Deutscher Wille nach politischer Einheit als Gefahr

Quelle: GA 185a, S. 100-103, 2. Ausgabe 1963, 16.11.1918, Dornach

Sehen Sie, dasjenige, was das deutsche Element in der modernen Zivilisation ist, das spielt ja im Grunde genommen eine recht andere Rolle als andere Volkselemente. Schließlich können Sie das an Einzelheiten betrachten. Die Welt hat sich angewöhnt, das Deutsche zu identifizieren mit den Mittelmächten. Nun ja, was haben denn schließlich diese Deutschen als Deutsche mit dem einen oder mit dem andern Reiche zu tun? Was haben die Deutschen Österreichs mit der Hausmonarchie der Habsburger zu tun? Niemals wären die Deutschen Österreichs in Italien die verhaßtesten Menschen, wenn nicht die Deutschen Österreichs genau ebenso behandelt worden wären vom Hause Habsburg wie der geringe Teil der Italiener, die unter dem Hause Habsburg waren. Die Deutschen haben zum mindesten vom Hause Habsburg geradesoviel gelitten, wie irgendwelcher Italiener gelitten hat, nur daß die Deutschen jetzt die Tragik haben, gehaßt zu werden von denjenigen, mit denen sie das gleiche gelitten haben. Und so ist es durch alles hindurch. Ein Verständnis fehlt des ganz und gar unnationalen Wesens der Deutschen, die für Europa der Sauerteig waren, aber niemals irgendein nationales Wesen oder irgend etwas national Aggressives überhaupt gehabt haben. Das liegt nicht in dem deutschen Grundcharakter, es ist aufgepfropft von verschiedenen Seiten her. Dieses Deutsche hatte nichts Besonderes zu tun, weder mit dem Hause Habsburg, von dem es unterjocht war, noch mit dem anderen Herrscherhause, und es ist kein Grund, das deutsche Wesen damit zu verwechseln. Das aber geschieht in der Welt, und das geschieht, kann man sagen, mit einer gewissen Wonne. Das geschieht auch von Völkern, denen wahrhaftig kein Hindernis entgegenstand, sich als Einheit zu fühlen, vielleicht nur mit Ausnahme einiger Splitter, die ihnen entrissen worden sind. Aber man sollte doch die Hauptsache nicht vergessen: Das, was deutsches Volk ist, war nie eigentlich dazu veranlagt, irgendeine Einheit zu bilden. Es würden die allerbesten Eigenschaften verlorengehen, wenn die Deutschen so leben wollten, daß sie eine abstrakte Einheit, eine Volkseinheit bilden würden. Natürlich, unter dem Einflusse mancher europäischer Impulse haben unorganisch - zum Beispiel bei Goethe nie, aber bei anderen - gewisse Einheitsbestrebungen, wie sie in Italien waren, auch innerhalb des deutschen Volkes gelebt.

Sie waren stark vom Jahre 1848 bis in die fünfziger, sechziger Jahre hinein. Aber das ging ja immer parallel vor allen Dingen mit einer Sehnsucht des deutschen Wesens, sich in die Welt hineinzuversenken. Und das ist ja erreicht worden in einer ganz besonderen Ausdehnung. Bedenken Sie doch, daß Sie kaum so verständnisvolle literarische Erzeugnisse von einem Volk zum andern finden werden in der Würdigung der anderen Völker wie innerhalb des deutschen Schrifttums. Es gibt zum Beispiel ein schönes Buch, welches wirklich in intimer Weise gerecht wird den schönsten und bedeutendsten, auch signifikantesten Impulsen, die im französischen Wesen von der Revolution bis zum zweiten Napoleon geltend waren, ein Buch, das heißt: «Die französische Staatsform und der Bonapartismus», ein Buch, das liebevoll eingeht gerade auf die signifikantesten Impulse in der französischen Entwickelung dieses neunzehnten Jahrhunderts. Der Verfasser dieses Buches heißt nämlich Heinrich von Treitschke. Das Buch ist geschrieben in der Zeit von 1865 bis 1871. Es ist eine vollständige Würdigung des Franzosentums und des italienischen Wesens in diesem Buch von Heinrich von Treitschke: «Die französische Staatsform und der Bonapartismus». So allerlei interessante Einzelheiten könnte ich Ihnen da anführen, aus denen Sie allerlei erblicken würden über die Wahrheit, der man nicht geneigt ist, ein Ohr zu leihen in der Welt. Ganz gewiß hat es niemals ein so verständnisvolles Sprechen über englisches und amerikanisches Wesen von einem Fremdvolke her gegeben wie dasjenige, was Herman Grimm entfaltet über die Amerikaner und über die Engländer.

