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Verständnis gesellschaftlicher Situationen – soziale Prozesse und soziale Organe
Was ist Dreigliederung? Thesen – zur Neuformulierung geeignet
Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus“
14. Jahrgang, Oktober 1972, Heft 1-2, S. 31–34
Bibliographische Notiz
Übersicht über die Kontroverse
Soziale Prozesse und Organe statt Dreiteilung
zwischen Benediktus Hardorp, Wilhelm Schmundt und Hartwig Wilken
Was ist Dreigliederung?
1. Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus ist bisher meist als Dreiteilungstheorie mißverstanden worden. Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben wurden institutionell gesehen und als „geist-gemäße“ Kasten oder Stände interpretiert.
2. Der soziale Organismus lebt faktisch in vielen Sozialgebilden, die nicht in das alte Dreiteilungsschema passen. Jedes Sozialgebilde – eine Schule, eine Fabrik, ein Krankenhaus z.B. – ist ein einheitliches Ganzes, das als Einheit jedoch in dreigliedriger Funktion verstanden werden kann.
3. Jedes Sozialgebilde wird von zielgerichteter Initiative – einheitlich oder abgestuft bewußt bei seinen einzelnen Mitgliedern – getragen; ihm dienen die lebensabschnittweise zur Verfügung stehenden Existenzmittel; es lebt in Frieden oder unter Spannungen und deren Wechselwirkung nach dem Maß der geübten Verständigungsfähigkeit seiner Mitglieder.
4. Wer soziale Probleme lösen soll, muß die Schwierigkeit der gegebenen Situation sozialer Gebilde erst verstehen. Für das Verständnis kann die Möglichkeit, jeweils gegebene Sozialgebilde dreigliedrig zu sehen, eine Hilfe sein. Sie hilft zu sehen und zu fragen, ob ein Sozialgebilde (Unternehmen) von ausreichender Initiative getragen wird, ob die verfügbaren Mittel dem gegebenen Ziel angemessen sind und ob die Kommunikations- und Vertragsfähigkeit der im Unternehmen verbundenen Menschen genügend ausgebildet sind.
[Beiträge, Jahrgang 14, Heft 1-2, Seite 31]
5. Fehlt es an Initiative, muß sie übend verstärkt werden; fehlen die Mittel, so kann man suchen, sie zu beschaffen ; lebt man im Streit, muß erst Verständnis füreinander geweckt und Formen des Vertragens entwickelt werden.
6. „Dreigliederungsarbeit“ heißt in diesem Verständnis: soziale Gebilde dreigliedrig-diagnostisch verstehen zu lernen, um die Hilfe an der richtigen Stelle einsetzen zu lassen. Einer Menschengruppe ohne Initiative ist nicht mit einer Erbschaft geholfen; wer Neues schaffen will, darf für die Beschaffung der Mittel nicht zu fein sein; zerstrittene Leute müssen erst wieder zum gemeinsamen Gespräch finden.
7. Für eine so verstandene Arbeit der Heilung sozialer Schwächen in gegebenen Gebilden ist täglich Raum und Gelegenheit; sie reicht aber noch nicht aus zur sachgemäß präzisen Gestaltung sozialer Gebilde.
II. Soziale Prozesse
1. Neben der Möglichkeit, soziale Gebilde als Einheit dreigliedrig zu verstehen, ohne sie dabei in Kasten oder Stände zu teilen, ergibt sich die Notwendigkeit, auf bestimmte soziale Prozesse innerhalb der Unternehmen zu achten, um von ihnen aus die soziale Organbildung verstehen und gestalten zu lernen. Die Prozesse kann man so benennen und beschreiben.
2. Zielsetzung, Sinnergreifung
Alle in einem Unternehmen vereinigten Menschen sind auf ihre Art an dem Sinnergreifungs- und Zielsetzungsprozeß beteiligt. Was wollen wir? Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Wo führt die Reise hin? – So fragt jeder und möchte die Antwort mitgestalten.
3. Lernen
Immer aufs neue muß sich die Gemeinschaft der Menschen eines Unternehmens fähig machen, dem gesetzten Ziel zu entsprechen. Neue Gruppenmitglieder müssen eingeführt, neue Lebensabschnitte bewältigt, neue Herausforderungen ergriffen werden. Diese Lernprozesse fordern ihren Lebensraum im Unternehmen.
