Freies Geistesleben III-VII

01.10.1994

(Vorlauf)

III

Wenn man sich einmal darüber klar ist, daß Ausbildung und Anwendung der individuellen Fähigkeiten der Menschen funktionell zum Geistesleben des sozialen Organismus gehören, an dem jeder Mensch ebenso wie am Rechtsleben und an der Wirtschaft Anteil hat, dann wird auch Verständnis dafür entstehen können, daß funktionell dieses Geistesleben nicht nur in dem besteht, was jeder im handgreiflichen engeren Sinne des Wortes dazu rechnet: Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung und was damit zusammenhängt, sondern daß sein Begriff viel weiter gefaßt werden muß. Es gehört zum freien Geistesleben im Sinne der sozialen Dreigliederung als eine wichtige Funktion z.B. auch die richterliche Tätigkeit, die Rechtsprechung: kommt es bei dieser doch darauf an, das für alle in gleicher Weise geltende Recht durch Urteil mit individuellem Verständnis für die Beteiligten auf bestimmte individuelle Fälle anzuwenden, seien es zivilrechtliche oder strafrechtliche oder sonstige. So daß jeder Gerichtsprozeß zugleich ein Rechts- Individuallsierungs-Prozeß genannt werden kann. Diesem Charakter der Rechtsprechung trägt noch weiter Rechnung, daß Rudolf Steiner in seinen "Kernpunkten der sozialen Frage" auf die Möglichkeit von Einrichtungen hindeutet, durch die der einzelne Staatsbürger in die Lage versetzt werden könnte, in gewissen Grenzen sich (im vorhinein) "seinen" Richter auszuwählen, nämlich aus der Zahl derjenigen Richter, die für einen bestimmten Bezirk von einer hierfür zuständigen Körperschaft des Geisteslebens aufzustellen wären. Das individuelle Vertrauen des Einzelnen würde so eine wohltätige Rolle spielen können, damit aber wiederum ein wesentlichstes Element des Geisteslebens.

Die Dynamik allen Geisteslebens überhaupt kann man sich besonders klar machen an dem Verhältnis, das unter normalen Umständen zwischen dem Arzt und seinen Patienten besteht: Das Vertrauen des Patienten in die individuellen Fähigkeiten des Arztes führt ihn dazu, sich in dessen Behandlung zu begeben. Was der Arzt ihm verordnet, hat nicht den Charakter eines Befehls, dem der Patient zu gehorchen hätte, sondern seinem Wesen nach den Charakter eines Rates, den normalerweise der Patient im wohlverstandenen eigenen Interesse befolgt, eben weil ihn das Vertrauen zu dem Arzt geführt hat. Dessen Fähigkeiten machen, daß er für den Patienten eine sachlich begründete "Autorität" ist.

Autorität, Vertrauen, Verständnis, Rat: in diesen Begriffen drückt sich viel vom Wesen allen freien Geisteslebens aus. Sie walten selbstverständlich auch im Verhältnis von Lehrer und Schüler und Eltern da, wo dieses Verhältnis gesund ist, und die Aufgabe ist es daher, das Erziehungswesen so einzurichten, daß es auf diese Kräfte gestellt ist, was um so weniger der Fall sein kann, je mehr politische Instanzen und staatliche Behörden in es hineinregieren oder hineinverwalten.

Innerhalb der Sphäre von Autorität und Vertrauen läßt sich die ganze individuelle und soziale Evolution von Unmündigkeit und Unfreiheit des Kindes bis zur Mündigkeit, Freiheit und Selbstverantwortung des Erwachsenen durchschreiten. ( ... )

Eine Funktion des Geisteslebens üben in einem hohen Sinne auch die in der Wirtschaft leitenden Persönlichkeiten aus. Nur wer die individuellen Fähigkeiten hat, einen Wirtschaftsbetrieb zu führen oder in ihm mit führend zu sein, kann auf eine sozial zu verantwortende Weise in die Lage kommen, Produktionsmittel zu verwalten. Er muß aber auch in die Lage versetzt werden können, dies zu tun. Das ist der Sinn des Systems von Übertragungen von Produktionsmitteln und dergleichen auf individuell geeignete Persönlichkeiten durch dazu berufene Körperschaften des freien Geisteslebens im Geiste der sozialen Dreigliederung. Auch insofern der Verwalter eines Wirtschaftsbetriebes selbst aus seiner eigenen Verantwortung und seinem individuellen Verständnis berufen ist, seinen Nachfolger zu bestimmen oder mitzubestimmen, spielt sich der Vorgang in der gleichen Dynamik des freien Geisteslebens ab.(1)

Wo in Wirtschaftsbetrieben Veranstaltungen künstlerischer Art oder Bildungseinrichtungen getroffen werden, um menschlich-geistige Ausgleiche und Gegengewichte gegen die mechanische Berufsarbeit der Betriebsangehörigen zu schaffen, ist es wie ein Golf, den funktionell das freie Geistesleben in das Wirtschaftsunternehmen, z.B. eine Fabrik hineinerstreckt, und dadurch soll etwas von der Atmosphäre des Geistes wehen und eben heilend und gesundend wirken.(2)

Und insofern in dem Betrieb manches geschieht, um den Werksangehörigen Überschau über das Werk, Verständnis für dessen Aufbau und Funktionieren, Einsicht in seine materiellen und menschlichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten zu geben, wird wiederum eine höchst wichtige Funktion des Geisteslebens ausgeübt, das in allen seinen Verzweigungen darauf hinausläuft, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, bewußt als Erkennender im Leben zu stehen, ihm das Gefühl und das Bewußtsein der Menschenwürde zu verleihen und ihn im menschenwürdiger Art in die sozialen Zusammenhänge hineinzustellen.

