Benes-Dekrete werden wissenschaftlich rein gewaschen

13.06.2002

Die tschechische Regierung hat am 12.06.2002 ihr mit Spannung erwartetes Buch "Geschichte verstehen" über die deutsch-tschechischen Beziehungen zwischen 1848 und 1948 veröffentlicht. Das in einer Auflage von 25 200 Exemplaren gedruckte Buch, das in Bibliotheken und Schulen ausliegen und ins Deutsche übersetzt werden soll, war von einem tschechischen Historiker-Team als Reaktion auf den Streit um die Benes-Dekrete zusammengestellt worden.

Angesichts der Äußerungen mehrerer Mitglieder der Prager Regierung, die in der vergangenen Wochen betont haben, die damalige Vertreibung sei eine richtige Reaktion auf den Kriegsverlauf gewesen, sind wissenschaftliche Stellungnahmen willkommen. Das politische Auftragswerk bringt aber keine Tabubrücke, wohl aber wird die These der Kollektivschuld im Buch nicht bestätigt und hier als eine tschechische, "moralische Sollbruchstelle" gehandelt.

Welchen wissenschaftlichen Wert dieses Werk hat, ist höchst fragwürdig. Das Werk hat wohl viel eher einen historischen Wert als Quelle zur Studie der tschechischen Mentalgeschichte, auf Grund seiner intentionalen Verankerung, obwohl der beteiligte Historiker Vaclav Kural beteuert, es habe seitens der Regierung keinen Druck gegeben, Ereignisse in einer bestimmten Weise darzustellen.

Wenn die größte Leistung des Buches ist, mit der Kollektivschuld abzurechnen, stellt das allein ein Armutszeugnis aus. Der einzigste Grund für die politisch Korrekten in Tschechien, der Kollektivschuld abzulehnen ist, dass es auch etwa 93 000 sudetendeutsche Sozialdemokraten und Kommunisten gab, die sich loyal zur Tschechoslowakei verhalten haben. Die Schuld des ganzen Rests steht außer Frage. Damit wird den Sudentendeutschen eine 99 %ige Schuld zugewiesen.

Daß die Tschechoslowakei auf Wilsons und der Entente Sand gebaut war, wird ausgeblendet. Das Buch erhebt im Titel den Anspruch die ganze Vorgeschichte, angefangen von 1848, zu liefern, aber etwa zwei Drittel der rund 300 Seiten befassen sich mit der Vertreibung der Sudetendeutschen und der vorangegangenen Besetzung des Landes durch Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs, - also die Geschichte nach 1938. Das Buch meint auch, einen "mehrheitlich fehlenden Willen der Minderheit zur Eingliederung" dokumentieren zu können, und gießt damit Wasser auf die Mühlen von Leuten wie Zeman, die die Vertreibung als Voraussetzung für den inneren Frieden in Tschechien sehen. Ganz befremdlich muten Sätze, wie "Der Transfer war Ergebnis deutscher Politik" und "Die Abschiebung lässt sich nicht interpretieren als Vergeltung der Sieger" an. Fragen der Moral und der eigenen Verantwortung bleiben weitgehend unberücksichtigt.

Hier befinden sich die Autoren kaum auf der Höhe der Forschung. Der renommierte Prager Historiker Jan Kren erklärte erst jüngst, dass es bereits 1938 "Vertreibungs-Gedankenspiele" von Benes gegeben habe. Eine differenzierte Bewertung der schwierigen Amtszeit des damaligen Präsidenten, der sich während des Zweiten Weltkrieges im Londoner Exil befand, hätte dem Buch gut getan. Allein für einen solch zynischen Satz wie "Endlich ein Weihnachten ohne Deutsche" (1945) hätte Benes trotz allen Verständnisses mit dem heutigen Abstand Kritik verdient.

Solche politischen Bücher rauben der Bildungsfreiheit und der freien Forschung die Grundlage. Die Schäden sind schon in der Person des tschechischen Ministerpräsident Milos Zeman zu sehen. Er hält an seiner Bezeichnung der Sudetendeutschen als "Hitlers Fünfter Kolonne" fest, weil dies sein Bildungsniveau ist. "Ich bestehe absolut auf dieser Äußerung (...) und habe immer einer unzweideutigen Sprache Vorrang gegeben", sagte er in einem am 13.06.2002 veröffentlichten Interview der Prager BBC-Redaktion. "Ich habe in den vergangenen 20 Jahren viel über den Zweiten Weltkrieg gelesen und weiß, dass ich mich nicht (mit der Äußerung) auf dünnes Eis begebe", sagte der Sozialdemokrat.

Das sichere Eis auf den sich Zeman bewegt, ist das Tiefgefrorene Geistesleben des Stalinismus, und ein Prager Frühling des Geisteslebens ist nicht in Sicht, was die jüngsten Wahlen zeigen: Zeman weiß sehr wohl, dass er mit solch ignoranten Verbalausfällen nicht durchbricht.