Politischer Zugzwang einer Großsekte

15.05.2001

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, sagte in einem Gespräch anlässlich seines 65. Geburtstages: "Wir müssen ein lebendiges Element bei der Fortentwicklung unserer Gesellschaft sein, mit neuen Ideen und Impulsen und ständig der Gefahr widerstehen, uns anzupassen." Ein Rückzug aus der Gesellschaft wäre nach Ansicht Lehmanns völlig falsch. "Auch wenn sie (die Kirche) Minderheit würde, kann und muss sie volkskirchliche Elemente beibehalten. Wir können uns nicht zurückziehen in eine Nische und uns abkoppeln von der gesellschaftlich-politischen Gestaltungsaufgabe. Dann würden wir, um es mit einem schlechten Wort zu sagen, zu einer Art Sekte." Die Kirche dürfe sich auch nicht zurückziehen auf eine bestimmte Gruppe von Gläubigen, den bürgerlichen Mittelstand, sondern genauso Arme und Reiche ansprechen. "Kirche ist nicht mehr Kirche, wenn sie nicht ganz konkret für alle da ist. Und deshalb müssen wir wissen, wo den Leuten der Schuh drückt; wir müssen dies auch öffentlich thematisieren. Davon hängt entscheidend ab, ob wir Volkskirche sind oder nicht." In die Diskussion um die Bioforschung und Gentechnologie - "eine der wichtigsten Debatten in den kommenden Jahrzehnten" - will die katholische Kirche ihre klare Position "vernehmlich" einbringen, sagte Lehmann. Sie orientiere sich an der Heiligkeit des Lebens. "Wir müssen darauf achten, dass wir bei den politischen Verantwortlichen, aber auch in der Wissenschaft - und das gilt dann natürlich auch für die Medien, - eine ethische Sensibilität ausbilden helfen, mit der man schon von Anfang an die Fragen und Sachverhalte herangeht", umriss Lehmann die Zielsetzung der Kirche. Lehmann begrüßte es, wenn es über die Diskussion im Nationalen Ethikrat, aber auch an anderen Orten zu einem intensiven Diskurs über Menschsein und Menschenwürde auch im vorgeburtlichen Stadium komme.

Nach Lehmann wären alle nicht-politischen Glaubensgemeinschaften, alle nicht-Staatskirchen, Sekten. Es ist vor diesem Hintergrund klar, warum es der katholischen Kirche ein großes Anliegen ist, Mitgestalter der Gesellschaft zu sein. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft können die katholischen oder protestantischen Landeskirchen das Prädikat Sekte unter den rein geistig orientierten religiösen Gemeinschaften beliebig verteilen.

Für dieses gravierende Missverhältnis, dass Großkirchen auf die Politik Einfluß nehmen, und rein sakrale Gemeinschaften zu Sekten abstempeln können, gibt es überhaupt kein grundsätzliches Bewußtsein. So reichte die Glaubensgemeinschaft "Universelles Leben" vor Monaten eine Verfassungsklage in Karlsruhe ein. Der Verein "Universelles Leben" sieht sich selbst verfolgt und wirft den Kirchen und Sektenbeauftragten vor, ihre "Meinungsführerschaft dazu zu benützen, religiöse Minderheiten mundtot zu machen". Durch deren scharfe Kritik, die über Rufschädigung hinaus gehe, würden sogenannte Sekten gesellschaftlich ausgegrenzt, wirtschaftlich benachteiligt und religiös unterdrückt, was einer Volksverhetzung gleichkomme.

Das Verfassungsgericht entschied am 18.04.2001, dass diese Verfassungsklage nicht zur Entscheidung angenommen wird, aufgrund fehlender grundsätzlicher Bedeutung!!

Es ist auch keine Wunder, dass Karl Lehmann eine intensive Diskussion über Ethik begrüßt. Auch hier üben die Großkirchen eine Art Monopolstellung aus, die angesicht der fachlichen Inkompetenz der Politiker um so größer ist. Beim Ethikrat sind die Großkirchen selbstverschrieben und können quasi eigene Mitglieder ernennen, wie die nachträgliche Berufung des Moraltheologen Eberhard Schockenhoff als 24. Mitglied des Nationalen Ethikrats am 15.05.2001 auf Druck Karl Lehmanns hin zeigt.

Die Ethikdebatte den Großkirchen und Politikern zu überlassen, ist aber ein großes Unglück. Die einen predigen Individual-Ethik, die anderen Wirtschaftsethik, wie es Gerhard Schröder in einer Rede am 18.05.2001 tat. Es ist klar, dass ethische Regelungen ins demokratische Rechtsleben gehören, aber unser jetziges Parlament und seine verkappten Räte und Ausschüsse sind dazu nicht in der Lage. Nur die Kräfte der Zivilgesellschaft sind in der Lage, dieses Thema zu behandeln und eine demokratisch-rechtliche Bestätigung durch alle mündigen Menschen einzuholen.