Ein Waldorflehrer hat keine Instanz über sich

Quelle: GA 298, S. 080-082, 2. Ausgabe 1980, 30.11.1921, Stuttgart

Die Dinge, die bei uns gepflegt werden, sind wirklich aus dem herausgeholt, was ich Menschenkenntnis genannt habe. Und das ist eben gerade das Charakteristische unserer Schule. Deshalb ist es ja auch, daß im Grunde genommen, soviel wir sehen können, die Kinder außerordentlich gern in die Schule kommen. Ich komme ja immer von Zeit zu Zeit in die Schule und nehme am Unterricht teil. Wir streben an, so aus der Natur des Kindes heraus zu arbeiten, daß das Kind gewissermaßen das Gefühl erhält: Ich möchte ja das wissen, das können, was ich da wissen und können soll - und daß es nicht das Gefühl hat, es werde ihm etwas aufgezwungen. Das muß man natürlich für jeden Schulgegenstand, weil ja jeder anders ist, wiederum in einer besonderen Weise herausbilden.

Und dann muß der ganze Unterricht durchdrungen sein von einem gewissen Erziehungsprinzip. Das läßt sich nur dadurch gewinnen, daß der Lehrer selber ganz im geistigen Leben drinnen steht. Das kann er nicht, wenn er nicht auch die Verantwortlichkeit kennt gegenüber dem geistigen Leben. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, die große Verantwortlichkeit gegenüber dem geistigen Leben, die hat man nur dann, wenn sie einem nicht ersetzt werden soll durch ein bloß äußerliches Verantwortlichkeitsgefühl. Wenn man sich bloß richtet nach dem, was Verordnung ist für jedes Schuljahr, dann glaubt man sich auch frei von der Notwendigkeit, von Woche zuWoche erlebend darüber nachzuforschen, was man mit Bezug auf den einzelnen Gegenstand in der Schule vorzunehmen hat, und wie man es vorzunehmen hat. Dieses immer fort und fort aus dem lebendigen geistigen Quell Herausschöpfen, das ist das, was unseren Lehrern eigen sein soll. Da muß man sich dem geistigen Leben gegenüber verantwortlich fühlen. Dann muß man das geistige Leben frei wissen, dann muß die Schule Selbstverwaltung haben, dann darf nicht der Lehrer ein Beamter sein; er muß vollständig sein eigener Herr sein; denn er erkennt einen erhabeneren Herren an als eine äußere Instanz, das geistige Leben selber, zu dem er in einer unmittelbaren Beziehung steht, nicht durch Schulbehörden, durch Rektoren oder Schulinspektoren oder Oberschulräte, Studienräte und so weiter hindurch. Ein wirklich freies Schulleben hat dieses direkte Inbeziehungstehen zu den Quellen des geistigen Lebens notwendig. Denn nur wenn man dieses in sich hat, kann man auch den geistigen Quell im Schulzimmer den Kindern vermitteln. Das streben wir immer mehr und mehr an, das wollen wir. Und wir haben selbst in der Zeit, in der wir gewirkt haben, von Monat zu Monat sorgfältig geprüft, wie unsere Grundsätze, unsere Kunstregeln bei den Kindern wirken. Und in den folgenden Jahren wird manches schon unter anderen Gesichtspunkten, unter vollkommeneren Gesichtspunkten sich vollziehen als im vorhergehenden. Und so möchten wir gerade aus einem unmittelbaren Leben, wie das nicht anders sein kann, wenn es aus geistigen Untergründen heraus fließt, diese Schule leiten.

Fürchten Sie durchaus nicht, daß wir aus dieser Schule eine Weltanschauungsschule machen wollen und etwa anthroposophische oder andere Dogmen den Kindern eintrichtern wollen. Das fällt uns nicht ein. Wer so etwas sagen würde, daß wir den Kindern gewisse Dinge, die gerade anthroposophische Überzeugungen sind, beibringen wollen, der würde nicht die Wahrheit sagen. Wir wollen vielmehr

gerade aus dem, was uns Anthroposophie ist, eine pädagogische Kunst entwickeln. Das «Wie» im Unterricht, das ist es, was wir gewinnen wollen aus unserer geistigen Erkenntnis. Nicht wollen wir den Kindern dasjenige eintrichtern, was wir meinen, sondern wir glauben eben, daß sich Geisteswissenschaft von jeder anderen Wissenschaftsart dadurch unterscheidet, daß sie den ganzen Menschen ausfüllt, ihn auf allen Gebieten geschickt macht, vor allen Dingen in Bezug auf die Behandlung von Menschen. Auf dieses «Wie» wollen wir sehen, nicht auf das «Was». Das «Was» ergibt sich aus den sozialen Notwendigkeiten; das muß man mit vollem Interesse ablesen an dem, was der Mensch wissen und können soll, wenn er sich als tüchtiger Mensch in die Zeit hineinstellen soll. Aber das «Wie», wie den Kindern etwas beizubringen ist, das ergibt sich nur aus einer gründlichen, tiefen und liebevollen Menschenerkenntnis. Die soll walten und wirken in unserer Waldorfschule. [ ... ]

Wir brauchen in unserer Lehrerschaft und in all denjenigen, die mit unserem Unterrichten verbunden sind, ein fortwährendes Leben in Liebe zum Lehren, in Liebe zur Kinderbehandlung. Es wird diese dadurch erreicht, daß hinter unserer Lehrerschaft und hinter allen denen, die mit unserer Schule zu tun haben, ein wirkliches, geistiges Leben steht, ein geistiges Leben, das es ehrlich und aufrichtig mit dem geistigen, dem wirtschaftlichen, dem staatlichen Aufschwung und Fortschritt der Menschheit meint. Es wird dadurch erreicht, daß diese Gesinnung des Unterrichtens, daß die Geschicklichkeit in der Unterrichtskunst, wie sie in unserer Schule wirken sollen, umgeben sind von dem Wall, den verständnisvoll uns entgegenkommende, unserer Schule in herzlicher Freundschaft zugetane Eltern bilden. Haben wir diese, dann, meine lieben Freunde, wird das Werk unserer Schule gelingen, und wir können überzeugt sein, meine lieben, verehrten Anwesenden, daß, indem wir Gutes tun an unserer Schule, anIhren Kindern, wir auch zu gleicher Zeit ein Gutes tun an der ganzen Menschheit, wie sie sich in die Zukunft hinein entwickeln soll. Denn ein richtiges Erziehungswerk, ein richtiges Schulwerk tun, heißt zu gleicher Zeit ein ernstes, wahres Werk des Menschenfortschritts tun.