Proudhon setzt noch auf das Bewußtsein

Quelle: GA 330, S. 383-396, 2. Ausgabe 1983, 30.07.1919, Stuttgart

Sie wissen ja wahrscheinlich, daß man das, was heute zur sozialen Frage vorgebracht wird, seit verhältnismäßig langer Zeit vorbringt. Und es werden ja heute die Namen Proudhon, Fourier, Louis Blanc genannt als die ersten, die bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hinein die soziale Frage behandelt haben.

Sie wissen ja auch, daß die Art, wie diese soziale Frage bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hinein behandelt wurde, von den heutigen Vertretern, wenigstens von vielen heutigen Vertretern der sozialen Frage genannt wird «das Zeitalter der sozialen Utopien».Es ist gut, sich klarzumachen, was man eigentlich damit meint, wenn man sagt: In ihrem ersten Stadium trat die soziale Frage so auf, daß sie in diesem Zeitalter der Utopien lebte. Aber man kann über diese Sache nicht im absoluten Sinne reden, sondern man kann eigentlich nur aus den Empfindungen der Vertreter der sozialen Frage in der Gegenwart reden. Die empfinden so, wie ich es jetzt schildern will. Sie empfinden, daß alle sozialen Fragen, die in dem Zeitalter auftraten, wovon ich zuerst sprechen will, im Stadium der Utopie waren. Und was verstehen die Leute darunter, wenn sie sagen: Die soziale Frage war damals im Stadium der Utopie? Darunter verstehen sie folgendes: Saint-Simon, Fourier haben gut bemerkt, daß auch nach der Französischen Revolution Menschen einer gewissen sozialen Minderheit da sind, welche im Besitz der Produktionsmittel und auch anderer menschlicher Güter sind, und daß da eine große Anzahl ist, sogar die Mehrzahl der anderen Menschen, die nicht in solchem Besitze sind, und die an den Produktionsmitteln nur dadurch arbeiten können, daß sie in die Dienste derjenigen treten, die die Produktionsmittel und auch den Boden besitzen, Menschen, welche im Grunde genommen nichts anderes haben als sich selbst und ihre Arbeitskraft. Man hat bemerkt, daß das Leben dieser großen Masse der Menschheit eine Bedrängnis ist, zum großen Teil in Armut verläuft gegenüber denjenigen, die in der Minderheit sind. Und man hat hingewiesen auf die Lage der Minderheit und auf die Lage der Mehrheit.

Diejenigen, die nun so wie Saint-Simon und Fourier, wie auch noch Proudhon über diese soziale Lage der Menschheit geschrieben haben, die sind von einer gewissen Voraussetzung ausgegangen. Sie sind ausgegangen von der Voraussetzung, daß man notwendig habe, die Menschen darauf hinzuweisen: Seht, die große Masse lebt in Elend, in Unfreiheit, in wirtschaftlicher Abhängigkeit, das ist für die große Masse kein menschenwürdiges Dasein. Das muß geändert werden. Und man hat dann allerlei Mittel ausersonnen, durch welche diese Ungleichheit unter den Menschen geändert werden kann.

Aber es war immer eine bestimmte Voraussetzung, und diese Voraussetzung war, daß man sich sagte: Wenn man weiß, worinnen die Ungleichheit begründet ist, wenn man eindringliche Worte genug hat, wenn man sittliches Bewußtsein selbst genug hat, um stark darauf hinzuweisen, daß die große Mehrzahl der Menschen in wirtschaftlicher und rechtlicher Abhängigkeit lebt und arm ist, so wird diese Rede die Herzen, die Seelen der Minderheit, der Begüterten, der begünstigteren Minderheit ergreifen. Und es wird dadurch, daß diese Minderheit einsieht: So kann es nicht bleiben, man muß Änderungen herbeiführen, es muß eine andere Gesellschaftsordnung kommen, eine andere Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden. - Also die Voraussetzung war die, daß die Menschen sich herbeilassen werden, aus ihrem innersten Seelenantrieb heraus etwas zur Befreiung der großen Masse der Menschheit zu tun. Und dann schlug man vor, was man tun sollte. Und man glaubte, wenn die Minderheit, wenn die Menschen, die die leitenden, führenden Menschen sind, einsehen, daß gut ist, was man tun will, dann wird eine allgemeine Besserung der Lage der Menschheit eintreten.

