Waldorfschule muss nicht eine freie Schule sein

Quelle: GA 260a, S. 461-462, 2. Ausgabe 1987, 16.03.1924, Dornach

Die heutige Versammlung haben wir ja eigentlich deshalb hierher gebeten, weil uns von unseren Berner Freunden die Bedenken mitgeteilt worden sind, die in der Schweiz bestehen könnten gegen den Namen des Schulvereins, wie er jetzt ihn trägt. Der Schulverein heißt ja: Schulverein für freies Erziehungs- und Unterrichtswesen in der Schweiz. Nun ist die Sache so - und ich kann durchaus diese Bedenken einsehen und teilen -, daß ja niemand in der Schweiz das Bewußtsein hat, daß das Schulwesen als solches unter irgendeiner Unfreiheit leide, und daß man Anstoß nimmt an dieser Bezeichnung. Wir sollten daher dem Schulverein einen Namen geben, der möglichst unverfänglich ist, an dem möglichst in der schweizerischen Außenwelt kein Anstoß genommen wird. In der Schweiz ist man ja frei, und in die Schweiz Freiheit hineinzutragen, denken die Leute in der Schweiz, das hieße Eulen nach Athen tragen. Das geht eben nicht. Daher ist es eine Beleidigung, zu sagen: Schulverein für freies Erziehungs- und Unterrichtswesen. Auf der andern Seite ist es natürlich schwer, einen Namen zu finden. Aber vielleicht äußern Sie sich zu der Sache.

Es äußern sich Dr. Blümel, Dr. Lagutt, Herr Geering-Christ.

Dr. Steiner: Ich glaube, da würden wir die Berner mißverstehen, wenn wir es so auffassen. Der Tenor der Sache liegt nicht darinnen, sondern darinnen, daß man in der Schweiz weniger als anderswo geneigt ist, sich direkt gegen die Staatsschule als solche zu stellen. Es ist in all den Ländern, in denen bisher von unserem Waldorfschul-Prinzip geredet worden ist, eine größere Geneigtheit vorhanden, sich einzustellen auf vom Staate unabhängige Schulen als hier in der Schweiz, wo man eigentlich die Meinung hat, ganz abgesehen jetzt vom Methodischen und so weiter: die Tatsache, daß die Schulen Staatsschulen sind, ist das Allerbeste. Wir werden uns, glaube ich, wenn auch nicht gerade zu Feinden, aber uns zu bedenklich anzusehenden Leuten für diejenigen machen, die uns sonst hier in der Schweiz in bezug auf das Allgemeine unserer Sache entgegenkommen, wenn wir irgendwie das zum Ausdruck bringen, daß wir eigentlich gegen die Staatsschule wären. Es handelt sich dabei darum, daß man die Frage, die hier einmal in einer Versammlung des Schulvereins an mich gestellt worden ist, klar herausarbeitet.

Ich sagte dazumal: Das, was eigentlich das Waldorfschul-Prinzip will, kann in jeder Schule durchgeführt werden, denn es ist ein methodisches Prinzip. Es ist ein Prinzip der Art und Weise des Unterrichtes. Und wenn nun, wie das zum Beispiel in den verschiedenen Staaten Deutschlands der Fall ist, bei einer großen Anzahl von Leuten die Ansicht besteht, daß man sie in den Staatsschulen nicht durchführen kann, dann nimmt man keinen Anstoß daran, wenn schon im Namen das zum Ausdrucke kommt. Aber hier wird man daran Anstoß nehmen. Und so habe ich die Berner verstanden, daß man gerade daran Anstoß nehmen wird, wenn man sich darauf verlegt: wir wollen vom Staate unabhängige Schulen haben. Deshalb sagte ich dazumal, da wir ja ohnedies in der nächsten Zeit keine Aussicht haben, im großen Maßstabe freie Schulen zu gründen, wir müssen das, was ja wirklich tief wahr ist, hier besonders tief betonen, daß unsere Methodik auch in der Staatsschule durchgeführt werden kann, da sie ja ein Geistiges ist, das im Hintergrunde steht und das überall durchgeführt werden kann, und daß wir zunächst eine, zwei, drei, so viel wir machen können, Musterschulen haben müssen, um zu zeigen, wie man das machen kann, schon mit Rücksicht auf die Frage, die dazumal auftauchte.

Deshalb wird es gut sein, wenn wir diese Bedenken - und ich glaube, sie sind nicht bloß in Bern, sie sind fast überall vorhanden - wegräumen wollen, daß wir es schon im Namen zum Ausdrucke bringen: wir wollen nicht die ganze Schweiz mit «freien» Schulen überschwemmen. Das nehmen uns nicht nur die Katholiken krumm, sondern jeder demokratische Schweizer nimmt es krumm, weil er sich das nicht sagen lassen will, daß Staatsschulen unfrei seien.