Soziales Urphänomen

01.12.1918

Soziales Urphänomen

Der Mensch hat sich selbst ungeheuer gerne. Und durch die Selbstliebe ist es, daß der Mensch Selbsterkenntnis zu einer Quelle von Illusionen macht. So möchte sich der Mensch nicht gestehen, daß er eigentlich nur zur Hälfte ein soziales Wesen ist, daß er zur anderen Hälfte ein antisoziales Wesen ist. [...] Das ist aber, um im Goetheschen Sinne zu sprechen, das Urphänomen der Sozialwissenschaft. (Rudolf Steiner)

Soziale und antisoziale Triebe
in Denken, Fühlen und Wollen

[999/01] Letzthin habe ich ausdrücklich betont, daß - wenn wir das Wort wiederum so nehmen, wie ich es damals angeführt habe - ein Paradieseszustand auf dem physischen Plane unmöglich ist, daß daher alle sogenannten Lösungen der sozialen frage, welche mehr oder weniger bewußt oder unbewußt einen solchen Paradieseszustand auf dem physischen Plan herbeiführen wollen, der noch dazu ein dauernder sein soll - daß alle solche sogenannten Lösungen der sozialen Frage auf Illusionen beruhen müssen. In dem Lichte, das durch diese Angabe gegeben ist, bitte ich Sie, überhaupt alle Ausführungen, die ich mit Bezug auf Zeiterscheinungen der Gegenwart mache, aufzunehmen. Denn zweifellos liegt in der gegenwärtigen Wirklichkeit eine bestimmte Forderung, die man die Forderung nach einer sozialen Gestaltung der Menschheitsverhältnisse nennen kann. Es handelt sich nur darum, daß man diese Frage nicht verabstrahiert, daß man diese Frage nicht im absoluten Sinne nimmt, sondern - wie ich das letztemal schon sagte - daß man aus geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen heraus sich Einsicht verschafft in dasjenige, was gerade unserer Zeit notwendig ist. Über das, was aus geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen gerade unserer Zeit notwendig ist, wollen wir nun noch einiges besprechen.
[999/02] Was gewöhnlich heute eigentlich im weitesten Umfange übersehen wird, wenn von sozialer Frage oder sozialen Forderungen gesprochen wird, das ist, daß gemäß den Anforderungen unserer Zeit die soziale Frage ohne eine intimere Kenntnis des menschlichen Wesens überhaupt nicht angefaßt werden kann. Man kann ausdenken, welche sozialen Programme man will, man kann noch so ideale soziale Zustände herbeiführen wollen, alles das muß fruchtlos bleiben, wenn es nicht darauf ausgeht, den Menschen als solchen zu erfassen, wenn es nicht auf die intimere Erkenntnis des Menschen hinausläuft. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß die soziale Gliederung, von der ich gesprochen habe, diese soziale Dreigliederung, die ich im eminentesten Sinne als eine Forderung unserer Zeit hinstellen mußte, gerade deshalb für die heutige Zeit gilt, weil sie auf die Erkenntnis des Menschen in jeder Einzelheit Rücksicht nimmt, auf eine Erkenntnis des Menschen, wie er jetzt im gegebenen Zeitpunkt der fünften nachatlantischen Zeit ist. Auch von diesem Gesichtspunkte aus bitte ich Sie, alle Auseinandersetzungen, die ich machen werde, zu betrachten.
[999/03] Vor allen Dingen kommt in Frage, daß eine von den heutigen Verhältnissen geforderte soziale Ordnung nicht herzustellen ist, ohne daß man sich bewußt wird: Diese soziale Ordnung ist damit verknüpft, daß der Mensch selbst sich erkennt in seiner Beziehung zum Sozialen. Man kann sagen: Von allen Erkenntnissen ist doch Menschenerkenntnis ziemlich die schwerste, daher ja auch in den alten Mysterien das « Erkenne dich selbst » als das höchste Ziel des Weisheitsstrebens hingestellt worden ist. Was dem Menschen heute ganz besonders schwierig wird, ist die Einsicht in das, was in ihm alles aus dem Kosmos herein in Wirksamkeit ist, was in ihm alles wirkt. Der Mensch möchte sich selbst am liebsten so einfach als möglich vorstellen, weil er gerade heute in seinem Denken, in seinen Vorstellungen besonders bequem geworden ist. Aber der Mensch ist eben nicht ein einfaches Wesen. Gegen diese Wirklichkeit läßt sich eben nicht durch Willkür in Vorstellungen irgend etwas machen. Der Mensch ist vor allen Dingen auch in sozialer Beziehung kein einfaches Wesen. Er ist gerade in sozialer Beziehung ein Wesen, das er unendlich gern nicht sein möchte; er möchte unendlich gern anders sein, als er ist. Man kann sagen: Der Mensch hat sich ja eigentlich ungeheuer gerne. Das ist schon einmal nicht in Abrede zu stellen: Der Mensch hat sich selbst ungeheuer gerne. Und durch die Selbstliebe ist es, daß der Mensch Selbsterkenntnis zu einer Quelle von Illusionen macht. So möchte sich der Mensch nicht gestehen, daß er eigentlich nur zur Hälfte ein soziales Wesen ist, daß er zur anderen Hälfte ein antisoziales Wesen ist.
[999/04] Dies sich trocken und energisch zu gestehen, daß der Mensch gleichzeitig ein soziales und ein antisoziales Wesen ist, das ist eine Grundforderung der sozialen Menschenerkenntnis. Man kann gut sagen: Ich strebe an, ein soziales Wesen zu werden; - man muß es auch sagen, weil, ohne daß man ein soziales Wesen ist, man überhaupt nicht mit Menschen richtig leben kann. Aber zugleich liegt es in der menschlichen Natur, fortwährend gegen das Soziale anzukämpfen, fortwährend ein antisoziales Wesen zu sein.