Es ist sehr viel außerordentlich Gescheites gesagt worden von dieser Seite her, allein alles dasjenige, was in dieser Richtung unternommen worden ist, das empfindet man heute bei den meisten Vertretern der sozialen Frage als utopisch. Das heißt, man rechnet heute nicht mehr darauf, daß man nur zu sagen braucht: So könnte man die Welt einrichten -, dann hört die wirtschaftliche und politische und rechtliche Ungleichheit der Menschen auf. Es nützt heute nichts, an das Verständnis zu appellieren, an die Einsicht der Menschen, die begünstigt sind, die im Vorrecht sind, die im Besitz sind der Produktionsmittel und dergleichen. Wenn ich ausdrücken soll, was da im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verloren worden ist, so muß ich sagen, verloren worden ist der Glaube an die Einsicht und an den guten Willen der Menschen. Daher sagen sich die Vertreter der sozialen Frage, wie ich sie jetzt meine: Schöne Pläne ausdenken, wie man die Menschenwelt einrichten soll, das kann man, aber dabei kommt nichts heraus; denn wenn man noch so schöne Pläne predigt, wenn man mit noch so rührenden Worten appelliert an die Herzen, an die Seelen der regierenden Minderheiten, so wird doch nichts geschehen.

Das alles sind wertlose Ideen, und wertlose Ideen, welche die Zukunft ausmalen, das sind eben in Wirklichkeit, populär gesprochen, Utopien. Es hat also gar keinen Zweck, so sagt man, irgend etwas auszumalen, was in der Zukunft geschehen soll, denn es wird niemand da sein, der von seinen Interessen losläßt, der ergriffen werden kann in bezug auf sein Gewissen, in bezug auf seine sittliche Einsicht und so weiter. Den Glauben an Gewissen und sittliche Einsicht hat man eben in weitesten Kreisen, namentlich bei den Vertretern der sozialen Frage verloren. Man sagt sich, die Menschen handeln ja gar nicht nach ihrer Einsicht, wenn sie soziale Einrichtungen treffen, oder wenn sie ihr soziales Leben führen, sie handeln nach ihrem Interesse. Und die Besitzenden haben selbstverständlich ein Interesse daran, in ihrem Besitz zu bleiben. Die sozial Bevorrechteten haben ein Interesse an der Erhaltung der sozialen Vorrechte. Daher ist es eine Illusion, darauf zu rechnen, daß man nur zu sagen braucht, die Leute sollen das oder jenes machen. Sie tun es eben nicht, weil sie nicht aus ihrer Einsicht, sondern aus ihrem Interesse heraus handeln.

Im umfassendsten Sinne, so kann man sagen, hat sich nach und nach, aber wirklich erst nach und nach, zu dieser Ansicht Karl Marx bekannt. Man kann in dem Leben von Karl Marx eine ganze Anzahl von Epochen schildern. Marx war in seiner Jugend auch ein idealistischer Denker und hat auch noch in dem Sinn, wie ich es eben charakterisiert habe, an die Realisierbarkeit von Utopien gedacht. Aber er war es gerade, und nach ihm dann auch sein Freund Engels, der in der allerradikalsten Weise von dieser Rechnung auf die Einsicht der Menschen abgekommen ist. Und wenn ich im allgemeinen etwas charakterisiere, was eigentlich eine große Geschichte ist, so kann ich das Folgende sagen: Karl Marx ist zuletzt zu der Überzeugung gekommen, daß es in der Welt nicht auf eine andere Art besser werden könne als dadurch, daß man jene Menschen aufruft, die nicht ein Interesse daran haben, daß ihre Güter ihnen erhalten bleiben, ihre Vorrechte ihnen erhalten bleiben. Auf diese könne man überhaupt nicht sehen, diese müsse man ganz aus der Rechnung lassen, denn sie werden sich niemals herbeilassen, irgendwie darauf einzugehen, wenn man ihnen noch so schön predigt. -