Man darf natürlich nicht vergessen, daß auch alle möglichen anderen Dinge, die nicht aus dem deutschen Volkstum heraus sind, hereingespielt haben. Auf die Albernheit will ich gar nicht eingehen, die Deutschtum verwechselt mit etwas, was so undeutsch ist wie möglich, mit dem Alldeutschtum, wie man es gewohnt worden ist zu nennen. Nun, es ist eben eine Albernheit, deutsches Wesen am Alldeutschtum messen zu wollen. Anders kann man das nicht sagen. Aber wenn doch irgendeinmal Bestrebungen aufgetaucht sind, daß so etwas zustandekommen sollte wie eine deutsche Einheit, was ja ohnedies nicht sehr lange wirksam gewesen wäre - ja, studieren Sie einmal die Geschichte von 1866 bis 1870, was in Frankreich dazumal gesagt worden ist zu der erstrebten deutschen Einheit! Die konnte man nicht vertragen, die wollte man auf keinen Fall haben.

Das sind schon Dinge, die die Frage auftauchen lassen: Warum eigentlich wird denn über deutsches Wesen so viel geschimpft? - Und da ist ein Quell von Unwahrhaftigkeit in der Welt, der ganz furchtbar ist, und der der Ausgangspunkt sein wird von wirksamer Unwahrheit. Aber dasjenige, was deutsches Wesen ist und was in einer gewissen Weise unorganisch gegliedert war seit dem Jahre 1871, das wird doch seine Aufgabe in der Welt haben, wenn es auch heute ein Greuel ist für viele Menschen, von der Aufgabe des deutschen Wesens zu sprechen. Es wird doch seine Aufgabe in der Welt haben. Wenn Sie bisher einen verständigen Menschen gefragt haben - ich will zum Beispiel unter diesen verständigen Menschen, die sich besonders klar über die Sache ausgesprochen haben, Heinrich Heine anführen -, da hat man zwei Pole angeführt, von denen aus seit langem zwei ganz verschiedene Grundrichtungen des menschlichen Denkens gegangen sind. Wir werden darauf noch näher einzugehen haben. Ich habe einer Dame, die mich bei meiner letzten Anwesenheit hier im Jahre 1917 gefragt hat, welches die Mission des Judentums in der Welt ist, gesagt dazumal: Das wird schon auch noch kommen, daß ich darüber zu sprechen habe. Heinrich Heine hat angegeben diese zwei Pole, aus denen sich gewissermaßen nährt dasjenige, was an Impulsen von einem gewissen Gesichtspunkte aus in der Menschheit ist: Heinrich Heine hat angegeben das Judentum auf der einen Seite, das Griechentum auf der anderen Seite. Nun, das Judentum hat sich immer als der Großsiegelbewahrer zu erweisen gehabt für die menschliche Fähigkeit der Abstraktion, für die menschliche Fähigkeit, die Denkweise, die Weltanschauung zu vereinheitlichen. Das Griechentum hat immer die Aufgabe, der Welt zu bringen dasjenige, was an Bildhaftigkeit, an imaginativem Elemente lebt. Die Weltanschauung, die Lebensauffassung des modernen Proletariats hat alles zunächst aufgenommen vom Judentum, aber noch nichts vom Griechentum, weil ihm das imaginative Element vollständig fehlt. Das wird es noch erhalten müssen. Im Laufe der künftigen Zeit wird dann das dritte kommen, denn alle Dinge bestehen aus einer Trinität, und zum Judentum und Griechentum wird das Deutschtum treten im Laufe der Zeit - das wird die Trinität sein -, wenn jener Materialismus stark gefressen haben wird an der modernen Welt im Zeitalter der Bewußtseinsseele, der seinen Anfang genommen hat mit jener Phase, die mit dem Marxismus von dem Britischen Reich in die Welt gestrahlt ist.