Nation vordatiert

Quelle: GA 185, S. 018-023, 3. Ausgabe 1982, 18.10.1918, Dornach

So sehen wir das Auftauchen des Nationalen als Gemeinsamkeit Bildendem, und zu gleicher Zeit diese für die Entwickelung der neueren Menschheit symptomatisch bedeutsame Differenzierung, die ihren Wendepunkt 1429 in dem Auftreten der Jungfrau von Orleans hat. Ich möchte sagen: In dem Augenblicke, in dem der Impuls des Papsttums die westliche europäische Bevölkerung aus seinen Fängen entlassen muß, taucht die Kraft des Nationalen gerade im Westen auf und ist dort bildend. - Sie dürfen sich nicht täuschen lassen in einer solchen Sache. So wie Ihnen die Geschichte heute dargestellt wird, können Sie selbstverständlich bei jedem Volk rückwärtige Betrachtungen anstellen und können sagen: Nun ja, da ist auch schon das Nationale gewesen! - Da legen Sie keinen Wert darauf, wie die Dinge wirksam sind. Sie können ja bei den Slawenvölkern nachsehen; die werden selbstverständlich unter dem Eindruck der heutigen Ideen und Impulse ihre nationalen Gefühle und Kräfte möglichst weit zurückführen. Aber die nationalen Impulse waren zum Beispiel gerade in der Zeit, von der wir heute sprechen, in besonderer Art wirksam, so daß Sie eine Epoche umwandelndster Impulse gegeben haben in den Gebieten, von denen wir eben gesprochen haben. Das ist es, worauf es ankommt. Man muß sich zur Objektivität durchringen, damit man die Wirklichkeit erfassen kann. Und eine solche symptomatische Tatsache, die ebenso das Heraufkommen der Bewußtseinsseele ausdrückt, äußerlich offenbart, wie die angeführte, ist auch dieses eigentümliche Sich-Herausorganisieren eines italienischen Nationalbewußtseins aus dem nivellierenden, das Nationale zu einem Untergeordneten machenden päpstlichen Elemente, wie es über Italien bis dahin ausgegossen war. In Italien wird es gerade in dieser Zeit im wesentlichen der nationale Impuls, der die Leute auf der italienischen Halbinsel vom Papsttum emanzipiert. Das alles sind Symptome, die in der Zeit da sind, als sich innerhalb Europas die Bewußtseinsseelenkultur aus der Verstandes- und Gemütsseelenkultur heraus entwickeln will.

Diese Zeit der Bewußtseinsseelenkultur bringt es [...] zu keiner Naissance, sondern höchstens zur Renaissance, zu einer Wiedergeburt. In bezug auf das, was aus der menschlichen Seele herauskommt, kommt es höchstens zu einer Renaissance, zu einer Wiederauferstehung des Alten. Denn das alles, was da als Impulse eingreift, das ist ja nichts, was aus der menschlichen Seele herauspulsiert. Das erste, was uns aufgefallen ist, ist ja die nationale Idee, wie man es oftmals nennt, man müßte sagen, der nationale Impuls. Der wird nicht aus der Menschenseele produktiv herausgeboren, sondern der liegt in dem, was wir vererbt erhalten haben, der liegt in dem, was wir vorfinden. Es ist etwas ganz anderes, was, sagen wir, durch die zahlreichen geistigen Impulse im Griechentum auftritt. Dieser nationale Impuls, der ist ein Pochen auf etwas, was da ist wie ein Naturprodukt. Da produziert der Mensch nichts aus seinem Innern heraus, wenn er sich als Angehöriger einer Nationalität betrachtet, sondern er weist nur darauf hin, daß er in einer gewissen Weise gewachsen ist, wie eine Pflanze wächst, wie ein Naturwesen wächst. [...] Es sind gegebene Tatsachen, Naturtatsachen, die hereinkommen ins Menschenleben, aber es wird nichts wirklich aus der menschlichen Seele heraus produziert. [...] Der Charakter dessen, worauf der Mensch pocht, wird ein ganz anderer vom 15. Jahrhundert ab.