Dagegen gibt es gerade die große Masse der proletarischen Arbeiter, und Karl Marx selbst lebte sich ja in diese Überzeugung hinein in der Zeit, als in Mitteleuropa das im Grunde erst entstand, was man heute das Proletariat nennt. Er sah das Proletariat aus den anderen Ortschaftsverhältnissen in Mitteleuropa erst entstehen. Als er dann in England lebte, war das ja etwas anderes. Aber in der Zeit, als Karl Marx sich vom Idealisten zum ökonomischen Materialisten entwickelte, da war es so, daß eigentlich in Mitteleuropa das moderne Proletariat erst heraufkam.

Und nun sagte er sich: Dieses moderne Proletariat, das hat ganz andere Interessen als die leitende Minderheit, denn es besteht aus Menschen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, aus Menschen, die auf keine andere Weise leben können als dadurch, daß sie ihre Arbeitskraft in den Dienst der Besitzenden, namentlich in den Dienst der Besitzenden der Produktionsmittel, stellen. Wenn diese Arbeiter ihre Arbeit verlassen, dann sind sie, das galt besonders für die damalige Zeit in radikalster Weise, auf die Straße geworfen. Sie haben nichts anderes vor sich als die Möglichkeit einer Fron für diejenigen, die die Besitzer der Produktionsmittel sind. Diese Menschen haben ein ganz anderes Interesse als die anderen. Sie haben ein Interesse daran, daß die ganze frühere Gesellschaftsordnung aufhört, daß diese Gesellschaftsordnung umgewandelt wird. Denen braucht man nicht zu predigen, damit ihre Einsicht ergriffen wird, sondern nur, daß ihr Egoismus, ihre Interessen ergriffen werden. Darauf kann man sich verlassen. Zu predigen denjenigen, auf deren Einsicht man zählen soll, dabei kommt nichts heraus, denn die Menschen handeln nicht nach Einsicht, sie handeln nur aus Interesse. Man kann sich also nicht an die wenden, bei denen man an die Einsicht appellieren müßte, sondern an diejenigen, an deren Interesse man appellieren muß. Die können nicht anders als aus innerem Zwang heraus für die neuere Zeit eintreten. Das ist der Egoismus, zu dem Karl Marx sich hinentwickelt hat. Daher hat er nicht mehr geglaubt, daß der Fortschritt der Menschheit zu neueren sozialen Zuständen von anderem Menschenwerke herkommen könne, als von dem Werke des Proletariats selbst. Das Proletariat könne nur, so meint Karl Marx, aus Interesse, aus seinen einzel-egoistischen Interessen her eine Erneuerung der menschlichen sozialen Zustände erstreben.

Und damit wird das Proletariat, aber jetzt nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Interesse auch die ganze übrige Menschheit befreien, weil es nichts anderes mehr geben kann als dasjenige, was die Menschen bewirken, die nicht an alten Gütern hängen, sondern die bei einer Umwandelung nichts von alten Gütern zu verlieren haben.

