Fortschritt der Freiheit durch Rückschritt der Geschichte

Quelle: GA 073, S. 091-094, 2. Ausgabe 1987, 07.11.1917, Zürich

Das sind solche unmittelbaren Beweise, daß, wenn man gewissermaßen aus dem Anschauen oder Erträumen der wahren geschichtliche Impulse heraus sich begibt in das Betrachten nur der besonderen äußeren Tatsachen, es dann ist, wie wenn man aus dem wachen Bewußtsein einschläft und nicht mehr sieht, was als Wachsendes, Gedeihendes, als dasjenige, was den Menschen wirklich vorwärts bringt, die Geschichte durchpulst. Durch die Erkenntnis dieses Wachsenden, Gedeihenden, wird aber auch die Geschichte herausgehoben aus aller bloßen Naturkausalität. Dadurch, daß man sie geisteswissenschaftlich betrachtet, wird die Geschichte heraufgehoben zum Range einer Wissenschaft, so daß man sagen könnte: Was Lessing in seiner "Erziehung des Menschengeschlechts" geahnt hat, was er noch, verzeihen Sie den Ausdruck, unbeholfen und auch unrichtig, illusorisch ausgesprochen hat, das wird erst auf eine sichere Grundlage gestellt; während die äußeren Tatsachen keinen Zusammenhang zeigen. Dasjenige, in dem die Menschenseele lebt, träumend lebt, das wird ein fortlaufend organisch-geistiges Leben, aber ich meine ein Geistesleben, wenn es geisteswissenschaftlich als der Inhalt der Geschichte betrachtet wird.

Und dann kommt man allerdings auch darauf, wie der gewöhnliche Betrachter dadurch getäuscht wird, daß er dieses Werden in der Geschichte wie einen Organismus betrachtet. Dadurch, daß man es wie einen Organismus betrachtet, muß man es oft vergleichen mit dem Werden des einzelnen Menschenlebens [...]. Und so wird oft die fortlaufende Geschichte vorgestellt durch Analogie mit dem Menschen. Das ist die Quelle für eine starke geschichtliche Illusion [...]. Man kann schon dasjenige, was in einem solchen Zeitraum, der sich als Ganzes darstellt, lebt und darin beobachtet werden kann, vergleichen mit den Perioden im Menschenleben. Aber man muß dann merkwürdigerweise den Verlauf des geschichtlichen Werdens, so sonderbar das klingt, nicht vergleichen mit dem Werden vom Säugling durch das Kind, durch den Jüngling zum Mann, sondern umgekehrt [...]: Wie das Kind, das noch jung ist, lernt von dem Älteren, der vielleicht dasjenige, was das Kind in einer späteren Form aufnimmt, noch instinktiver in sich verarbeitet hat - wir lernen ja immer von denjenigen, die wieder selber in der Kindheit gelernt haben -, so ist es auch in den aufeinanderfolgenden Zeitaltern beim Bewußtseinsübergang von einem Zeitalter zu einem anderen Zeitalter; und dieser Verlauf der Geschichte wird selber eine Bewußtseinserscheinung, die allerdings im Traumesleben abläuft. Wir haben es nicht zu tun im Lessingschen Sinne mit einer Erziehung des Menschengeschlechts, die so verläuft: von der Kindheit durch das Jünglings- und Mannesalter zum Greisenalter, sondern wir haben es im Gegenteil mit einer rückläufigen Erziehung des Menschengeschlechts zu tun. Und gerade durch diese rückläufige Erziehung kommt das in das geschichtliche Werden hinein, was man als einen Fortschritt bezeichnen kann. Weil der Mensch als Seele in späteren Zeitaltern gleichsam jünger an solche Dinge herantritt als in früheren Zeitaltern, entwickelt er auch einen größeren Grad von Freiheit, einen größeren Grad von Unbewußtheit, Kindhaftigkeit gegenüber seinen Mitmenschen, wodurch Alles, was gewöhnlich als Fortschritt bezeichnet wird, in die Weltentwicklung hineinkommt.