[999/05] Wir haben den Menschen wiederholt für die verschiedensten Gesichtspunkte nach der Dreigliedrigkeit seiner Seele, nach Denken oder Vorstellen, Fühlen und Wollen betrachtet. Wir können einmal heute den Menschen in sozialer Beziehung wiederum nach Denken oder Vorstellen, Fühlen und Wollen betrachten. Vor allen Dingen muß man sich mit Bezug auf das Vorstellen, das Denken klar sein, daß in diesem Vorstellen, in diesem Denken ein unendlich bedeutungsvoller Quell des Antisozialen des Menschen liegt. Indem der Mensch einfach ein denkendes Wesen ist, ist er ein antisoziales Wesen. Hier kann nur Geisteswissenschaft zur Wahrheit kommen über die Dinge. Denn nur Geisteswissenschaft kann einiges Licht verbreiten über die Frage: Wie stehen wir dann überhaupt als Menschen in Beziehung zu anderen Menschen? Wann ist denn gewissermaßen das rechte Verhältnis von Mensch zu Mensch für das gewöhnliche, alltägliche Bewußtsein, besser gesagt, für das gewöhnliche, alltägliche Leben hergestellt? Ja, sehen Sie, wenn dieses richtige Verhältnis hergestellt ist zwischen Mensch und Mensch, dann ist auch zweifellos die soziale Ordnung da. Aber nun liegt - man mag ja sagen: unglückseligerweise, aber der Erkennende sagt: notwendigerweise - die eigentümliche Tatsache vor, daß wir ein regelrechtes Verhältnis von Mensch zu Mensch nur im Schlafe entwickeln. Nur wenn wir schlafen, stellen wir ein ungeschminktes, richtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch her. In dem Augenblicke, wo Sie das gewöhnliche Tagesbewußtsein abgelähmt haben, wo Sie in dem Zustande zwischen Einschlafen und Aufwachen im traumlosen Schlafe sind, da sind Sie - jetzt rede ich mit Bezug auf das Vorstellen, mit Bezug auf das Denken - ein soziales Wesen. In dem Augenblicke, wo Sie aufwachen, beginnen Sie durch das Vorstellen, durch das Denken antisoziale Impulse zu entwickeln. Man muß sich nur denken, wie kompliziert dadurch die menschlichen Gesellschaftsverhältnisse werden, daß eigentlich der Mensch nur im Schlafe zu dem andern Menschen sich richtig verhält. Ich habe das von anderen Gesichtspunkten aus verschiedentlich angedeutet. Ich habe zum Beispiel angedeutet, daß man gut chauvinistisch national sein kann im Wachen - wenn man im Schlafe ist, wird man gerade unter diejenigen Menschen versetzt, ist man mit denen zusammen, namentlich mit ihrem Volksgeist, die man im Wachen am allermeisten haßt. Dagegen läßt sich schon nichts machen. Der Schlaf ist ein sozialer Ausgleicher. Aber da die moderne Wissenschaft über den Schlaf überhaupt nichts wissen will, so wird sie in ihre sozialen Betrachtungen ja noch lange nicht einbeziehen, was ich eben jetzt gesagt habe.
[999/06] Aber durch das Denken sind wir im wachen Zustande noch in eine andere antisoziale Strömung hineinversetzt. Nehmen Sie an, Sie stehen einem Menschen gegenüber. Man steht ja nur allen Menschen dadurch gegenüber, daß man dem einzelnen gegenübersteht. Sie sind ein denkender Mensch, natürlich, sonst wären Sie kein Mensch, wenn Sie nicht ein denkender Mensch wären. Ich rede jetzt nur vom Denken; vom Fühlen und Wollen werden wir nachher sprechen - vom Fühlen- und Wollen-Standpunkte aus kann man etwas einwenden, aber vom Vorstellungsstandpunkte aus ist das richtig, was ich jetzt sage. Indem Sie als ein vorstellender, denkender Mensch einem andern gegenüberstehen, liegt das Eigentümliche vor, daß einfach durch das gegenseitige Verhältnis, das sich zwischen Mensch und Mensch bildet, in Ihrem Unterbewußtsein das Bestreben vorhanden ist, durch den andern Menschen eingeschläfert zu werden. Sie werden geradezu durch den andern Menschen in Ihrem Unterbewußtsein eingeschläfert. Sehen Sie, das ist das normale Verhältnis von Mensch zu Mensch, daß, wenn wir miteinander zusammenkommen, der eine immer - das Verhältnis ist natürlich gegenseitig - bestrebt ist, das Unterbewußtsein des anderen einzuschläfern. Und was müssen Sie daher als denkender Mensch tun ~, Das Ganze, was ich jetzt erzähle, geht selbstverständlich im Unterbewußtsein vor sich, aber deshalb geht es nicht minder wirklich vor sich. Es ist eine Tatsache, wenn es auch nicht ins gewöhnliche Bewußtsein heraufkommt. Wenn Sie also einem Menschen gegenübertreten, schläfert er Sie ein, das heißt, Ihr Denken schläfert er ein, nicht Ihr Fühlen und Wollen. Jetzt müssen Sie, wenn Sie ein denkender Mensch bleiben wollen, sich innerlich dagegen wehren. Sie müssen Ihr Denken aktivieren. Sie müssen zur Abwehr übergehen gegen das Einschlafen. Das Einem-andern-Menschen-Gegenüberstehen bedeutet immer: sich erwachen machen, sich aufwecken, sich losmachen von dem, was er mit einem will.
[999/07] Sehen Sie, solche Dinge gehen im Leben vor, und man begreift das Leben nur, wenn man es geisteswissenschaftlich betrachtet. Sprechen Sie mit einem Menschen, ja, seien Sie nur mit einem Menschen zusammen, so bedeutet das, daß Sie sich fortwährend wach erhalten müssen gegen sein Bestreben, Sie einzuschläfern in bezug auf Ihr Denken. Das kommt zwar nicht in das gewöhnliche Bewußtsein herauf, wirkt aber im Menschen als antisozialer Impuls. Gewissermaßen tritt uns jeder Mensch als ein Feind unseres Vorstellens, als ein Feind unseres Denkens entgegen. Wir müssen unser Denken schützen gegen den anderen. Das bedingt, daß wir in bezug auf das Vorstellen, auf das Denken im hohen Grade antisoziale Wesen sind und uns zu sozialen Wesen überhaupt nur erziehen können. Würden wir nicht durch Erziehung, durch Selbstzucht, durch die Notwendigkeit, in der wir leben, dieses fortwährende Abwehren des anderen Menschen treiben müssen, dann könnten wir durch unser Denken soziale Wesen sein. Aber weil wir es treiben müssen, müssen wir vor allen Dingen uns klar sein, daß wir soziale Wesen erst werden können, durch Selbstzucht werden können, daß wir es aber als denkende Menschen von Natur aus zunächst nicht sind.
[999/08] Daraus ersehen Sie aber auch, daß ohne Eingehen auf das Seelische, auf die Tatsache, daß der Mensch ein denkendes Wesen ist, sich überhaupt über die soziale Frage nichts sagen läßt, denn die soziale Frage greift in große Intimitäten des Menschenlebens ein. Und wer nicht berücksichtigt, daß der Mensch, indem er denkt, einfach antisoziale Impulse entwickelt, der kommt zu keiner Aufklärung über die soziale Frage. Im Schlaf haben wir es eben leicht. Da sind wir ohnedies eingeschläfert. Da also kann sich die Brücke zu allen Menschen hinüberbauen. Im Wachen strebt der andere Mensch, indem er sich uns gegenüberstellt, uns einzuschläfern, damit die Brücke zu ihm gebaut werden kann - und ebenso wir ihm gegenüber. Aber wir müssen uns dagegen wehren, denn sonst würden wir einfach in unserem Verkehr mit Menschen um unser denkendes Bewußtsein gebracht.
[999/09] Es ist also nicht so leicht, einfach soziale Forderungen aufzustellen; denn die meisten Menschen, die soziale Forderungen aufstellen, werden sich dessen gar nicht bewußt, wie tief der Antisozialismus in der Menschennatur verankert ist. Und vor allen Dingen ist der Mensch nicht geneigt, sich so etwas als Selbsterkenntnis zu sagen. Es könnte ihm ja leicht werden, wenn er sich einfach gestehen würde, daß er nicht allein ein antisoziales Wesen ist, sondern daß er das mit allen anderen Menschen gemeinschaftlich hat. Aber so ein bißchen im geheimen hat doch jeder Mensch, selbst wenn er zugibt, daß im allgemeinen der Mensch ein antisoziales Wesen als Denker ist, für sich das Reservaturteil: Aber ich bin eine Ausnahme. Wenn er sich auch das nicht voll gesteht, aber im geheimen dämmert immer im Bewußtsein so ein bißchen das: Ich bin die Ausnahme, die andern sind solche antisozialen Wesen als Denker. Das wird ja den Menschen ganz besonders schwierig, im Ernste das zu nehmen, daß man als Mensch nicht etwas sein kann, sondern fortwährend etwas werden muß. Das ist aber etwas, was mit den Dingen, die man in unserer Zeit lernen kann, ganz besonders gründlich zusammenhängt.
