Statt zu verhungern, Größe der Assoziation regulieren

Quelle: GA 330, S. 201-204, 2. Ausgabe 1983, 16.05.1919, Stuttgart

Der eine Boden, auf dem schaffen will der dreigliedrige soziale Organismus, ist der Wirtschaftsboden. Die verehrten Zuhörer, welche frühere Vorträge von mir gehört haben, werden wissen, daß es sich hier darum handelt, diesen Wirtschaftsboden so zu gestalten, daß auf ihm selbst verschwindet das sogenannte Lohnverhältnis, daß die Regulierung von Art und Zeit und dergleichen der menschlichen Arbeitskraft aus dem Wirtschaftskreislauf abgeschoben und in den Rechtsstaat hineinversetzt wird, auf dem entschieden wird über Zeit, Art und Maß der menschlichen Arbeitskraft. Auf dem Wirtschaftsboden bleibt fernerhin dasjenige, was zur Offenbarung kommt in der Wirklichkeit als Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsumtion. Auch das werden Sie aus den früheren Vorträgen entnommen haben, daß es sich für das Wirtschaftsleben handelt um eine solche Organisierung, die in Assoziationen besteht, hauptsächlich in solchen Assoziationen, welche gemeinsam regeln die Konsumtionsverhältnisse und die Produktionsverhältnisse. Es ist oftmals gesagt worden von sozialistischer Seite: In der Zukunft kann nicht produziert werden, um zu profitieren, sondern es muß produziert werden, um zu konsumieren. Da ist es eine Selbstverständlichkeit, daß das, was keine bewußte Rolle im Wirtschaftsprozeß selbst bisher in erheblichem Maße gespielt hat, in den Vordergrund der wirtschaftlichen Arbeit tritt: das Konsuminteresse. Es werden sich Genossenschaften bilden müssen, in denen vertreten sind ebenso das Konsuminteresse wie das davon abhängige Produktionsverhältnis. Bei diesen Genossenschaften wird es hauptsächlich darauf ankommen, innerhalb der praktischen Arbeit immer herauszufinden, wie groß eine solche Genossenschaft sein muß. Die Größe einer solchen Genossenschaft kann sich nicht aus den Grenzen der Staatsgebilde, welche im Laufe der neueren Geschichte entstanden sind, ergeben - aus dem einfachen Grunde, weil diese Staatsgebilde zu geschlossenen Verwaltungskörpern aus noch ganz anderen Rücksichten heraus entstanden sind als aus den Produktions- und Konsumtionsverhältnissen, und weil andere Grenzen sich ergeben, sobald die Menschen sich in bezug auf Konsumtions- und Produktionsverhältnisse sozial so zusammenschließen, daß durch die Regelung der Produktions- und Konsumtionsverhältnisse jener gegenseitige Wert der Waren herauskommt, der für die breitesten Volksschichten eine gesunde Lebenslage möglich macht.Man wird, indem man sich solchen Aufgaben widmet, zu einer wirklichen Wirtschaftswissenschaft aufsteigen müssen, allerdings zu einer Wissenschaft, die nicht aus den Fingern gesogen werden darf, auch nicht aus subjektiven Menschenerfahrungen, sondern aus den Erfahrungen des gemeinsamen Wirtschaftslebens heraus. Man wird innerhalb dieser Erfahrungen beobachten müssen, wie zu kleine Genossenschaften dahin führen, daß die Angehörigen dieser Genossenschaften in bezug auf ihre wirtschaftliche Lage verkümmern müssen; zu große Genossenschaften müssen ebenso dazu führen, daß Verkümmerung eintritt in dem wirtschaftlichen Leben, das durch die Genossenschaften versorgt wird. Wenn man einmal das diesbezügliche Gesetz, welches ja dem Wirtschaftsleben zugrunde liegt, klar erkennen wird, dann wird man es mit folgenden Worten aussprechen: Zu kleine Genossenschaften fördern das Verhungern der Teilnehmer dieser Genossenschaften, zu große Genossenschaften fördern das Verhungern der anderen im wirtschaftlichen Leben mit diesen Genossenschaften verbundenen Menschen. Darum wird es sich handeln, daß dieser zweifachen Verkümmerung der menschlichen Bedürfnisse ausgewichen werde. Das wird die Richtlinie sein, in welcher gearbeitet werden muß aus allen Gliedern des Volksganzen heraus. Denn es läßt sich nicht durch irgendein mathematisches Errechnen finden, wie groß eine solche Genossenschaft sein muß, sie muß an dem einen Orte eine bestimmte Größe haben, an einem anderen Orte eine andere. Sie muß ihre Größe regeln nach den tatsächlichen Voraussetzungen. Diese tatsächlichen Voraussetzungen sind nun von denjenigen festzulegen, welche im wirtschaftlichen Leben selbst drinnenstehen. Sie lassen sich nicht anders regeln, als wenn man absieht von einer jeden staatlichen Gesetzgebung für das Wirtschaftsleben, dieses Wirtschaftsleben seiner eigenen Lebendigkeit überläßt, so daß durch das fortwährende lebendige Zusammenwirken der Räte dieses Wirtschaftsleben gestaltet werden kann. Die eine Genossenschaft muß nach den Verhältnissen zu einer gewissen Zeit vergrößert, die andere verkleinert werden. Denn der soziale Organismus ist nicht etwas, das sich durch eine Verfassung festlegen, sich durch einmal feststehende Gesetze bestimmen läßt, sondern er ist etwas, was in fortwährendem Leben ist wie im Grunde genommen auch ein natürlicher Organismus. Daher kann das, was Maßnahme des Wirtschaftslebens ist, sich nur ausdrücken höchstens in mehr oder weniger kurz- oder langfristigen Verträgen, welche geschlossen werden, niemals aber in irgendeiner Begrenzung oder Feststellung der Befugnisse der Räte, die in das Wirtschaftsleben hineingehören.Sie können mit Recht heute noch sagen, der erzählt uns von dem Maß der Größe einer Genossenschaft, aber wo liegen die Beweise für diese Sache? Ja, das liegt eben darin, daß wir es bis heute noch zu keiner Wirtschaftswissenschaft gebracht haben, die im eminentesten Sinne beruhen muß auf wirtschaftlicher Erfahrung, die nicht konstruiert, nicht aus der Idee heraus gewonnen sein kann, sondern nur aus dem Leben heraus. Ich sage Ihnen, daß niemand, der selbstlos hingebend das Wirtschaftsleben wirklich studiert hat, zu einer anderen Ansicht kommt als derjenigen, die ich Ihnen ausgedrückt habe. Denn es ist das Eigentümliche der sozialen Gesetze, daß sie niemals so bewiesen werden können wie natürliche Gesetze, sondern daß sie bewiesen werden müssen unmittelbar in der Anwendung, daß daher nur der einen Sinn für sie haben kann, der für die soziale Wirklichkeit einen gewissen Realitätsinstinkt hat. Das ist so schwierig in der Gegenwart, daß wir vor Tatsachen stehen, denen gegenüber dieser Realitätsinstinkt notwendig ist, daß die Menschen sich aber so sehr sträuben, diesen in jeder Menschenseele vorhandenen Realitätsinstinkt zur Ausbildung zu bringen.