Man sagt sich also: Da sind auf der einen Seite die leitenden, führenden Kreise, die haben gewisse Rechte, die ihnen in früheren Zeiten verliehen worden sind oder die in früheren Zeiten von ihnen erzwungen worden sind, die sie vererbt haben in ihren Familien, an denen halten sie fest. Es sind diese leitenden, führenden Kreise im Besitz von dem oder jenem, was sie wiederum innerhalb ihrer Kreise, ihrer Familie vererben und so weiter. Diese Kreise haben als die leitenden, führenden Kreise bei einer Umwandelung immer etwas zu verlieren. Denn selbstverständlich, wenn sie nichts verlören, würde ja keine Umwandelung geschehen. Es handelt sich darum, daß diejenigen, die nichts haben, etwas bekommen sollten, diejenigen, die etwas haben, könnten daher nur verlieren. Also man könnte nur an die Einsicht appellieren, wenn diese Einsicht der besitzenden, führenden Klasse den Impuls eingeben würde, etwas verlieren zu wollen. Darauf lassen sie sich nicht ein. - Das war die Anschauung von Karl Marx. Man muß also an diejenigen appellieren, die nichts zu verlieren haben. Deshalb schließt auch im Jahre 1848 das Kommunistische Manifest mit den Worten: Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben aber alles zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Nun sehen Sie, das ist seit der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests gewissermaßen eine Überzeugung geworden, und heute, wo gewisse Empfindungen, die schon unter dem Einfluß dieser Anschauung stehen, eben in der Majorität des Proletariats leben, heute kann man sich gar nicht mehr richtig vorstellen, was für ein ungeheurer Umschwung in der sozialistischen Anschauung sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen hat. Aber es wäre gut, wenn Sie sich herbeiließen, so etwas zu nehmen wie das «Evangelium eines armen Sünders» von Weitling, einem Schneidergesellen, das gar nicht so lange Zeit vor dem Kommunistischen Manifest geschrieben ist, und wenn Sie das vergleichen würden mit alledem, was nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes geschrieben ist!

In diesem wirklich von echter proletarischer Empfindung eingegebenen «Evangelium eines armen Sünders» herrscht eine, man kann sagen, in gewissem Sinne sogar poetische, glühende Sprache, aber durchaus eine Sprache, die appellieren will an den guten Willen, an die Einsicht der Menschen. Das ist Weitlings Überzeugung, daß man etwas anfangen könne mit dem guten Willen der Menschen. Und diese Überzeugung, die ist erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschwunden. Und die Tat, durch die sie geschwunden ist, ist eben die Publikation des Kommunistischen Manifests. Und seit der Zeit, seit dem Jahre 1848, können wir eigentlich verfolgen das, was wir heute die soziale Frage nennen. Denn wenn wir heute so reden wollten wie Saint-Simon, wie Fourier, wie Weitling - ja, wir würden heute wirklich ganz tauben Ohren predigen. Denn bis zu einem gewissen Grade ist es durchaus richtig, daß man in der sozialen Frage nichts anfangen kann, wenn man an die Einsicht der leitenden, führenden Kreise, die etwas haben, appelliert. Das ist schon richtig. Die leitenden, führenden Kreise haben das zwar niemals zugegeben, sie werden es auch heute kaum zugeben, sie wissen es gar nicht einmal, daß sie es doch tun, denn da spielen unbewußte Kräfte in der menschlichen Seele eine außerordentlich große Rolle.

Sehen Sie, es ist ja nun einmal unsere geistige Kultur im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts fast ganz zur Phrase geworden. Es ist eben doch eine viel wichtigere soziale Tatsache, daß wir mit Bezug auf die geistige Kultur in der Phrase leben, eine viel wichtigere soziale Tatsache ist es, als man gewöhnlich meint. Und so reden natürlich die Angehörigen der leitenden, führenden Kreise auch über die soziale Frage allerlei schöne Dinge, und sie sind selbst oftmals überzeugt, daß sie schon den guten Willen hätten. Aber in Wirklichkeit glauben sie das nur, es ist nur ihre Illusion. In dem Augenblick, wo irgend etwas Reales in dieser Beziehung angegriffen wird, kommt es auch gleich heraus, daß das eine Illusion ist. Davon wollen wir nachher noch sprechen. Aber wie gesagt, so können wir heute nicht mehr reden, wie im Zeitalter der Utopien geredet worden ist.