[999/10] Heute ist es ja möglich, was man vor fünf bis sechs Jahren noch gar nicht hat tun wollen, darauf hinzuweisen, daß gewisse Schäden und Mängel der Menschennatur über die ganze Erde hin gehen, denn sie haben sich zu sehr bloßgestellt, diese Schäden und Mängel. Die Menschen suchen sich hinwegzutäuschen über diese Notwendigkeit, etwas zu werden. Sie versuchen vor allen Dingen auf das nicht hinzuweisen, was sie werden wollen, sondern auf das, was sie sind. So wird man jetzt finden, daß sich eine große Anzahl der Mitglieder der Entente und Amerikas in dem denken, was sie sind, was sie einfach dadurch sind, daß sie Ententemitglieder oder Amerikaner sind. Sie brauchen nichts zu werden, sie brauchen nur darauf hinzuweisen, wie sie sich unterscheiden von den bösen Menschen der mitteleuropäischen Länder, wie diese schwarz sind, während sie allein weiß sind. Das ist etwas, was über weite Strecken der Erde eine Menschenillusion verbreitet hat, die sich natürlich mit der Zeit furchtbar rächen wird. Dieses etwas Sein-Wollen und nicht Werden-Wollen, das ist etwas, was man als Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft im Hintergrunde hat. Denn Geisteswissenschaft kann nicht anders, als den Menschen darauf verweisen, daß man fortwährend etwas werden muß, daß man nicht irgend etwas durch dies oder jenes fertig sein kann. Der Mensch täuscht sich in furchtbarster Weise über sich selbst, wenn er glaubt, auf etwas Absolutes hinweisen zu können, was bei ihm irgendeine besondere Vollkommenheit bedingt. Alles, was nicht im Werden ist, bedingt beim Menschen eine Unvollkommenheit und nicht eine Vollkommenheit. Und das, was ich Ihnen gesagt habe in bezug auf den Menschen als Denker und die dadurch erzeugten antisozialen Impulse, das hat noch eine andere wichtige Seite.
[999/11] Sehen Sie, der Mensch schwebt gewissermaßen zwischen Sozialem und Antisozialem so, wie er zwischen Wachen und Schlafen schwebt - man könnte auch sagen: das Schlafen ist sozial, das Wachen ist antisozial -, und wie er zu einem gesunden Leben zwischen Wachen und Schlafen schweben muß, so muß er schweben zwischen Sozialem und Antisozialem. Aber das ist es gerade, was für das Leben des Menschen außerordentlich stark in Betracht kommt. Denn dadurch kann der Mensch zu dem einen oder anderen mehr oder weniger hinneigen, wie man ja sogar mehr oder weniger zum Schlafen oder Wachen hinneigen kann. Es gibt Menschen, die über das Maß hinaus schlafen, die also in dem Pendelzustand, in dem der Mensch sein muß zwischen Schlafen und Wachen, sich eben nach der einen Seite der Waage hinkehren. So kann auch der Mensch mehr die sozialen oder mehr die antisozialen Impulse in sich pflegen. Dadurch sind die Menschen individuell verschieden, daß der eine mehr die sozialen, der andere mehr die antisozialen Impulse pflegt. Man kann, wenn man einigermaßen Menschenkenntnis hat, danach die Menschen gut unterscheiden. Sie teilen sich genau in diese zwei Klassen. Die einen sind mehr dem sozialen, die anderen mehr dem antisozialen Wesen zugeneigt.
[999/12] Nun sagte ich: Es hat das noch eine andere Seite -, denn das Antisoziale hängt damit zusammen, daß wir uns gewissermaßen selber schützen vor dem Eingeschläfertwerden. Aber damit ist etwas anderes in Verbindung. Es macht uns dieses krank. Wenn auch nicht sehr wahrnehmbare - manchmal aber auch sehr wahrnehmbare - Krankheiten daraus entstehen, zu den Krankheitsursachen gehört das antisoziale Wesen. So daß es Ihnen leicht begreiflich sein wird, daß das soziale Wesen zugleich etwas Gesundendes, etwas Belebendes hat. Sie sehen aber daraus, wie merkwürdig die menschliche Natur beschaffen ist. Der Mensch kann sich nicht gesundmachen durch das soziale Wesen, ohne sich gewissermaßen einzuschläfern. Indem er sich herausreißt aus dem sozialen Wesen, stärkt er sein denkendes Bewußtsein, wird aber antisozial. Damit lähmt er aber auch die gesundenden Kräfte ab, die in seinem Unterbewußten, in seinem Organismus sind. So spielt bis in die gesunde und kranke Lebensverfassung hinein dasjenige, was als soziale und antisoziale Impulse im Menschen vorhanden ist. Wer nach dieser Richtung Menschenkenntnis entwickelt, der wird eine große Anzahl von mehr oder weniger wirklichen Krankheiten zurückführen können auf das antisoziale Wesen des Menschen. Mehr als man glaubt, hängt mit dem antisozialen Wesen des Menschen Kranksein zusammen, namentlich diejenigen Krankheiten, die ja oft recht wirkliche Krankheiten sind, die sich aber in so etwas äußern wie in « Mucken », in allerlei Selbstquälereien und im Quälen von anderen, im « Komischsein », in der Sucht, dies oder jenes « auszufressen ». Das alles hängt zusammen mit ungesunder organischer Konstitution, entwickelt sich aber allmählich, wenn man stark zu antisozialen Impulsen hinneigt.
[999/13] Überhaupt sollte man sich ganz klar darüber sein, daß hier ein sehr wichtiges Lebensgeheimnis verborgen ist. Dieses Lebensgeheimnis, das sowohl für den Erzieher wie für die menschliche Selbsterziehung außerordentlich wichtig ist, lebendig zu kennen, nicht bloß in der Theorie, das bedeutet, daß man auch den Trieb erhält, sein eigenes Leben stark in die Hand zu nehmen, über das Überwinden des Antisozialen nachzudenken, es nachzufühlen, um darüber hinauszukommen. Manche Menschen würden sich nicht nur von ihren Mucken, sondern auch von allerlei Kränklichkeiten gesund machen, wenn sie ihre antisozialen Impulse in sich untersuchen würden. Das muß man aber ernsthaftig tun. Das muß man ohne Selbstliebe tun, denn das ist für das Leben von ungeheurer Wichtigkeit. - Das sei zunächst gesagt über das Soziale und Antisoziale im Menschen mit Bezug auf das Vorstellen oder Denken.
