Landwirtschaft konservativ und Industrie liberal

Quelle: GA 191, S. 081-082, 2. Ausgabe 1983, 10.10.1919, Dornach

Sie wissen, in den verschiedenen Parlamenten der Welt haben sich in den vergangenen Zeiten, sagen wir, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch etwas später, zwei Parteirichtungen herausgebildet, vor denen man eigentlich bislang einen ziemlich großen Respekt hatte: eine konservative und eine liberale Parteirichtung. Das andere, was an Parteien aufgetaucht ist, ist ja erst später zu diesen zwei Grundparteien hinzugekommen. Aber sehen Sie, das ist heute so notwendig, daß man über die Phrase zur Sache vordringt, und daß man bei vielem nicht danach fragt, was die Menschen selbst, die es vertreten, davon sagen, sondern nach dem, was in dem Unterbewußtsein der Menschen drinnensitzt. Und da werden Sie denn finden, daß diejenigen Menschen, die sich zu irgendwelchen mehr konservativ gefärbten Parteien bekennen, solche sind, die irgendwie mehr zu tun haben mit Agrarischem, mit der Besorgung des Grundes und Bodens, also des Urgliedes der menschlichen Kultur. Selbstverständlich können an der Oberfläche allerlei Nebenerscheinungen auftreten. Ich sage nicht, daß jeder Konservative ein Agrarier sein muß, natürlich gibt es überall Zuläufer, überall gibt es solche, die aus der Phrase heraus irgendeinem Prinzip anhängen; aber man muß auf die Hauptsache sehen, und die ist, daß dasjenige, was ein Interesse daran hat, gewisse Strukturformen der sozialen Ordnung aufrechtzuerhalten, sie nicht zu schnell vorwärtsgleiten zu lassen, die agrarische Bevölkerung ist.

Dasjenige, was mehr aus dem Industriellen heraus kommt, was mehr aus der vom Lande losgerissenen Arbeit heraus kommt, das ist liberal, das ist progressiv. So, daß diese Parteirichtungen auf etwas Tieferes zurückgehen; und man sollte überall suchen, diese Dinge über die Phrase hinauszubringen, von den Worten bis zu den Sachen vorzudringen.

Aber schließlich sind das alles Dinge, welche uns nur das eine sagen, daß wir im Grunde stark in einer Wortkultur gelebt haben.

Wir müssen zu einer Sachkultur, zu einer Sachzivilisation vorwärtsdringen, wir müssen dahin kommen, daß wir uns nicht mehr durch Worte, durch Programme, durch Zielsetzungen in Worten imponieren lassen, sondern wir müssen dahin kommen, die Wirklichkeit zu durchschauen, und wir müssen vor allen Dingen solche Wirklichkeiten durchschauen, die tiefer sind als Landkultur und Städtekultur oder Agrarkultur und Industriekultur.