache so gut beherrschen müssen, dass sie anderen Menschen eine Freude wird. Der Verfechter irgendwelcher „Werte“ wird genötigt sein, seine Werte zu benennen. Dann kommt aber für diejenigen, die jetzt das Maul aufsperren, das große stottern...

Welche Sprache wollen wir sprechen?

Kürzlich besuchte ich eine Neuköllner Hauptschule, um dort für eine Veranstaltung zum Thema „Bildungsfreiheit“ zu werben. Zwei Jungs sprachen mich an, ein Türke und ein Serbe. Ich unterhielt mich ein wenig mit ihnen, beide sprachen ein gutes Deutsch. Plötzlich sagte der Türke, indem er auf seinen serbischen Freund deutete: „Der kann nicht deutsch sprechen, der kommt aus Jugoslawien. Aber ich kann schon gut Deutsch.“ Ich antwortete, indem ich mich zu dem jungen Serben wandte: „Du kannst ein so schönes Deutsch sprechen, und ich kann nicht einmal ein einziges Wort Serbisch. Stell Dir das mal vor. Nur weil Du Dir die Mühe gemacht hast, eine neue Sprache zu lernen, können wir beide uns jetzt unterhalten. Das finde ich toll von Dir!“ Die Kinder sahen mich verblüfft an. Dass ein Deutscher von ihnen nicht etwas einforderte, sondern umgekehrt ihre besondere Leistung anerkannte, hatten sie offenbar noch nicht erfahren.

„Es interessiert uns nicht, was Du im Leben erreichen willst. Wir sagen Dir schon, wohin Du gehen sollst. Wir wollen Dich nicht sehen und nicht hören. Sei still, sonst kommt die Polizei.“ Durch den Schein der gekünstelten „Debatte“ hindurch dringen diese Worte in die Seelen der Menschen, die sich aus fernen Ländern aufgemacht haben, um das Fleckchen Erde, das Deutschland genannt wird, zu bewohnen, zu bewirtschaften und mit ihrer Kultur zu bereichern. Ich habe große Achtung vor denjenigen, die sich dann trotzdem noch mit den in Deutschland beheimateten Kulturimpulsen verbinden können, ich habe große Achtung vor denjenigen, die trotzdem mit der ganzen Familie für das Gehalt einer einzigen Person Waren und Dienstleistungen für die Deutschen bereitstellen, wissend, dass ihnen die Abschiebung droht, sobald sie eines Tages nicht mehr arbeiten können, und ich habe eine ganz besondere Achtung vor denen, die sich trotz des Säbelrasselns der kulturlosen Preußen noch Kultur bewahren und sich auch die eigene Sprache nicht nehmen lassen. Tiefes Mitleid empfinde ich allerdings für die, die sich einschüchtern lassen, die sich zurückziehen, um dann von der deutschen Bildungsindustrie verwaltet zu werden.

Wie viele Deutsche haben die deutsche Kultur so tief erfasst, dass sie ihren wahren Wert kennen, dass sie auch wissen, was sie für andere Kulturen bedeuten kann? Und wie viele Deutsche begeistern sich für ihre Sprache so sehr, dass es ihnen eine Freude ist, einen anderen an ihrer Begeisterung teilnehmen zu lassen? Wer wirklich etwas verstanden hat von der deutschen Kultur und wem es ernst ist mit ihr, der schwätzt nicht über die Ausländer, sondern reicht ihnen eine Hand. Wenn der Intelligenzquotient der Deutschen bedroht ist, dann deshalb, weil sie überhaupt gar keinen Begriff ihrer Kultur mehr haben, weil sich selbst nur im Fremdeln als Deutsche fühlen können, weil der Begriff „deutsch“ erst in einer Entgegensetzung zu dem Begriff „türkisch“ einen scheinbaren Inhalt bekommt. Das ist der Untergang der deutschen Kultur, und es ist ein Hohn, dass ausgerechnet diejenigen, welche die deutsche Kultur ruinieren, sich auf diese Kultur berufen – eine Kultur, deren bedeutendster Vertreter aussprach: „Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein. Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, das in ihnen liegt.“ (J.W.Goethe)

Anmerkungen

  • [1] ZDF, Heute Sendung vom 10.09.2010, siehe hier: http://politbarometer.zdf.de/ZDFde/inhalt/29/0,1872,8109053,00.html?dr=1
  • [2] Vergl. Nachdenkseiten am 24.10.2010, http://www.nachdenkseiten.de/?p=6572, und ef- magazin am 03.10.2009, http://ef-magazin.de/2009/10/03/1534-volksverhetzung-das-hat- sarrazin-wirklich-gesagt
  • [3] Der Westen am 09.10.2010, http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/Sarrazin-macht- Hitler-eine-grosse-Ehre-id4361.html
  • [4] Jörg Lau in Zeit-Online am 09.10.2009, http://blog.zeit.de/joerglau/2009/10/09/sarrazin- und-hitler-der-zentralrat-der-juden-macht-sich-lacherlich_3116
  • [5] Focus am 27.08.2010, http://www.focus.de/wissen/bildung/tid-19642/intelligenzforscher- sarrazin-zu-beschimpfen-fuehrt-nicht-weiter_aid_545902.html
  • [6] Focus am 07.09.2010, http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-19729/wolfgang- clement-der-umgang-mit-sarrazin-ist-unwuerdig_aid_549335.html
  • [7] Islamische Zeitung am 25.08.2010, http://www.islamische-zeitung.de/?id=13651

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