[999/14] Nun ist der Mensch außerdem ein fühlendes Wesen, und mit dem Fühlen ist es nun wiederum eine eigentümliche Sache. Auch mit Bezug auf das Fühlen ist der Mensch nicht so einfach, als er es sich gerne vorstellen möchte. Das Fühlen von Mensch zu Mensch hat nämlich eine paradoxe Eigentümlichkeit. Das Fühlen hat die Eigentümlichkeit, daß es zunächst geneigt ist, uns eine gefälschte Empfindung von dem anderen Menschen zu geben. Die erste Neigung im Unterbewußtsein des Menschen im Verkehr von Mensch zu Mensch besteht immer darin, daß uns von dem anderen Menschen im Unterbewußtsein eine gefälschte Empfindung auftaucht, und wir müssen im Leben immer erst diese gefälschte Empfindung bekämpfen. Der Lebenskenner wird sehr leicht bemerken, daß Menschen, die nicht geneigt sind, interessevoll auf andere Menschen einzugehen, eigentlich fast über alle Menschen schimpfen, wenigstens nach einiger Zeit. Das ist ja eine Eigentümlichkeit einer großen Anzahl von Menschen. Man liebt den einen oder den anderen Menschen eine Zeitlang; aber wenn diese Zeit vergangen ist, dann regt sich so etwas in der menschlichen Natur, und man fängt an, auf den anderen irgendwie zu schimpfen, irgend etwas gegen ihn zu haben. Man weiß oftmals selbst nicht, was man gegen ihn hat, denn diese Dinge spielen sich ja sehr im Unterbewußtsein ab. Das rührt einfach davon her, daß das Unterbewußtsein die Tendenz hat, das Bild, das wir uns von dem anderen Menschen machen, eigentlich zu verfälschen. Wir müssen den anderen Menschen erst genauer kennenlernen, dann werden wir sehen, daß wir in dem Bilde, das wir zunächst gewonnen haben, Fälschungen ausradieren müssen. So paradox das klingt, es würde eine gute Lebensmaxime sein - wenn auch Ausnahmen dabei in Betracht kommen -, wenn wir uns immer vornehmen würden, das Bild des Menschen, das sich uns im Unterbewußtsein fixiert, zu korrigieren, unter allen Umständen irgendwie zu korrigieren. Denn dieses Unterbewußte, das hat die Tendenz, nach Sympathien und Antipathien die Menschen zu beurteilen. Das Leben fordert uns ja selbst dazu auf. So wie das Leben uns dazu auffordert, einfach denkender Mensch zu sein und wir dadurch antisozial sind, so fordert uns das Leben auf - die Dinge, die ich sage, sind einfach Tatsachen -, nach Sympathien und Antipathien zu urteilen. Jedes Urteil aber, das nach Sympathien und Antipathien gefällt ist, ist gefälscht. Es gibt kein wahres, kein richtiges Urteil, wenn es nach Sympathien und Antipathien gefällt ist. Und deshalb, weil immer das Unterbewußte im Fühlen nach Sympathie und Antipathie geht, entwirft es immer ein gefälschtes Bild des Nebenmenschen. Wir können gar nicht in unserem Unterbewußten ein richtiges Bild des Nebenmenschen haben. Gewiß, wir haben manchmal auch ein zu gutes, aber es ist immer nach Sympathien und Antipathien gebildet, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich eine solche Tatsache einfach zu gestehen, sich zu gestehen, daß man auch da als Mensch nicht etwas sein kann, sondern etwas werden soll. Man muß sich sagen, daß man namentlich mit Bezug auf den Gefühlsverkehr mit anderen Menschen ein erwartendes Leben führen muß. Man darf nicht auf das Bild gehen, das sich einem zunächst von dem Menschen aus dem Unterbewußten in das Bewußtsein heraufdrängt, sondern man muß versuchen, mit Menschen zu leben. Man wird sehen, wenn man versucht, mit den Menschen zu leben, daß sich aus der antisozialen Stimmung, die man eigentlich immer zunächst hat, die soziale Stimmung herausentwickelt.
[999/15] So ist es von ganz besonderer Wichtigkeit, das Gefühlsleben des Menschen zu studieren, insofern es antisozial ist. Während das Denkerleben deshalb antisozial ist, weil der Mensch sich schützen muß vor dem Einschlafen, ist das Gefühlsleben antisozial, weil der Mensch dadurch, daß er nach Sympathie und Antipathie seinen Verkehr zu Menschen einrichtet, von vornherein der Gesellschaft falsche Gefühlsströmungen einimpft. Dasjenige, was von Menschen durch Sympathien und Antipathien kommt, ist von vornherein so, daß es antisoziale Lebensströmungen in die menschliche Gesellschaft hineinwirft. Man kann sagen, so paradox das klingt, eine soziale Gesellschaft wäre eigentlich nur möglich, wenn die Menschen nicht in Sympathien und Antipathien lebten. Dann wären sie aber keine Menschen. Daraus geht Ihnen wiederum hervor, daß der Mensch zugleich ein soziales und antisoziales Wesen ist, daß also das, was man « soziale Frage » nennt, auf die Intimitäten der menschlichen Wesenheit eingehen muß. Wenn man darauf nicht eingeht, so wird man niemals zu einer Lösung der sozialen Frage für irgendeine Zeit kommen.
[999/16] Mit Bezug auf das Wollen, das sich von Mensch zu Mensch abspielt, da zeigt es sich ganz besonders auffällig und paradox, was für ein kompliziertes Wesen der Mensch ist. Sie wissen ja, mit Bezug auf das Wollen zwischen Mensch und Mensch spielen nicht nur Sympathien und Antipathien eine Rolle - die spielen ja eine Rolle, insofern wir fühlende Wesen sind -, sondern da spielen Neigungen und Abneigungen, die in Aktion übergehen, also Sympathien und Antipathien in Aktion, in ihrer Äußerung, in ihrer Offenbarung eine ganz besondere Rolle. Der Mensch verhält sich zu dem andern Menschen so, wie es ihm seine besondere Sympathie zu diesem Menschen, der besondere Grad von Liebe, den er ihm entgegenbringt, eingibt. Da spielt eine unterbewußte Inspiration eine merkwürdige Rolle. Denn dasjenige, was ja ausgegossen ist über allen Willensverkehr von Mensch zu Mensch, müssen wir in dem Lichte des Impulses betrachten, dem dieser Willensverkehr unterliegt, in dem Lichte der mehr oder weniger vorhandenen Liebe, die zwischen den Menschen spielt. Von dieser Liebe, die zwischen den Menschen spielt, lassen ja die Menschen ihre Willensimpulse getragen sein, die so hinüberspielen von Mensch zu Mensch.
[999/17] Mit Bezug auf die Liebe unterliegt der Mensch im allereminentesten Sinne einer großen Täuschung und bedarf noch mehr der Korrektur, als mit Bezug auf die gewöhnlichen Gefühlssympathien und -antipathien. Denn, so sonderbar das klingt für das gewöhnliche Bewußtsein, es ist durchaus wahr, daß die Liebe, die sich von einem Menschen zum anderen geltend macht, wenn sie nicht vergeistigt ist - im gewöhnlichen Leben ist ja die Liebe nur im seltensten Maße vergeistigt, und ich rede jetzt nicht etwa bloß von geschlechtlicher oder auf geschlechtlicher Unterlage ruhender Liebe, sondern überhaupt von der Liebe von Mensch zu Mensch -, daß diese nichtvergeistigte Liebe eigentlich nicht die Liebe als solche, sondern das Bild ist, das man sich von ihr macht, daß sie zumeist nichts weiter ist als eine furchtbare Illusion. Denn die Liebe, die ein Mensch zum andern zu entwickeln glaubt, ist - so wie die Menschen einmal sind im Leben - zumeist nichts anderes als Selbstliebe. Der Mensch glaubt, den andern zu lieben, liebt sich aber eigentlich in der Liebe nur selbst. Sie sehen hier einen Quell von antisozialem Wesen, der noch dazu die Quelle einer furchtbaren Selbsttäuschung sein muß. Man kann nämlich in überströmender Liebe zu einem Menschen aufzugehen meinen, aber man liebt nicht in Wirklichkeit diesen anderen Menschen, sondern man liebt das Verbundensein mit dem anderen Menschen in der eigenen Seele. Was man da als Beseligung in der eigenen Seele empfindet am andern Menschen, was man in sich empfindet dadurch, daß man mit dem andern Menschen zusammen ist, daß man dem andern Menschen meinetwillen Liebeserklärungen macht, das ist es, was man eigentlich liebt. Man liebt im ganzen sich selber, indem man diese Selbstliebe in dem Verkehre mit dem andern entzündet.