Das ist die wirkliche Errungenschaft, die durch Karl Marx gekommen ist, daß er gezeigt hat, wie heute die Menschheit so in den Illusionismus hineinverstrickt ist, daß es ein Unsinn ist, auf etwas anderes zu rechnen als auf den Egoismus. Es muß damit einmal gerechnet werden. Es kann daher gar nichts erreicht werden, wenn man auf die Selbstlosigkeit, auf den guten Willen, auf die sittlichen Grundsätze der Menschen - ich sage immer: in bezug auf die soziale Frage - irgendwie rechnen will. Und dieser Umschwung, der dazu geführt hat, daß wir eben heute ganz anders reden müssen, als zum Beispiel noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geredet werden konnte mit Bezug auf die soziale Frage, dieser Umschwung ist eben mit dem Kommunistischen Manifest gekommen. Aber es ist nicht alles auf einmal gekommen, sondern es war ja immerhin möglich, daß auch nach dem Kommunistischen Manifest noch bis in die sechziger Jahre hinein, wie Sie alle wissen werden - manche jüngere Sozialisten haben die Zeit schon vergessen -, eine ganz andere Art des sozialen Denkens, die Art des Ferdinand Lassalle, die Herzen, die Seelen ergriffen hat. Und auch nach dem Tode von Lassalle, der 1864 erfolgt ist, hat sich noch fortgesetzt dasjenige, was Lassallescher Sozialismus war. Lassalle gehört durchaus zu den Menschen, die, trotzdem die andere Denkweise schon heraufgekommen war, noch rechneten auf die Schlagkraft der Ideen. Lassalle wollte durchaus noch die Menschen als solche ergreifen in ihrer Einsicht, in ihrem sozialen Wollen vor allen Dingen. Aber immer mehr und mehr nahm diese Lassallesche Schattierung ab und nahm überhand die andere, die marxistische Schattierung, die nur rechnen wollte auf die Interessen desjenigen Teiles der menschlichen Bevölkerung, der nur sich selbst besaß und seine Arbeitskraft. Aber es ging immerhin nicht so schnell. Solch eine Denkweise entwickelt sich erst nach und nach in der Menschheit.

In den sechziger, siebziger Jahren, auch noch in den achtziger Jahren war es durchaus so, daß die Leute, wenn sie dem Proletariat angehörten oder auch wenn sie zu den Leuten gehörten, die politisch oder sozial abhängig, wenn auch nicht gerade Proletarier waren, ihre Abhängigkeit gewissermaßen moralisch beurteilten, und daß sie die nicht abhängigen Kreise der menschlichen Bevölkerung moralisch verurteilten. Ihrem Bewußtsein nach war es böser Wille der leitenden, führenden Kreise der menschlichen Bevölkerung, daß sie die große Masse des Proletariats in Abhängigkeit ließen, daß sie sie schlecht bezahlten und so weiter.

Wenn ich es trivial ausdrücken darf, so kann ich sagen, in den sechziger, siebziger Jahren, bis in die achtziger Jahre hinein wurde viel soziale Entrüstung fabriziert und vom Standpunkt der sozialen Entrüstung aus gesprochen. Dann trat in der Mitte der achtziger Jahre der merkwürdige Umschwung eigentlich erst so recht ein. Die mehr führenden Persönlichkeiten der sozialen Bewegung hörten in den achtziger Jahren dann ganz auf, aus moralischer Entrüstung heraus über die soziale Frage zu sprechen. Das war ja die Zeit, in der groß waren und mehr oder weniger noch von jugendlichem Feuereifer durchglüht waren diejenigen Führer, die Sie, die Sie jünger sind, nur noch haben sterben sehen: Adler, Pernerstorfer, Wilhelm Liebknecht, Auer, Bebel, Singer und so weiter. Diese älteren Führer hörten gerade damals in den achtziger Jahren immer mehr auf, diesen Entrüstungssozialismus zu predigen. Und nun möchte ich es Ihnen so ausdrücken, wie wenn diese Führer des Sozialismus ihre innerste Überzeugung aussprächen, als sie damals den alten Entrüstungssozialismus überleiteten in ihre neuere sozialistische Weltanschauung. Sie werden finden, was ich Ihnen jetzt sage, das stehe ja in keinem Buche über die Geschichte des Sozialismus. Aber wer dazumal gelebt hat und das mitgemacht hat, der weiß, daß die Leute, wenn man sie sich selbst überlassen hat, so geredet haben.

