Zola kein beliebiger Freiheits- und Gleichheitsschwärmer

Quelle: GA 031, S. 225-229, 2. Ausgabe 1966, 19.02.1898

Zolas Persönlichkeit scheint mit jedem Tage vor uns zu wachsen. Es ist, als lernten wir ihn erst jetzt ganz verstehen. Der fanatische Wahrheitssinn, der ihm eigen ist, hat uns in seinen Kunstschöpfungen doch oft gestört. Jetzt, wo ihn dieser Wahrheitfanatismus in einer rein menschlichen Sache zu kühnem, heldenmäßigem Handeln führt, können wir nur Gefühle rückhaltloser Zustimmung, Verehrung haben. Was er seit Jahrzehnten als Künstler angestrebt hat, die reine, nackte Wahrheit zum Siege zu bringen: das stellt er sich jetzt in einer Angelegenheit zur Aufgabe, die er durch Lüge, Verleumdung, Feigheit, Eitelkeit und jämmerliches Vorurteil entstellt glaubt. Man mag über den unglücklichen Hauptmann auf der Teufelsinsel denken, wie man will: die Art, wie sich Emile Zola seiner Sache annimmt, wird immer zu den bemerkenswertesten Erscheinungen unserer Zeit gehören.

Als bewundernswerter Tatenmensch lebt sich seit Wochen Zola vor uns aus. Jede Einzelheit, die wir über ihn hören, gräbt sich uns tief ins Herz. Jedes Wort, das er in der Gerichtsverhandlung, die über ihn geführt wird, spricht, ist der Ausdruck eines großen Mannes. Daß er unbehilflich in mündlicher Rede ist und nur schwer die Worte findet, um die schwerwiegenden Empfindungen, die in seiner Seele leben, auszusprechen, stimmt wunderbar zum Bilde der großen Persönlichkeit.

Vor mir liegt der Brief, den er vor kurzem an die französische Jugend gerichtet hat. Ein Dokument unserer Zeit ist dieser Brief. Nicht sonderlich große Wahrheiten weiß er der Jugend zu sagen. Nur ein feines Etwas unterscheidet Zolas Sätze von den Dingen, die mancher beliebige Freiheit- und Gleichheitschwärmer auch an die Jugend richten könnte. Aber dieses Etwas ist eine Unendlichkeit. Es ist der Gefühlsinhalt einer Persönlichkeit, die alle Vorstellungen, welche uns von überwundenen Zeiten trennen, als tiefsten eigenen Seeleninhalt aus sich ausströmt.

Ich kann mir nüchterne Beurteiler denken, welche in Zolas Brief an die Jugend (er ist in Übersetzung bei Hugo Steinitz, Berlin SW., erschienen) nur liberale Alltagsphrasen finden. Auf das Lesen zwischen den Zeilen verstehen sich diese nicht. Zwischen den Zeilen stehen die Gefühle, die das Wertvollste an dem Briefe sind.

Denken kann ich mir, daß ich lächelte, wenn ich in der Rede irgendeines Demagogen die Worte hörte: « O Jugend, o Jugend, sei eingedenk der Leiden, welche deine Väter erduldet haben, der fürchterlichen Kämpfe, in denen sie siegen mußten, um die Freiheit zu erobern, deren du dich heute erfreust. Wenn du dich heute frei fühlst, wenn du nach deinem Belieben gehen und kommen, deine Gedanken durch die Presse aussprechen kannst, eine Meinung haben und ihr öffentlich Ausdruck geben kannst, so verdankst du das alles der Intelligenz und dem Blute deiner Väter. Ihr Jünglinge, ihr seid nicht unter einer Gewaltherrschaft geboren, ihr wißt nicht, was es heißt, jeden Morgen beim Erwachen den Fuß des Herrschers auf dem Nacken zu verspüren, ihr habt es nicht nötig gehabt, vor dem Schwerte eines Diktators, vor der falschen Waage einer schlechten Justiz zu flüchten.» Jenes Etwas, von dem ich gesprochen habe, bewirkt, daß mir diese Sätze in monumentaler Größe erscheinen.

Es scheint doch ein recht tiefer Sinn in dem Satze zu liegen: wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe.

Wir leben in einer Zeit, die reich an Widersprüchen ist. Um diese Widersprüche zu empfinden, brauchen wir Deutsche nicht erst an den Franzosen unsere Beobachtungen zu machen. Auch in unseren eigenen Reihen finden sich Erscheinungen genug, die uns erröten machen.

Was man als «Jugend» bezeichnet, ist nicht einmal das Schlimmste. Die Verwirrung ist am größten bei den Männern, die heute in den Dreißigern stehen. Da gibt es die sich modern dünkenden Persönlichkeiten, die sich nicht schämen, ihre Sympathien für reaktionäre Vorstellungen auszusprechen. Solche Moderne in den besten Jahren können wir den Tendenzen junkerhafter Cliquen zustimmen hören; und aus ihrem Munde müssen wir es vernehmen, daß die liberalen Gedanken unseres Jahrhunderts eine Kinderkrankheit unserer Zeit seien. Wie «weise» sprechen solche Männer nicht oft von dem «abstrakten» Freiheitsgedanken, der angeblich dem widersprechen soll, was sie als wirkliche Staatsnotwendigkeit ausposaunen.

Es ist empörend, wenn das Gefühl für einfache, banale Gerechtigkeit verloren geht, weil die Staatsnotwendigkeit fordern soll, daß man diesem Gefühle nicht freien Lauf lasse! über aller Staatsnotwendigkeit steht die Menschlichkeit, der ihr Recht werden muß. Die journalistischen Staatsmännlein muß ich belächeln, die da sagen: «Die französischen Gerichte haben über den Hauptmann Dreyfus gesprochen, und wir Deutsche haben uns da nicht hineinzumischen; was würden wir sagen, wenn Franzosen zu Gerichte sitzen wollten über einen Spruch, den man bei uns gefällt hat in den äußeren Formen des Rechtes!»

[...] Doch was rede ich viel von den freiwilligen Schleppträgern staatsmännischer Einsicht! Als Vertreter einer Zeitschrift, die der freiheitlichen Entwicklung dienen soll, will ich lieber aus vollem Herzen meinem Gruß hinübersenden dem großen Künstler, der heute vor den Schranken des Gerichts in unerschrockenster Weise all dem dient, was dem wahren Fortschritt frommt.