[999/18] Dies ist ein wichtiges Lebensgeheimnis. Das ist von ganz immenser Wichtigkeit. Denn in der Täuschung über diese Liebe, von der man glaubt, daß sie Liebe sei, die aber eigentlich nur Selbstliebe, Selbstsucht, Egoismus, maskierter Egoismus ist - und die weitaus meiste Liebe, die von Mensch zu Mensch spielt und Liebe genannt wird, ist nur maskierter Egoismus -, in dieser Täuschung ist die Quelle der denkbar größten und weitesten antisozialen Impulse. Durch diese Selbstliebe, die sich in Liebe maskiert, wird der Mensch im eminentesten Sinne zu einem antisozialen Wesen. Der Mensch ist ja dadurch eben ein antisoziales Wesen, daß er sich in sich vergräbt. Und er vergräbt sich am allermeisten in sich, wenn er von diesem In-sich-vergraben-Sein nichts weiß oder nichts wissen will.
[999/19] Sie sehen, daß derjenige, der insbesondere der heutigen Menschheit gegenüber von sozialen Forderungen spricht, auf solche Seelenzustände in hervorragendem Maße Rücksicht nehmen muß. Man muß einfach sagen: Wie sollen die Menschen zu irgendeiner sozialen Struktur ihres Zusammenlebens kommen, wenn sie sich nicht auf klären wollen, wieviel Selbstsucht in der sogenannten Liebe, in der Nächstenliebe zum Beispiel verkörpert ist. So kann die Liebe gerade ein ungeheuer starker Impuls zum antisozialen Leben sein. Man kann sagen: So wie der Mensch ist, wenn er nicht an sich arbeitet, wenn er sich nicht durch Selbstzucht in die Hand nimmt, so ist er als liebendes Wesen unter allen Umständen ein antisoziales Wesen. Die Liebe als solche, wie sie an der menschlichen Natur haftet, ohne daß der Mensch Selbstzucht übt, ist von vornherein antisozial, denn sie ist ausschließend. Das ist wiederum keine Kritik. Viele Erfordernisse des Lebens hängen damit zusammen, daß die Liebe ausschließend sein muß. Selbstverständlich wird der Vater seinen eigenen Sohn mehr lieben als ein fremdes Kind; aber das ist antisozial. Es läßt sich gar nicht leugnen, daß Antisoziales ins Leben durch das Leben selbst hineinspielt. Und sagt man: Der Mensch ist ein soziales Wesen - wie es heute geradezu Mode geworden ist -, so ist das Unsinn, denn der Mensch ist ebenso stark ein antisoziales Wesen, wie er ein soziales Wesen ist. Das Leben selber macht den Menschen zu einem antisozialen Wesen. Deshalb denken Sie sich einmal einen solchen Paradieseszustand auf Erden durchgeführt, wie es ihn gar nicht geben kann, aber wie er angestrebt wird, weil die Menschen ja immer das Unwirkliche viel mehr lieben als das Wirkliche - denken wir uns, ein solcher Paradieseszustand würde hergestellt, meinetwillen sogar ein solcher Überparadieseszustand, wie ihn Lenin, Trotzki, Kurt Eisner und andere auf der Erde haben wollen. Sehr bald schon würden sich unzählige Menschen dagegen auflehnen müssen, weil sie dabei nicht Menschen bleiben können, weil in einem solchen Zustande eben nur die sozialen Triebe Befriedigung finden würden, sich aber die antisozialen Triebe sogleich regen würden. Das ist ebenso notwendig, wie ein Pendel nicht bloß nach der einen Seite ausschlägt. In dem Augenblicke, wo Sie einen Paradieseszustand herstellen, müssen sich die antisozialen Triebe regen. Wenn das sich verwirklichte, was Lenin und Trotzki und Kurt Eisner wollen und von dem sie sich vorstellen, es sei ein Paradieseszustand, es müßte sich in kürzester Zeit durch die antisozialen Triebe in sein Gegenteil verkehren. Denn das ist eben das Leben, daß es zwischen Ebbe und Flut hin und her geht. Und wenn man das nicht verstehen will, so versteht man überhaupt nichts von der Welt. Man hört ja oft: Das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens ist die Demokratie. - Gut, nehmen wir also an, das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens sei die Demokratie. Aber, wenn man diese Demokratie irgendwo einführen wollte, so würde sie notwendigerweise in ihrer letzten Phase zu ihrer eignen Aufhebung führen. Die Demokratie strebt notwendigerweise danach, wenn die Demokraten beisammen sind, daß immer einer den andern überwältigen will, immer will einer recht haben gegenüber dem andern. Das ist ganz selbstverständlich. Sie strebt nach ihrer eigenen Auflösung. Führen Sie also irgendwo die Demokratie ein, so können Sie das in Gedanken schön ausmalen. Aber in die Wirklichkeit übergeführt, führt die Demokratie ebenso zum Gegenteil der Demokratie, wie das Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlägt. Das geht gar nicht anders im Leben. Demokratien werden immer nach einiger Zeit sterben an ihrer eigenen demokratischen Natur. Das sind die Dinge, die zum Verständnis des Lebens ungeheuer notwendig sind.
[999/20] Nun liegt noch dazu das Eigentümliche vor, daß gerade die zunächst wesentlichsten Eigenschaften des Menschen im fünften nachatlantischen Zeitraum antisoziale Eigenschaften sind. Denn das Bewußtsein, das gerade auf das Denken gebaut ist, soll sich in diesem Zeitraum entwickeln. Daher wird dieser Zeitraum gerade am stärksten die antisozialen Impulse durch die Natur des Menschen herauskehren. Die Menschen werden durch diese antisozialen Impulse mehr oder weniger unleidige Zustände hervorrufen, und es wird immer die Reaktion gegen den Antisozialismus wiederum in dem Schreien nach Sozialismus sich geltend machen. Das muß man nur verstehen, daß Ebbe und Flut eben immer wechseln müssen. Denn, nehmen Sie an, Sie sozialisieren wirklich die Gesellschaft, da würden schließlich solche Zustände von Mensch zu Mensch herbeigeführt, daß wir im Verkehr miteinander immer schlafen würden. Der Menschenverkehr wäre ein Einschläferungsmittel. Sie können sich das heute schwer vorstellen, weil Sie überhaupt nicht konkret ausdenken werden, wie es ausschauen würde in einer sogenannten sozialistischen Republik. Aber diese sozialistische Republik wäre tatsächlich eine große Schlafstätte für das menschliche Vorstellungsvermögen. Man kann begreifen, daß Sehnsuchten vorhanden sind nach so etwas. Es sind ja bei sehr vielen Menschen auch Sehnsuchten nach dem Schlafen fortwährend vorhanden. Aber man muß eben verstehen, was innere Notwendigkeiten des Lebens sind, und muß sich nicht damit begnügen, bloß dasjenige zu wollen, was einem paßt oder was einem gefällt; denn in der Regel gefällt einem das, was man nicht hat. Dasjenige, was man hat, weiß man meistens nicht zu schätzen.