Nehmen wir also an, es seien in den achtziger Jahren solche führenden Leute des Sozialismus zur Diskussion zusammengekommen mit anderen, die noch Bourgeois waren in ihren Gesinnungen, und nehmen wir an, es wäre noch eine dritte Sorte dagewesen, Bourgeois, die Idealisten waren, die allen Menschen Gutes wünschten und die damit einverstanden gewesen wären, wenn alle Menschen glücklich gemacht worden wären. Da konnte es geschehen, daß die Bourgeois erklärten, es müßte immer Leute geben, die arm sind und solche, die reich sind und so weiter, denn nur das könne die menschliche Gesellschaft aufrechterhalten. Dann erhob sich vielleicht die Stimme eines von denjenigen, welche Idealisten waren, die da entrüstet waren darüber, daß so viele Leute in Armut und Abhängigkeit leben mußten. So einer sagte dann vielleicht: Ja, das muß erreicht werden, daß klar gemacht wird diesen besitzenden Leuten, den Unternehmern, den Kapitalisten, daß sie loslassen müssen von ihrem Besitz, daß sie Einrichtungen treffen müssen, durch welche die große Masse in eine andere Lage kommt, und dergleichen. -

Da wurden sehr schöne Reden gehalten aus diesen Tönen heraus. Dann aber erhob solch einer seine Stimme, der damals sich gerade hineinfand in den Sozialismus und seinen Werdegang, und sagte: Was reden Sie da, Sie sind ein Kind! Das ist alles Kinderei, alles Unsinn. Die Leute, die da Kapitalisten sind, die Unternehmer sind, das sind alles arme Hascherl die wissen nichts anderes, als was ihnen eingebleut ist von Generationen her. Wenn die auch hörten, sie sollten es anders machen, dann könnten sie es nicht einmal, denn sie kämen nicht darauf, wie sie es machen sollten. So etwas geht gar nicht in ihre Schädel hinein, daß man etwas anders machen kann. Man darf nicht die Leute anklagen, man darf nicht die Leute moralisch verurteilen, die sind gar nicht moralisch zu verurteilen; die Kerle sind da hineingewachsen, diese armen Hascherl in das ganze Milieu, und das inspiriert sie mit den Ideen, die sie haben. Sie moralisch anklagen, heißt nichts verstehen von den Gesetzen der Menschheitsentwickelung, heißt sich Illusionen hingeben. Diese Menschen können niemals wollen, daß die Welt eine andere Form annimmt. Mit Entrüstung von ihnen zu sprechen, ist die pure Kinderei. Das ist alles notwendig so geworden, und anders kann das auch wiederum nur durch Notwendigkeit werden. Seht ihr, mit solchen kindischen Kerlen, die da glauben, sie könnten den Besitzenden, den Kapitalisten predigen, es solle eine neue Weltordnung heraufgeführt werden, mit solchen kindischen Kerlen kann man nichts anfangen. Mit ihnen ist keine neue Weltordnung herbeizuführen. Die geben sich nur dem Glauben hin, daß man anklagen kann diese armen Hascherl von Kapitalisten, daß sie eine andere Welt machen sollten.

Ich muß die Sache etwas deutlich aussprechen, daher ist manches in scharfen Konturen gesagt, aber doch so, daß Sie die Reden, von denen ich spreche, durchaus überall hören konnten. Wenn sie geschrieben wurden, dann wurden sie ja ein bißchen retuschiert, ein bißchen anders geschrieben, aber das lag zugrunde.

Dann redeten sie weiter: Mit den Kerlen - das sind Idealisten, die stellen sich die Welt im Sinne einer Ideologie vor -, mit denen ist nichts anzufangen.

