Nicht nur negative Freiheit vom Staat, sondern positive Freiheit des Geisteslebens

Quelle: GA 337b, S. 260-261, 1. Ausgabe 1999, 08.04.1921, Dornach

Es ist ganz richtig von unserem Freund van Leer hervorgehoben worden, daß dasjenige, was in bezug auf freies Geistesleben im Zusammenhange mit der Dreigliederung des sozialen Organismus zu vertreten ist, daß das für die verschiedensten Gebiete in verschiedenster Weise behandelt werden muß. Allein, das muß dann auch wirklich so geschehen, daß die Behandlungsweise für die betreffenden Territorien wirklichkeitsgemäß passe auf diese Territorien. Ich selber werde immer darauf hinweisen, daß zum Beispiel für England es notwendig sein wird, die Dinge in der Art vorzutragen, die eben gerade auf die englischen Zivilisationsverhältnisse paßt. Allein, man darf nicht übersehen, daß man gründlich durchschauen muß, was Einbildung ist gegenüber den großen Menschheitsfragen in der Gegenwart und was Wirklichkeit ist. Man darf also nicht etwa die Sache so vertreten, daß man den Glauben hervorruft, daß das englische Geistesleben freier ist als das andere. Und Sie werden sehen, wenn Sie wirklich die «Kernpunkte» durchgehen, daß da ja weniger Wert auf das negative Moment - Befreiung des Geisteslebens vom Staate -, daß viel weniger darauf Wert gelegt wird als auf die Begründung eines freien Geisteslebens überhaupt. Und da wird es immer ein gutes Wort bleiben: daß es auf den Menschen ankommt, daß es wirklich darauf ankommt, aus welchen geistigen Grundlagen der Mensch hervorgeht, welche geistigen Grundlagen zu seiner Bildung geschaffen werden. Nicht so sehr handelt es sich darum, daß man das negative Moment betont, sondern das positive ist zu betonen. Und ich brauche ja nur das zu sagen: Wenn formal das Geistesleben befreit würde von dem staatlichen Zwange und alles bliebe sonst im übrigen beim alten, so würde die Befreiung vom Staate nicht sonderlich viel nützen können.

Es handelt sich darum, daß positiver Geist, so wie er hier in dieser Woche vertreten sein wollte, wie versucht wurde, ihn zu vertreten, daß dieser freie Geist in das Geistesleben international hineingebracht werde. Und dann werden sich die Dinge ergeben, wie sie sich ergeben sollen. Es handelt sich wirklich zum Beispiel bei der Waldorfschule nicht allein darum, daß sie eine wirklich freie Schule ist, daß sie nicht einmal einen Direktor hat, sondern daß das Lehrerkollegium eine wirklich repräsentative Gemeinschaft ist. Es handelt sich nicht darum, daß alle Maßnahmen so getroffen werden, daß «nichts anderes» spricht als dasjenige, was aus dem Lehrerkollegium selber hervorgeht, daß man also hier wirklich «eine unabhängige Geistesgemeinschaft» hat, sondern es handelt sich auch darum, daß in allen Ländern dasjenige Geistesleben fehlt, von dem hier die ganze Woche gesprochen worden ist. Und wenn man irgendwo betonen hört, «daß ja das Geistesleben hierzulande frei ist» - ich meine jetzt nicht die Schweiz, ich spreche von England -, so ist das eben die andere Frage. Und dieses Positive vor allen Dingen ist es, auf das es ankommt. Da muß dann hervorgehoben werden: Das wird es natürlich nur geben, wenn man versucht, tatsächlich auf die konkreten Verhältnisse in den einzelnen Ländern und Territorien einzugehen.