[999/21] Sie sehen aus diesen Ausführungen, daß, wenn man über die soziale Frage spricht, man vor allen Dingen intim auf das Wesen des Menschen eingehen muß, und daß man dieses Wesen des Menschen so kennenlernen muß, daß man weiß, wie im Menschen realisiert sind soziale und antisoziale Triebe. Im Leben verschlingen sich die sozialen und antisozialen Triebe in einer oftmals knäuelförmigen, unentwirrbaren Weise. Deshalb ist es so schwierig, über die soziale Frage zu sprechen. Die soziale Frage kann kaum anders besprochen werden, als wenn man die Neigung hat, wirklich auf die intime Natur des Menschen einzugehen, darauf einzugehen, wie zum Beispiel die Bourgeoisie an sich ein Träger antisozialer Impulse ist. Einfach das Bourgeois-Sein entwickelt antisoziale Impulse, weil das Bourgeois-Sein im wesentlichen darin besteht, sich eine solche Sphäre des Lebens zu schaffen, wie es einem paßt, so daß man in ihr beruhigt sein kann. Wenn man dieses eigentümliche Streben des Bourgeois untersucht, so besteht es darin, daß er sich nach den Eigentümlichkeiten unseres gegenwärtigen Zeitraumes auf ökonomischer Grundlage eine Lebensinsel schaffen will, auf welcher er mit Bezug auf alle Verhältnisse schlafen kann, mit Ausnahme irgendeiner besonderen Lebensgewohnheit, die er je nach seinen subjektiven Antipathien oder Sympathien entwickelt. Also der Bourgeois, er kann dadurch sehr viel schlafen. Er strebt daher nicht nach jenem Schlaf, nach dem der Proletarier strebt, der immerfort wachgehalten wird, weil sein Bewußtsein nicht auf ökonomischer Grundlage eingeschläfert wird; der sehnt sich daher nach dem Schlafe der sozialen Ordnung. Das ist schon ein sehr wichtiges psychologisches Aperçu. Besitz schläfert ein; Notwendigkeit, im Leben zu kämpfen, weckt auf. Die Einschläferung durch den Besitz läßt einen antisoziale Impulse entwickeln, weil man sich nicht sehnt nach dem sozialen Schlafe. Das fortwährende Aufgefordertwerden durch die Erwerbsnotwendigkeit läßt Sehnsucht nach dem Einschlafen im sozialen Zusammenhange entstehen.
[999/22] Diese Dinge müssen durchaus in Betracht gezogen werden, sonst versteht man die Gegenwart absolut nicht. Nun kann man sagen: Trotz alledem strebt in einer gewissen Weise unser fünfter nachatlantischer Zeitraum nach Sozialisierung in der Form, wie ich es Ihnen neulich hier auseinandergesetzt habe. Denn diese Dinge, die ich angegeben habe, werden kommen: entweder, wenn sich die Menschen dazu bequemen, durch menschliche Vernunft, oder, wenn sie sich nicht dazu bequemen, durch Kataklysmen, durch Revolutionen. Diese Dreigliederung strebt der Mensch an im fünften nachatlantischen Zeitraum, diese Dreigliederung muß kommen. Nach einer gewissen Sozialisierung strebt also unser Zeitraum.
[999/23] Aber diese Sozialisierung ist nicht möglich - das wird Ihnen aus mancherlei Betrachtungen, die wir hier auch schon angestellt haben, hervorgehen -, ohne daß ein anderes sie begleitet. Sozialisierung kann sich nur beziehen auf die äußere Gesellschaftsstruktur. Die kann aber in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum eigentlich nur in einer Bändigung des denkerischen Bewußtseins bestehen, in einer Bändigung der antisozialen menschlichen Instinkte. Es muß also durch die soziale Struktur gewissermaßen eine Bändigung der antisozialen Vorstellungsinstinkte geschehen. Das muß eine Widerlage haben, das muß durch irgend etwas ins Gleichgewicht gebracht werden. Ins Gleichgewicht aber kann das nur gebracht werden dadurch, daß alles, was aus früheren Zeiträumen, in denen es berechtigt war, an Knechtung der Gedanken, an Überwältigung der Gedanken eines Menschen durch den anderen stammt, daß das mit der zunehmenden Sozialisierung aus der Welt geschafft wird. Daher muß die Freiheit des Geisteslebens neben der Organisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse, in der Zukunft stattfinden. Diese Freiheit des Geisteslebens allein macht möglich, daß wir wirklich von Mensch zu Mensch so stehen, daß wir in dem andern den Menschen sehen, der vor uns steht, nicht den Menschen im allgemeinen. Ein Woodrow Wilsonsches Programm redet vom Menschen im allgemeinen. Aber diesen Menschen im allgemeinen, diesen abstrakten Menschen gibt es nicht. Was es gibt, ist immer nur der einzelne, individuelle Mensch. Für den können wir uns nur wiederum als ganze Menschen, nicht durch das bloße Denken interessieren. Wir löschen das, was wir von Mensch zu Mensch entwickeln sollen, aus, wenn wir wilsonisieren, wenn wir ein abstraktes Bild des Menschen entwerfen. Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist, daß zur Sozialisierung in der Zukunft die absolute Freiheit der Gedanken tritt; Sozialisierung ist nicht denkbar ohne Gedankenfreiheit. Daher wird die Sozialisierung verknüpft sein müssen mit der Ausmerzung aller Gedankenknechtschaft - sei diese Gedankenknechtschaft kultiviert durch das, was gewisse Gesellschaften der englisch sprechenden Bevölkerung treiben, die ich Ihnen hinlänglich charakterisiert habe, oder durch den römischen Katholizismus. Beide sind einander wert, und es ist außerordentlich wichtig, daß man die innere Verwandtschaft dieser beiden ins Auge faßt. Es ist außerordentlich wichtig, daß besonders in bezug auf solche Dinge heute keine Unklarheit herrscht. Sie können das, was ich Ihnen vorgebracht habe über die Eigentümlichkeit jener Geheimgesellschaften der englisch sprechenden Bevölkerung, heute einem Jesuiten erzählen. Er wird sehr erfreut sein, daß er eine Bestätigung dessen, was er vertritt, bekommt; aber Sie müssen sich klar sein, wenn Sie auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen wollen, daß Sie Ihre Ablehnung dieser Geheimgesellschaften nicht mit der Ablehnung, die von Jesuiten kommt, verwechseln dürfen. Es ist merkwürdig, daß man auf diesem Gebiete heute noch zu wenig Unterscheidungsvermögen an den Tag legt.