Wir müssen uns auf diejenigen verlassen, die nichts haben, die daher aus ihren Interessen etwas anderes wollen als die, die mit kapitalistischen Interessen verbunden sind. Und auch nicht aus irgendeinem moralischen Grundsatz werden die eine Änderung der Lebenslage anstreben, sondern nur aus Begehrlichkeit, mehr zu haben als sie haben, ein unabhängiges Dasein zu haben. - Diese Denkweise kam in den achtziger Jahren immer mehr und mehr herauf, die Menschheitsentwickelung nicht mehr im Sinne aufzufassen, daß einem der einzelne Mensch besonders verantwortlich ist für das, was er tut, sondern daß er aus der wirtschaftlichen Lage heraus tut, was er tun muß. Der Kapitalist, der Unternehmer schindet die anderen in höchster Unschuld. Derjenige, der Proletarier ist, der wird nicht aus einem sittlichen Grundsatz, sondern in aller Unschuld aus einer menschlichen Notwendigkeit heraus revolutionieren, und denjenigen die Produktionsmittel, das Kapital aus den Händen nehmen, die es eben haben. Das muß sich abspielen als eine geschichtliche Notwendigkeit. - Diese Denkweise kam herauf.

Nun sehen Sie, es war eigentlich erst im Jahre 1891 auf dem Erfurter Parteitag, als dann aller Lassallianismus, der eben doch noch auf die Einsicht der Menschen basiert war, überging in den Glauben an das sogenannte «Erfurter Programm», welches bestimmt war, den Marxismus zur offiziellen Anstauung des Proletariats zu machen. Lesen Sie die Programme des Gothaer, des Eisenacher Parteitages durch, da werden Sie zwei Forderungen finden als echt proletarische Forderungen der damaligen Zeit, die noch zusammenhängen mit Lassallianismus. Die erste Forderung war die Abschaffung des Lohnverhältnisses, die zweite Forderung war die politische Gleichstellung aller Menschen, die Abschaffung aller politischen Vorrechte. Auf diese beiden Forderungen gingen alle proletarischen Forderungen aus bis zu den neunziger Jahren, bis zu dem Erfurter Parteitag, der den großen Umschwung brachte. Schauen Sie einmal diese beiden Forderungen genau an und vergleichen Sie sie mit den Hauptforderungen des Erfurter Parteitages.

Welches sind nun die Hauptforderungen des Erfurter Parteitages? Es sind: Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in das gemeinschaftliche Eigentum, Verwaltung aller Gütererzeugung, aller Produktion durch eine Art große Genossenschaft, in welche sich umzuwandeln hat der bisherige Staat. Vergleichen Sie das ehemalige Programm, welches das proletarische Programm der achtziger Jahre war, mit demjenigen, was aus dem Erfurter Parteiprogramm hervorgegangen ist und seit den neunziger Jahren existiert, so werden Sie sagen, im alten Gothaer und Eisenacher Programm sind noch rein menschliche Forderungen, die Forderungen des Sozialismus: politische Gleichheit aller Menschen, Abschaffung des entwürdigenden Lohnverhältnisses. Im Anfang der neunziger Jahre hat schon gewirkt dasjenige, was ich Ihnen charakterisiert habe als die Gesinnung, die im Laufe der achtziger Jahre heraufgekommen ist. Da ist verwandelt worden das, was noch mehr Menschheitsforderung ist, in eine rein wirtschaftliche Forderung. Da lesen Sie nichts mehr von dem Ideal, das Lohnverhältnis abzuschaffen, da lesen Sie nur von Wirtschaftsforderungen.

