Minderheit darf mitwählen

Quelle: GA 331, S. 074-076, 1. Ausgabe 1989, 22.05.1919, Stuttgart

Mit dem Hinweis auf die Demokratisierung und ihre Bedeutung in der Übergangszeit glaube ich nicht, daß die verehrten beiden Vorredner etwas von meinen Ausführungen sich wirklich Unterscheidendes vorgebracht haben. Es könnten natürlich in dem einen oder anderen Kreise Mißverständnisse eintreten, aber wirklich etwas von dem, was ich gesagt habe, Verschiedenes, ist eigentlich nicht vorgebracht worden.

Sehen Sie, das müssen Sie als eine Grundlage gerade des ganzen Impulses der Dreigliederung ansehen, nämlich daß er überall auf die Wirklichkeit hinzielt, daß er gar nicht theoretisiert. Es ist eigentlich bei dem, was in meinem Buche über die soziale Frage steht - wenn ich mich jetzt ein bißchenparadox ausdrücken darf -, nicht einmal so sehr das wichtig, was da unmittelbar drinnen steht, sondern das, was geschieht, wenn man darangeht, das zu verwirklichen, was da drinnensteht. Da werden die Leute merken, daß allerlei Dinge herauskommen, von denen sie sich vorher gar keine Vorstellung gemacht haben, gerade die Dinge, die heute unbewußt gefordert werden von den wirklich arbeitenden und produktiven Menschen. Und in einem speziellen Falle ist das mit der Demokratie der Fall. Natürlich, für die Übergangszeit wird ja eine sehr bedeutende Frage diese sein: Wenn wir nun wirklich eine ausreichende Mehrheit bekommen, und die halte ich für das einzig Gesunde, denn mit kleinen Gruppen läßt sich eben nichts auf die Dauer halten, wenn wir eine ausreichende Mehrheit bekommen für etwas wirklich praktisch Ausführbares, dann entsteht natürlich die Frage aus den betreffenden tatsächlichen Verhältnissen heraus, sie kann nur daraus kommen: Auf welche Weise komplimentiert man dann mehr oder weniger deutlich - Sie wissen ja, was ich damit meinen kann -, wie komplimentiert man diejenigen, von denen man wünscht, daß sie nun nicht mehr da sind als Regierende, heraus? Das ist natürlich eine bedeutsame Übergangsfrage, und ich glaube, daß, wenn eine wirklich relative Mehrheit - ich will sogar sagen, eine ausreichende Mehrheit, es kommt nur darauf an, daß es eine Anzahl von Menschen ist, die den Ausschlag gibt und die Sache tragen kann, die aus Überzeugung dabei ist, aus Einsicht und nicht durch Nachlaufen, nicht auf Autorität hin - da ist, dann wird man auch die Form finden, in der das Neue erreicht werden kann.

Aber sehen Sie, die Frage, die ja sehr schön Herr Mittwich hier erörtert hat, erscheint mir doch nicht so ganz praktisch behandelt zu sein, insbesondere wenn ich mir vorstelle, daß sich ja die Dinge eben im Raum und nicht in unserem Kopfe, nicht in unseren Gedanken abspielen sollen. Herr Mittwich hat mit Recht gesagt: Bei den Schicksalsfragen Deutschlands, bei den großen, ernsten Fragen der Gegenwart dürfen nur diejenigen mitsprechen, welche produktive Arbeiter sind, welche in irgendeiner Weise wirklich produktiv tätig sind. - Ich bin vollständig einverstanden. Aber sehen Sie, die menschliche Gesellschaft würde schlecht dastehen, wenn die Mehrzahl der Menschen nicht produktiv, wenn sie untätig wäre. Die Mehrzahl ist schon produktiv tätig. Und wenn man all die produktiv Tätigen nur hätte, wenn die nur wirklich eine Mehrzahl bildeten, dann wären wir ja fein heraus. Dann wären diejenigen stark in der Minderheit, die produktiv untätig sind: die Parasiten der Gesellschaft.

Nun ist die Sache mit dem dreigeteilten Organismus so, daß ganz gewiß nur die produktiv Tätigen, also diejenigen, die wirklich etwas hervorbringen und etwas bedeuten für die Gesellschaft, sich das aneignen werden, was in seinen Impulsen liegt. Wenn die es sich aneignen, können wir uns auf diese Leute verlassen, und die Minorität, die es sich nicht aneignet, kommt nicht in Betracht. Durch das Annehmen eines wirklich Vernünftigen bekommen wir eben in der Praxis eine Majorität, auf die man sich verlassen kann.

Also ich meine, die Sache selbst wird bewirken, daß, wenn sie angenommen wird, die Mehrheit der produktiv Tätigen sich Geltung verschaffen wird. Wie man aber irgend etwas durchbringen will, ohne daß man sich auf die Mehrheit der produktiv Tätigen stützen kann, das sehe ich in der Praxis noch nicht. Damit, daß man die Forderung aufstellt, es sollen an dem Schicksal Deutschlands nur die produktiv Tätigen teilnehmen, damit ist es noch nicht getan. Praktisch wird die Sache erst dann, wenn man bedenkt, wodurch denn die produktiv Tätigen allein eine Mehrheit bilden können. Die Parasiten werden schon ausgemerzt, wenn wir uns an den dreigliedrigen sozialen Organismus halten können. Denn der wird eine wirkliche Sozialisierung herbeiführen, und diejenigen, die unproduktive Gesellschaftsparasiten sind - dessen können Sie ganz sicher sein -, die werden keinen Geschmack finden können an dieser Sozialisierung. Die werden in die Untätigkeit - nun, da sind sie ja schon drinnen -. aber auch in die Untätigkeit in bezug auf ihre Stimme und so weiter zurückfallen müssen.