[999/24] Ich habe neulich einmal auch in öffentlichen Vorträgen darauf aufmerksam gemacht, daß es heute nicht nur darauf ankommt, was einer sagt, sondern daß man immer darauf achte, von welchem Geist dasjenige durchdrungen ist, was gesagt wird. Ich habe das Beispiel angeführt von den gleichlautenden Sätzen bei Woodrow Wilson und bei Herman Grimm Ich sage das deshalb, weil Sie es jetzt in immer stärkerem Maße werden erleben können, daß zum Beispiel von jener Seite scheinbar ebenso aufgetreten wird gegen jene englisch-amerikanischen Geheimgesellschaften - aber eben nur scheinbar -, wie hier aufgetreten werden mußte. Allein so etwas, wie es zum Beispiel jetzt im Dezemberheft der « Stimmen der Zeit » steht, das macht auf einen Menschen, der auf das Sachliche sieht, einen fratzenhaft komischen Eindruck. Denn selbstverständlich ist dasjenige, was bekämpft werden muß an den englisch-amerikanischen Geheimgesellschaften, genau dasselbe, was bekämpft werden muß am Jesuitismus. Die beiden stehen einander gegenüber, die eine die andere bekämpfend, wie Macht gegen Macht, die nicht nebeneinander sein können. Bei dem einen und bei dem anderen ist nicht das geringste wirkliche, sachliche Interesse vorhanden, sondern nur ein parteimäßiges, ein ordengemäßes Interesse. Das müssen wir uns heute ganz besonders abgewöhnen, nur auf den Inhalt zu sehen und nicht zu sehen, von welchem Gesichtspunkte aus irgend etwas in die Welt gesetzt wird. Es kann etwas, wenn es von einem Gesichtspunkte aus, der für einen Zeitraum gültig ist, in die Welt gesetzt wird, ein Wohltätiges, ein Heilsames sein; wenn es von einer anderen Macht in Szene gesetzt wird, kann es entweder etwas ungeheuer Lächerliches oder sogar Schädliches sein. Das ist etwas, was heute ganz besonders berücksichtigt werden muß. Denn es wird sich immer mehr und mehr herausstellen: Wenn zwei dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe, je nach dem Hintergrunde, der dahinter liegt. Nach alledem, was uns das Leben jetzt an Prüfungen gebracht hat in den letzten drei bis vier Jahren, ist es ganz besonders notwendig, daß wir auf solche Dinge wirklich endlich einmal Rücksicht nehmen, daß wir auf solche Dinge wirklich eingehen.
[999/25] Von einem wirklichen Eingehen auf diese Dinge merkt man noch nicht viel. Man wird beispielsweise heute noch immer fragen: Wie soll man das und jenes einrichten, wie soll man das und jenes machen, damit es richtig ist? Richten Sie da oder dort dies oder jenes ein - wenn Sie die Menschen nicht hineinsetzen, die im Sinne unseres Zeitalters denken, dann können Sie die beste oder die schlechteste Einrichtung machen, sie werden beide entweder zum Heil oder zum Unheil ausschlagen, je nachdem Sie Menschen hineinsetzen. Worauf es heute ankommt, ist, daß der Mensch wirklich begreife: Er muß werden, er kann nicht auf irgend etwas geben, was er schon ist, er muß fortwährend ein Werdender sein. Er muß sich auch dazu verstehen, wirklich in die Wirklichkeit hineinzuschauen. Dem ist man aber sehr, sehr abgeneigt; das habe ich ja von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betont. In allen Dingen, namentlich in den Zeitverhältnissen, ist man so sehr geneigt, nur ja nicht an die Wirklichkeit heranzutippen, sondern die Dinge eben zu nehmen, wie es einem paßt. Ein Urteil sich zu bilden, das sachgemäß ist, ist natürlich nicht so leicht wie ein Urteilen, das möglichst geradlinig lossteuert auf die Formulierbarkeit. Urteile, die sachgemäß sind, sind nicht ohne weiteres formulierbar, namentlich dann nicht, wenn sie in das Soziale oder in das Menschliche oder in das politische Leben eingreifen, denn da ist fast immer auch das Gegenteil von dem richtig, was man annimmt - auch in demselben Grade richtig, wie das Gegenteil. Nur wenn man versucht, sich überhaupt kein Urteil zu bilden von solchen Verhältnissen, sondern sich Bilder zu machen, das heißt, wenn man schon aufsteigt in das imaginative Leben, dann wird man ungefähr den rechten Weg gehen können. Das ist in unserer Zeit von ganz besonderer Wichtigkeit, daß man versucht, sich Bilder zu machen, nicht eigentlich abstrakte, abgeschlossene Urteile. Bilder müssen es ja auch sein, welche zur Sozialisierung hindrängen. Dann, was weiter notwendig ist: es gibt keine Sozialisierung, ohne daß der Mensch geisteswissenschaftlich wird - also gedankenfrei auf der einen Seite, geisteswissenschaftlich auf der andern Seite.
[999/26] Ich habe ja auf das, was da zugrunde liegt, auch schon in öffentlichen Vorträgen, auch in Basel im öffentlichen Vortrage hingewiesen. Ich sagte, daß gewisse materialistisch denkende Menschen, die so alles aus der Entwickelung heraus, aus der Tierreihe herauf begreifen wollen, sagen: Nun ja, wir haben beim Tier die Anfänge von sozialen Instinkten, die entwickeln sich im Menschen zu der Moralität. Aber gerade das, was soziale Instinkte bei den Tieren sind: wenn es zum Menschen heraufgehoben wird, wird es eben antisozial. Gerade was bei den Tieren sozial ist, ist beim Menschen im eminentesten Sinne antisozial! Die Menschen wollen überhaupt nicht eingehen auf die verschiedenen Linien, die einem ein reales Bild von den Dingen geben, sondern sie wollen sich rasch Urteile bilden. Nur dann kommt man zurecht im Wechselverkehr von Mensch zu Mensch, wenn man den Menschen nicht bloß hinsichtlich seiner tierischen Natur auffaßt, denn da ist er eben im eminentesten Sinne antisozial, sondern wenn man ihn auffaßt als ein geistiges Wesen, jeden Menschen als ein geistiges Wesen. Das kann man aber nur, wenn man die ganze Welt mit Bezug auf ihre geistige Grundlage auffaßt. Diese drei Dinge sind eben auch voneinander untrennbar: Sozialismus, Gedankenfreiheit, Geisteswissenschaft. Die gehören zusammen. Eines ist ohne das andere in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum in seiner Entwickelung nicht möglich.
[999/27] Besonders das wird notwendig sein, daß sich die Menschen bequemen, darauf, daß in jedem Menschen auch ein antisoziales Wesen steckt, nicht gedankenlos hinzuschauen. Man könnte auch sagen, wenn man trivial sprechen möchte: Es kommt sehr viel darauf an für das Heil dieses Zeitraumes, daß die Menschen aufhören, sich selbst so furchtbar gern zu haben. Das ist ja das Charakteristikon des gegenwärtigen Menschen, daß er sich selbst so gern hat. Und da müssen Sie wiederum unterscheiden: Er hat sein Denken, sein Fühlen, sein Wollen ganz besonders gern - und dann, wenn er einmal zum Beispiel sein Denken gern bekommen hat, dann läßt er davon nicht ab.
