Sozialkompetenz durch Abgabe politischer Kompetenz

20.04.2001

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beklagt einen "schleichenden Bedeutungsverlust" des Parlaments. Für diese "beunruhigende" Entwicklung gebe es eine "Reihe von Symptomen", sagte Thierse in einem Interview der "Stuttgarter Zeitung". So werde durch die Globalisierung der Vorrang des Ökonomischen vor der Politik immer deutlicher. Aber auch die Medien hätten Anteil an dieser Entwicklung. Wichtige Debatten fänden zunehmend in politischen Talkrunden im Fernsehen statt, lange bevor die Politiker sich zu den Fragen im Parlament äußerten. Auch Konsensrunden, wie etwa das Bündnis für Arbeit, oder die Atomkonsensrunde minderten den Einfluss des Parlaments, auch wenn die dort getroffenen Entscheidungen letztlich zur Beschlussfassung in den Bundestag kämen, sagte Thierse. Besorgt sei er auch über die zunehmende Übertragung quasi-gesetzgeberischer Aufgaben an das Bundesverfassungsgericht. Das Verhältnis zwischen gesetzgeberischer und rechtsprechender Gewalt müsse deshalb möglichst rasch neu diskutiert werden. Thierse plädierte für eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre. Voraussetzung sei allerdings die Verankerung neuer plebiszitärer Elemente in der Verfassung.

Dieser Wandel ist nicht bedenklich, sondern erfreulich. Wenn das Parlament als Medium zur Austragung von Partei- und Gesellschaftsinteressen nicht länger hoch im Kurs steht und Interessen sich in der Öffentlichkeit artikulieren und eine Basis für die Synthese von Interessen bieten, ist das nur ein gesunder Gesellschaftsbefund. Aber Thierse hat Recht: Die Verhältnisse müssen neu diskutiert werden. Dass das Parlament dort an Terrain verliert, wo es eigentlich nichts zu suchen hat, sollte eine Verlagerung von Kompetenzen mit sich führen. Ob dabei das Verfassungsgericht als Hüter der geistigen Grundwerte dieser Gesellschaft aus reiner Jurisprudenz heraus diese Rolle wahrnehmen kann und sollte, ist in der Tat die Frage. Eine solche Korrektur und Lenkung der Politik, die jetzt vom Verfassungsgericht ausgeht, sollte vom freien Geistesleben kommen.