Deutsche nicht veranlagt, politische Einheit zu bilden

Quelle: GA 185a, S. 101-102, 2. Ausgabe 1963, 16.11.1918, Dornach

Ein Verständnis fehlt des ganz und gar unnationalen Wesens der Deutschen, die für Europa der Sauerteig waren, aber niemals irgendein nationales Wesen oder irgend etwas national Aggressives überhaupt gehabt haben. Das liegt nicht in dem deutschen Grundcharakter, es ist aufgepropft von verschiedenen Seiten her. Dieses Deutsche hatte nichts Besonderes zu tun, weder mit dem Hause Habsburg, von dem es unterjocht war, noch mit dem anderen Herrscherhaus, und es ist kein Grund, das deutsche Wesen damit zu verwechseln. Das aber geschieht in der Welt, und das geschieht, kann man sagen mit einer gewissen Wonne. Das geschieht auch von Völkern, denen wahrhaftig kein Hindernis entgegenstand, sich als Einheit zu fühlen, vielleicht nur mit Ausnahme einiger Splitter, die ihnen entrissen worden sind. Aber man sollte die Hauptsache nicht vergessen: Das, was deutsches Volk ist, war nie eigentlich dazu veranlagt, irgendeine Einheit zu bilden. Es würden die allerbesten Eigenschaften verlorengehen, wenn die Deutschen so leben wollten, daß sie eine abstrakte Einheit, eine Volkseinheit bilden würden. Natürlich, unter dem Einflusse mancher europäischer Impulse haben unorganisch - zum Beispiel bei Goethe nie, aber bei anderen - gewisse Einheitsbestrebungen, wie sie in Italien waren, auch innerhalb des deutschen Volkes gelebt. Sie waren stark vom Jahre 1848 bis in die fünfziger, sechziger Jahre hinein. Aber das ging immer parallel vor allen Dingen mit einer Sehnsucht des deutschen Wesens, sich in die Welt hineinzuversenken. Und das ist erreicht worden in einer ganz besonderen Ausdehnung [...].

Man darf natürlich nicht vergessen, daß auch alle möglichen anderen Dinge, die nicht aus dem deutschen Volkstum heraus sind, hereingespielt haben. Auf die Albernheit will ich gar nicht eingehen, die Deutschtum verwechselt mit etwas, was so undeutsch ist wie möglich, mit dem Alldeutschtum, wie man es gewohnt worden ist zu nennen. Nun, es ist eben eine Albernheit, deutsches Wesen am Alldeutschtum messen zu wollen. Anders kann man das nicht sagen. Aber wenn doch irgendeinmal Bestrebungen aufgetaucht sind, daß so etwas zustandekommen sollte wie eine deutsche Einheit, was ja ohnedies nicht sehr lange wirksam gewesen wäre - ja, studieren Sie einmal die Geschichte von 1866 bis 1870, was in Frankreich dazumal gesagt worden ist zu der erstrebten deutschen Einheit! Die konnte man nicht vertragen, die wollte man auf keinen Fall haben.

Das sind schon Dinge, die die Frage auftauchen lassen: Warum eigentlich wird denn über deutsches Wesen so viel geschimpft? - Und da ist ein Quell von Unwahrhaftigkeit in der Welt, der ganz furchtbar ist, und der der Ausgangspunkt sein wird von wirksamer Unwahrheit. Aber dasjenige, was deutsches Wesen ist und was in einer gewissen Weise unorganisch gegliedert war seit dem Jahre 1871, das wird doch seine Aufgabe in der Welt haben, wenn es auch heute ein Greuel ist für viele Menschen, von der Aufgabe des deutschen Wesens zu sprechen.