Geschichte macht als Organismus Sprünge

Quelle: GA 194, S. 172-174, 3. Ausgabe 1983, 12.12.1919, Dornach

Die schlafenden Seelen von heute werden ganz gewiß entzückt sein, wenn da oder dort irgend jemand auftritt und so malen kann wie Raffael oder wie Leonardo. Das ist begreiflich. Aber wir müssen heute den Mut haben zu sagen, nur derjenige hat ein Recht Raffael und Leonardo zu bewundern, der weiß, daß heute nicht so geschaffen werden kann und darf, wie Raffael und Leonardo geschaffen haben.

Schließlich kann man etwas sehr Philiströses sagen, um das zu veranschaulichen: Nur derjenige hat ein Recht heute, die geistige Tragweite des pythagoräischen Lehrsatzes anzuerkennen, der nicht glaubt, daß der pythagoräische Lehrsatz heute erst entdeckt werden soll. Ein jegliches Ding hat seine Zeit, und aus der konkreten Zeit heraus müssen die Dinge begriffen werden.

Man braucht heute tatsächlich mehr, als manche Leute aufbringen möchten, wenn sie sich auch irgendeiner geistigen Bewegung anschließen: man braucht heute die Erkenntnis, daß wir vor eine Erneuerung des Daseins der Menschheitsentwickelung uns stellen müssen. Es ist billig, zu sagen, unsere Zeit ist eine Übergangszeit. Jede Zeit ist eine Übergangszeit, es kommt nur darauf an, daß man weiß, was übergeht. Also diese Trivialität möchte ich nicht aussprechen, daß unsere Zeit eine Übergangszeit ist, aber das andere möchte ich sagen: Immerfort spricht man davon, die Natur und das Leben machen keine Sprünge. Man ist sehr weise, wenn man das ausspricht: Sukzessive Entwickelung, nirgends Sprünge! - Nun, die Natur macht fortwährend Sprünge. (Es wird gezeichnet:) Sie bildet stufenweise aus das grüne Laubblatt, sie bildet es um zum andersartigen Kelchblatt, zum farbigen Blumenblatt, zu den Staubgefäßen, zum Stempel.

Die Natur macht fortwährend Sprünge, indem sie ein einzelnes Gebilde bildet; das größere Leben macht fortwährend Umschwünge.

Wir sehen im Menschenleben, wie sich mit dem Zahnwechsel ganz neue Verhältnisse einstellen, wie sich mit der Geschlechtsreife ganz neue Verhältnisse einstellen. Und würde die Beobachtungsgabe der gegenwärtigen Menschen nicht so grob sein, so würde man um das zwanzigste Jahr herum eine dritte Epoche und so weiter, und so weiter im Menschenleben wahrnehmen können.

Aber auch die Geschichte selbst ist ein Organismus, und solche Sprünge finden statt. Man geht an ihnen vorüber. Die Menschen haben heute kein Bewußtsein davon, welch bedeutungsvoller Sprung geschehen ist um die Wende des 14. und 15. Jahrhunderts, oder eigentlich in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber dasjenige, was sich damals eingeleitet hat, das will in der Mitte unseres Jahrhunderts sich erfüllen. Und es ist wahrhaftig keine Spintisiererei, sondern etwas, was sich allen exakten Wahrheiten an die Seite stellen kann, wenn man davon spricht, daß die Ereignisse, die die Menschheit so bewegen, und die solche Kulmination in der letzten Zeit erlangt haben, hintendieren nach etwas, das man wirklich herausfinden kann als sich vorbereitend und als stark hereinbrechend in die Menschheitsevolution für die Mitte dieses Jahrhunderts. Auf solche Dinge muß derjenige eingehen, der nicht aus irgendwelcher Willkür heraus Ideale für die Menschheitsentwickelung aufstellen will, sondern der mit den schaffenden Kräften der Welt Geisteswissenschaft finden will, die dann auch einlaufen kann in das Leben.