[999/28] Sehen Sie, derjenige, der wirklich denken kann, der weiß etwas, was gar nicht unwichtig ist: Über alles das, was er richtig denkt, hat er irgendeinmal falsch gedacht. Eigentlich weiß man nur dasjenige richtig, von dem man die Erfahrung gemacht hat, was es in der Seele bewirkt, wenn man darüber falsch gedacht hat. Aber auf solche innere Entwickelungszustände lassen sich die Menschen nicht gern ein. Deshalb verstehen heute die Menschen einander so wenig. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Die proletarische Weltanschauung, von der ich Ihnen öfter gesprochen habe, die behauptet, daß die Art, wie die Menschen vorstellen, der ganze ideologische Oberbau, abhängt von den wirtschaftlichen Verhältnissen, so daß die Menschen ihre politischen Gedanken nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen bilden.
[999/29] Wer auf solche Gedanken eingehen kann, der wird finden, daß solch ein Gedanke eine breite Richtigkeit hat, insbesondere fast ganz richtig ist für die Zeitentwickelung seit dem sechzehnten Jahrhundert. Denn dasjenige, was die Menschen seit dem sechzehnten Jahrhundert denken, ist fast ganz ein Ergebnis der wirtschaftlichen Verhältnisse. Es ist nicht im absoluten Sinne richtig, aber es ist im relativen Sinne ganz weittragend richtig. Allein, in einen solchen Kopf, wie ein nationalökonomischer Professorkopf ist, will das nicht herein. Da doziert beispielsweise gar nicht weit weg von hier ein Nationalökonom, Michels heißt er, an einer Universität, der sagt, das sei falsch, denn man könne nachweisen, daß nicht durch die wirtschaftlichen Verhältnisse die politischen Gedanken gemacht werden, sondern daß durch die politischen Gedanken die wirtschaftlichen Verhältnisse ganz besonders umgeändert werden. Und es weist dieser Professor Michels dann hin auf die Kontinentalsperre Napoleons, wodurch gewisse Industriezweige etwa in Italien oder in England geradezu ausgerottet und andere eingeführt worden sind. Also, sagt er, da haben wir den eminentesten Fall, daß durch einen politischen Gedanken, durch die Kontinentalsperre, die ökonomischen Verhältnisse bestimmt werden. Solche Beispiele führt er noch mehrere an. Ich weiß, wenn hundert Menschen dieses Buch von diesem Professor Michels lesen, sind sie überzeugt, daß das stimmt, was er sagt, denn es wird mit einer ungeheueren Logik entwickelt. Es scheint absolut richtig zu sein, aber es ist doch lächerlich falsch. Es ist deshalb lächerlich falsch, weil alle Beispiele, die er anführt, nach demselben Schema zu behandeln sind wie diese Kontinentalsperre. Gewiß, die Kontinentalsperre hat bewirkt, daß in Italien gewisse Industrien verändert werden mußten, aber diese Veränderung der Industrien hat in dem ökonomischen Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter eben keine Veränderung hervorgerufen. Das ist gerade das Charakteristische. Alles das fällt heraus wie aus einem Sieb oder wie aus einem Faß ohne Boden. Es ist nämlich diese Michelssche ökonomische Theorie ein Faß ohne Boden. Es fällt alles das heraus, was er vorbringt, weil die proletarische Weltanschauung gar nicht behauptet, daß nicht durch irgendeinen solchen Gedanken wie die Kontinentalsperre, meinetwillen Florentiner Seidenindustrie sich entwickelt, die früher nicht da war, während sie sich in England nicht entwickelt. Die proletarische Weltanschauung behauptet vielmehr: Trotzdem die Kontinentalsperre eine Industrie dorthin, eine andere dorthin werfen kann, ändert sich nichts in den ökonomischen Verhältnissen zwischen Unternehmer und Arbeiter, und die sind das Entscheidende. So daß solche Dinge dann herausfallen aus dem großen Gang der wirtschaftlichen Ereignisse mit ihrem ideologischen Oberbau, und gerade die Kontinentalsperre in ihrer Wirksamkeit im eminentesten Sinne das, was der Professor Michels beweisen will, nicht beweist.
[999/30] Nun fragen Sie: Warum besteht solch ein Mensch, wie der Professor Michels, auf seiner Theorie gegenüber dem proletarischen Denken? Aus dem einfachen Grunde, weil er verliebt ist in sein Denken, und weil er gar nicht in der Lage ist, einzugehen auf das proletarische Denken. Er schläft nämlich gleich ein. Es ist ein latentes Einschlafen. In dem Augenblicke, wo er proletarische Gedanken nachdenken soll, schläft er ein.. Da kann er sich nur aufrechterhalten, indem er denjenigen Gedanken entwickelt, in den er verliebt ist.
[999/31] So muß man auf die seelischen Dinge eingehen. In unserer Zeit ist einmal das Zeitalter, in dem man im eminentesten Sinne auf die seelischen Dinge eingehen muß, sonst wird man nicht begreifen, was in unserer Zeit notwendig ist; sonst wird man doch über diese schwierigen, tragischen Verhältnisse zu keinem irgendwie heilsamen Urteile kommen können. Und heilsame Urteile sind es ja eigentlich, die aus der Misere der Gegenwart doch allein hinwegführen können und auch hinwegführen werden. Zum Pessimismus im ganzen und großen ist kein Anlaß; aber zur Umkehrung des Urteils ist viel Anlaß. Vor allen Dingen bei jedem einzelnen ist zur Umkehrung des Urteiles im höchsten Maße Veranlassung.
[999/32] Man muß schon sagen: Es ist sehr, sehr merkwürdig, wenn man sieht, wie heute die Menschen gleichsam schlafend ihre Urteile abgeben, und wie sie rasch vergessen von einem Zeitraum auf den andern, wenn die Zeiträume auch noch so kurz sind. Wir werden es ja insbesondere jetzt erleben, wie die Menschen vergessen werden die Art, wie sie geurteilt haben, was sie über die ganze Welt hin alles phraseologiert haben über Recht, über die Notwendigkeit, für das Recht zu kämpfen gegen das Unrecht. Wir werden es erleben, daß die meisten Menschen, die in dieser Form vor einiger Zeit von dem Recht gesprochen haben, dieses vergessen und gar nicht sehen werden, wie es sich in der nächsten Zeit bei der größten Anzahl derjenigen, die vom Recht gesprochen haben, einfach um die Geltendmachung der ganz gewöhnlichen Macht handelt. Das soll ihnen natürlich nicht übelgenommen werden; aber man soll sich nur klar sein darüber, daß, wenn man auf der einen Seite vom Recht gesprochen hat, man dann kein Recht dazu hat, zu übersehen, daß es sich bei den größten Schreiern zuletzt um Macht und Machtimpulse handelt. Wie gesagt, das soll nicht übelgenommen werden, aber schön wird nicht sein, wie sich dasjenige geltend macht, was vor verhältnismäßig kurzer Zeit nur immer von Recht und Recht und Recht gesprochen hat. Nicht erstaunt kann man darüber sein. Aber erstaunt müßten diejenigen sein, die mitgesprochen haben, die mitgetan haben, wenn sie jetzt so merkwürdig das Bild verändert finden! Sie müßten dann wenigstens zu dem Bewußtsein kommen, wie sehr der Mensch geneigt ist, seine Urteile nach Illusionen und nicht nach Wirklichkeiten zu bilden.

Rudolf Steiner