Nun sehen Sie, diese Sachen hängen dann zusammen mit dem allmählichen Ausbilden der Idee, die man hatte über die äußerliche Herbeiführung eines besseren sozialen Zustandes der Menschheit. Es ist auch oftmals von solchen Leuten, die noch Ideale hatten, gesagt worden: Was schadet es denn, wenn man alles kurz und klein schlägt, es muß ja eine andere Ordnung herbeigeführt werden, also muß eine Revolution kommen. Es muß alles kurz und klein geschlagen werden, es muß der große Kladderadatsch kommen, denn daraus kann nur eine bessere Gesellschaftsordnung entstehen, das sagten noch manche Leute in den achtziger Jahren, die gute idealistische Sozialisten waren. Denen wurde geantwortet von den anderen, die auf der Höhe der Zeit standen, die die Führer geworden waren, diejenigen, die jetzt, wie ich sagte, begraben sind, sie sagten: Das hat alles keinen Sinn, solche plötzlichen Revolutionen sind sinnlos. Das einzige, was Sinn hat, das ist, daß wir den Kapitalismus sich selber überlassen. Wir sehen ja, früher gab es nur kleine Kapitalisten, dann sind es große geworden, sie haben sich zusammengetan mit anderen, sind zu Kapitalistengruppen geworden. Die Kapitalien haben sich immer mehr konzentriert. In diesem Prozeß sind wir drinnen, daß die Kapitalien immer mehr und mehr konzentriert werden.

Dann wird die Zeit kommen, wo eigentlich nur noch einige wenige große kapitalistische Trusts, Konsortien vorhanden sind. Dann wird es nur noch notwendig sein, daß das Proletariat, als die nicht besitzende Klasse, eines schönen Tages auf ganz friedliche Weise, auf parlamentarischem Wege den Kapitalistenbesitz, die Produktionsmittel überführt in den Gemeinschaftsbesitz. Das kann ganz gut gemacht werden, aber man muß abwarten. Bis dahin müssen sich die Dinge entwickeln. Der Kapitalismus, der ohnedies ein unschuldiges Kind ist, er kann nichts dafür, daß er menschenschinderisch ist, das bringt die geschichtliche Notwendigkeit herauf. Er arbeitet aber auch vor, er konzentriert die Kapitalien. Sie sind dann schön beieinander, dann brauchen sie nur übernommen zu werden in die Allgemeinheit. Nichts von rascher Revolution, sondern langsame Entwickelung !

Sehen Sie, das Geheimnis der Anschauung, das öffentliche Geheimnis der Anschauung, das da zugrunde liegt, hat ja in den neunziger Jahren Engels schön auseinandergesetzt. Er hat gesagt: Wozu schnelle Revolutionen? Dasjenige, was langsam geschieht unter der Entwickelung des neueren Kapitalismus, dieses Zusammenrotten der Kapitalien, dieses Konzentrieren der Kapitalien, das arbeitet ja alles für uns. Wir brauchen nicht erst eine Gemeinsamkeit herzustellen, die Kapitalisten machen das schon. Wir brauchen es nur überzuführen in den proletarischen Besitz. Daher haben sich eigentlich die Rollen, sagt Engels, vertauscht. Wir, die wir das Proletariat vertreten, haben uns ja gar nicht zu beklagen über die Entwickelung, die anderen haben sich zu beklagen. Denn die Kerle, die heute in den Kreisen der besitzenden Leute sind, die müssen sich sagen: Wir sammeln die Kapitalien an, aber für die anderen sammeln wir sie an. Seht, die Kerle müssen sich eigentlich sorgen, daß sie ihre Kapitalien verlieren. Die kriegen eingefallene Backen, die werden dürr von diesen Sorgen, was da werden soll. Wir gedeihen gerade als Sozialisten sehr gut in dieser Entwickelung. Wir kriegen, sagt Engels, pralle Muskeln und volle Backen und sehen aus wie das ewige Leben.

Das sagt Engels in einer Einleitung, die er in den neunziger Jahren schrieb, indem er charakterisierte, wie es ganz recht ist, was sich da herausentwickelt, und wie man nur abzuwarten brauchte die Entwickelung, die eigentlich durch den Kapitalismus von selber besorgt wird, der dann einmündet in das, was ich Ihnen dargestellt habe: in die Überführung desjenigen, was der Kapitalismus erst konzentriert hat, in den Gemeinbesitz derjenigen, die bisher nichts gehabt haben. Das war auch eigentlich die Stimmung, in der das zwanzigste Jahrhundert von den führenden Kreisen des Proletariats betreten worden ist.