Sozialismus, religiöse Freiheit und Geisteswissenschaft

Quelle: GA 184, S. 079-101, 1. Ausgabe 1968, 13.09.1918, Dornach

Ich werde fortfahren, in mehr aphoristischer Form Ihnen weiteres vorzubringen über das Thema, in dem wir ja jetzt schon seit Wochen drinnenstehen, und das ich Ihnen immer bezeichnet habe dadurch, daß ich sagte: Die große Schwierigkeit in Weltanschauungsfragen liege jetzt - dieses «jetzt» betone ich ja immer - darin, daß es aus den Anschauungen der Gegenwart heraus den Menschen schwierig wird, eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was Idealismus genannt wird, und dem, was bezeichnet werden kann als Anschauung über die natürliche Ordnung der Dinge. Indem der moderne Mensch versucht, eine solche Brücke zu schlagen, indem er versucht, sich klarzuwerden, wie zum Beispiel die moralischen Ideen - wenn wir aus der Summe der Ideen eine Gruppe herausnehmen -, jetzt nicht äußerlich, sondern innerlich-real zu den Anschauungen, zu den Begriffen sich verhalten, die man entwickelt über den Gang der kausalen Naturordnung, verfällt er in eine Art von Weltanschauungsdualismus, wie man geisteswissenschaftlich das ausdrücken könnte. Das haben wir ja immer wieder betont. Der Mensch versucht, eine solche Brücke zu schlagen, aber es gelingt ihm nicht. [...]

Wir dürfen unbedingt nicht - das ist des Menschen Aufgabe in der Gegenwart - den Geist so nehmen, wie ihn die neueren Philosophien nehmen. Wir dürfen die Natur nicht so nehmen, wie sie die naive Naturanschauung oder auch die theoretische Naturwissenschaft der Gegenwart nimmt. Sondern wir müssen gewissermaßen die Verblendung, die wir über die Natur haben, ablegen und erkennen, wie die Natur bloß Bild ist von einem andern, und wir müssen erkennen, wie der Geist, so wie er sich heute der Philosophie darstellt, bloß Schattenbild ist. Dann wird die Brücke geschlagen zwischen der gewöhnlichen Geistanschauung und der gewöhnlichen Naturanschauung.

Und ein drittes wird bestehen. Niemals kann man durch bloße Diskussionen so etwas überwinden wie den Dualismus, sondern nur dadurch, daß man die Tatsachen ins Auge faßt, aber dann die vollständigen Tatsachen, und zu der Zweiheit ein drittes findet. Daher muß das Symbolum, das dies ausdrückt, eine Trinität ausdrücken. Wir sind natürlich uns heute klar, daß Begriffe wiederum nur so etwas, was oben schwimmt, ausdrücken. Aber man muß Begriffe haben; überschätzt man sie nicht, so richten sie keinen Schaden an.

Wir sprechen hier von dem Normalmenschlichen, von dem Luziferischen und dem Ahrimanischen, und stellen das auch dar: es soll Mittelpunktsdarstellung unseres Baues sein. Daß eine Anschauung, die in einer Dreigliedrigkeit verläuft, da sein müsse, das ahnte auch Auguste Comte, indem er jene Trinität aufstellt, von der ich Ihnen neulich gesprochen habe. Diese wahre Trinität, welche Geistanschauung und Naturanschauung umfassen wird und dadurch wirklich den Dualismus überwinden wird, muß die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in sich enthalten. Daher kann man nicht, ohne ernsthaftig einzugehen auf alle Licht- und Schattenseiten des heutigen Naturforschens, des heutigen Geistforschens, auch zu wirklicher anthroposophischer Geisteswissenschaft kommen. Man muß die Dinge schon ernst nehmen. Mit dem bloßen Zusammenwerfen und dem Theorienbilden über das Zusammengeworfene wird dem Ernst der heutigen Zeit gegenüber nichts getan sein.

Das Leben verläuft nicht in einem Urbrei, sondern verläuft differenziert und individualisiert. Dasjenige, was eine Zukunft anstreben muß, muß von vorneherein differenziert angestrebt werden. Heute ist noch immer die Unart vielfach vorhanden, alles, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, über einen Leisten zu schlagen. Wenn heute einer eine politische Theorie hat, so bildet er ungefähr nach dieser politischen Theorie auch alles andere aus, Weltanschauungen und so weiter. Wenn heute einer philosophische Anschauungen hat, so verwendet er sie auch als Politik und so weiter, schlägt alles über einen Leisten, und zwar über denjenigen gerade, den der Betreffende als seinen Lieblingsleisten handhabt. Das ist so in unserer heutigen Zeit. Das Leben verläuft differenziert. Illusionsfrei ist nur derjenige Mensch, der weiß, wie das Leben differenziert verläuft. Die Zukunft strebt nicht nach einem Urbrei des Lebens, sondern nach einer starken Gliederung: nach dem geistigen Leben als Wissenschaft, einem gewissen inneren Leben, von dem man sich heute noch wenig eine Vorstellung macht, und das man nach den Gepflogenheiten der alten Zeiten ein religiöses Leben nennen kann, und nach dem politischen Leben. Wirft man die Dinge durcheinander, will man das eine nach dem andern regeln, dann verfällt man in solche Fehler, wie die sind, die ich Ihnen im vorigen Jahre, oder gar vor zwei Jahren, hier einmal charakterisiert habe.

Denn die Dinge gehen in getrennten Strömungen: Auf der einen Seite das soziale Leben nach dem Sozialismus, auf der andern Seite das religiöse Leben nach der Gedankenfreiheit, und das wissenschaftliche Leben nach der Pneumatologie, nach der Geist-Erkenntnis. Nur in dem lebendigen Zusammenwirken der drei wird die Zukunft eine gewisse Heilkraft für die menschliche Entwickelung haben, nicht ein Paradies auf Erden, das gibt es nicht, aber eine gewisse Heilkraft. Aber gar nicht gut wäre, wenn man etwa das äußere Leben pneumatologisch vorstellte, religiöse Sekten gründen will, diese mit pneumatologischem Leben durchziehen wollte, also Politik treiben würde vom Standpunkte der Pneumatologie. Das würde nichts sein. Ebenso würde es nichts sein, wenn man im alten Sinne in Religionsgemeinschaften Politik treiben würde. So wenig die Hände das verrichten können, was das Haupt des Menschen verrichten kann, so wenig die Beine das verrichten können, so wenig kann Pneumatologie dasjenige leisten, was Sozialismus leisten soll, oder Religion dasjenige leisten, was der Sozialismus leisten soll, oder was Pneumatologie leisten soll. Auf Differenzierung gewisser Dinge, aber jetzt nicht theoretisch bloß, sondern auf Differenzierung im Leben von gewissen Dingen kommt es an. Und das ist dasjenige, womit ich diese Betrachtungen heute schließen und morgen fortsetzen will. Sie sollen ja, wie gesagt, nur aphoristisch sein, sollen einiges Neue beibringen zu den Grundfragen, die uns jetzt beschäftigen.