4. Leistungen
Leistungen zu erbringen, Werke zu schaffen, ist vielleicht der markanteste Prozeß jeden Unternehmens. In der Fabrik laufen Produkte vom Band, in der Schule wird unterrichtet, im Krankenhaus werden Patienten betreut. Vom Chefarzt bis zum Hofkehrer sind alle an diesem Prozeß beteiligt. Meist weiß letzterer dies vom Chef. Auch umgekehrt?
5. Ausrichten auf die Umwelt
Kommen die Leistungen auch an? Und wie? Was sagt der Markt? Wie beurteilen die Eltern den Unterricht? Ist der Patient geheilt? Dieser Prozeß des Aufnehmens sozialer Rückkoppelungswirkungen geht durch jedes Unternehmen. Er hilft, die Leistung zu verbessern, neue Lernziele zu sehen, Ziel und Sinn besser ins Auge zu fassen.
[Beiträge, Jahrgang 14, Heft 1-2, Seite 32]
6. Ausgleich mit der Umwelt
In der arbeitsteiligen Gesellschaft der Gegenwart lebt jedes Unternehmen überwiegend von den Leistungen anderer. Zur Erbringung seiner Leistungen erhält ein Unternehmen Mittel zur Verfügung, zumeist in Geld. In der Finanzierung drückt sich die Art der gesellschaftlichen Bezüge aus (Verkaufserlöse, Zuschüsse, Schenkungen); dieser Ausgleichsprozeß setzt sich im Unternehmen in der Mittelzuteilung für die einzelnen Unternehmensbereiche fort.
7. Abgrenzung gegenüber der Umwelt
Die Abgrenzung gegenüber der sozialen Umwelt ist fließend und bedarf der ständigen Klärung. Ist jemand Mitarbeiter oder Lieferant, Mitglied, Konkurrent oder Gegner? Im Unternehmen erscheint dies Element als Frage nach der Kompetenzabgrenzung. Wer sagt „ja“ oder „nein“ mit verbindlicher Wirkung, wer ist zuständig?
8. Zusammenschau
Wir haben bisher folgende Prozesse:
Zielsetzung Abgrenzung gegenüber der Umwelt
Lernen Ausgleich mit der Umwelt
Leisten Ausrichtung auf die Umwelt.
Auf sie wendet sich ein weiterer Prozeß; aus ihnen muß ein einheitliches Ganzes werden. Keine Leistung, kein Lernen, kein Zielbewußtsein ohne adäquate Finanzierung. Befruchtung dessen durch Reaktion und Rückmeldung der Umwelt. Leisten für den Bedarf. Lernen für das Leisten. Alles im Rahmen des selbstgestellten Zieles.
III. Prozeß und Organ
Jeder geschilderte Prozess kann im Unternehmen sein Organ bilden; eine Gruppe (ein einzelner notfalls), die die Sorge für einen Prozeß als soziale „Rolle“ auf Zeit übernimmt. Sie schließen die anderen nicht aus; die Gruppe, das „Organ“ ist aber auf jeden Fall für den Lebensraum des Prozesses „Antwort schuldig“ verantwortlich. Ein Schiedsgericht kann berufen sein zu beurteilen, ob Handlungen im Rahmen des gesteckten Zieles liegen; ein Elternrat kann spiegeln, wie der Unterricht bei den Kindern „ankommt“; ein Ausbildungsausschuß fördert die Lernprozesse; ein Vorstand, eine Geschäftsleitung hält das Ganze zusammen. Organe sind kein Ersatz für Prozesse – wie der Magen die Verdauung, das Herz den Blutkreislauf nicht ersetzt, sie vielmehr geordnet ablaufen läßt – Organe sind von den Prozessen her zu verstehen.
Im übrigen : „Wer will guten Kuchen backen, der muß haben sieben Sachen“ – dies gilt für alle, die noch im Schiller'schen Sinn „spielen“ können, d.h. Gestaltungsfähigkeit für die Prozesse des Lebens haben.
[Beiträge, Jahrgang 14, Heft 1-2, Seite 33]
IV. Wie es gemeint ist
Das oben Dargestellte sei für den Leser zunächst These; dazu eine weitere:
Es könnte Ergebnis denkender Beobachtung sein. Diese ist immer verbesserungsfähig. Verbesserungsfähig ist auch die Formulierung. Der Verfasser bittet um Mitarbeit.
Und eine letzte These; Sozialwissenschaft entsteht im Wechselspiel zwischen
Denken und Wagnis, Beobachtungen und Handeln und im mitmenschlichen Austausch. Wer in diesem einen Anfang sieht, beteilige sich. Der Verfasser dankt.
[Beiträge, Jahrgang 14, Heft 1-2, Seite 34]