Noch für die Finanzierung des Geisteslebens (durch "Schenkungsgelder") gilt, daß sie sozial am besten dann zum Ziele führen wird, wenn sie - das ergibt sich schon aus dem oben Gesagten - maximal aus dem individuellen Verständnis und dem individuellen Vertrauen geschieht, aus Verständnis für das und aus Vertrauen zu dem, was man finanziert, sei es demjenigen einzelner Menschen, die über entsprechende Beträge verfügen, sei es vieler, die sich gemeinsam solche Finanzierungsaufgaben stellen.

Dadurch wird natürlich hier wie auch sonst nicht ausgeschlossen, daß im Übergang von den geistfremden und ungesunden Verhältnissen der Gegenwart zu dem zu Erstrebenden auch Übergangsformen oder Übergangsmethoden der Finanzierung (z.B. freier Schulen) angewandt werden bzw. im Sinne des kleineren Übels nicht vermieden werden können. Die ihnen notwendig anhaftenden Schäden werden umso eher hingenommen werden können, je mehr solche Methoden mit vollem Bewußtsein eben als Übergang bzw. als Kompromiß gebraucht werden und je mehr über das eigentliche Ziel bewußtseinsmäßig Klarheit herrscht. Im äußeren Tun kann sich der Handelnde zu manchem Kompromiß gezwungen sehen, aber er dürfte dieses nie in der Sphäre des Denkens und der Erkenntnis vollziehen, indem er sich selbst etwa vorspiegelt, der Kompromiß sei kein Kompromiß. Dann wird auch der Wille das eigentliche Ziel nicht aus dem Auge verlieren.

IV

Drei große Sozialimpulse sind, aus tiefen Untergründen der geschichtlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert das öffentliche Leben gestaltend, machtvoll aufgetreten: Liberalismus, Demokratie, Sozialismus. Der Liberalismus, abzielend auf individuelle Freiheit, die Demokratie auf rechtliche Gleichheit und gleiche Einflußnahme aller auf die Regierung, der Sozialismus, wenn wir sein eigentliches Anliegen menschlich richtig verstehen, auf Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Dahinter steht also unverkennbar der dreifache Ruf der Großen Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als dem Entwicklungsziel des gegenwärtigen Zeitalters.

Aber in der materieverhafteten Ungeistesatmosphäre des endenden 18. und vollends der 19. und 20. Jahrhunderts wurden diese großen Sozialimpulse alle drei ihrem tiefen Ursprungssinn entfremdet, gleichsam denaturiert:

Der Liberalismus hatte zunächst zwar seinem wahren Wesen gemäß große geistig- politische Freiheitstaten vollbracht, Freiheitsrechte des einzelnen Menschen statuiert. Überall Leben entfesselnd, aber bald wurde er, von England ausgehend, immer mehr als Grundimpuls der Wirtschaft genommen. Als solcher befreite er auch sie von alten, überlebte Fesseln, entband überall die individuellen Fähigkeiten, Unternehmerinitiative und Unternehmertüchtigkeit. Schließlich mündete die so befreite Wirtschaft ein in einen großen Impuls des allgemeinsten schrankenlosen Egoismus, als antisozialer Zug des "kapitalistischen" Systems. Die Wirtschaft wurde wesentlich aufgefaßt im Sinne der miteinander konkurrierenden Einzelnen. Auch dies zeigt, wie der Liberalismus, dem Gelstpol innerhalb der Wirtschaft zugeordnet, die Dynamik des Geisteslebens in einseitiger, veräußerlichter Weise in sie hineintrug; denn das Geistesleben beruht ja in der Tat und zu Recht weitgehend auf "Konkurrenz" der in ihm ihre individuellen Fähigkeiten darlebenden einzelnen Persönlichkeiten. In der Wirtschaft führt das gleiche Prinzip in einseitiger Anwendung zur antisozialen Ausbeutung des Schwachen durch die Selbstsucht des Starken, kurz: zum Gegenteil der Brüderlichkeit.

Auch der demokratische Gleichheitsimpuls flutete über das ihm eigene Gebiet, das Rechtsgebiet, wo er sozial zu Recht besteht, weit hinaus und führte zu der bekannten universellen Nivellierung, Verflachung und Entindividualisierung, die ein Grundimpuls unserer Zeit geworden ist.

Der Sozialismus, besonders in seiner marxistischen Spielart, durchdrang sich ebenfalls mit der materialistischen Grundgesinnung unserer Zeit - darin das tief wesensverwandte Gegenstück des bürgerlichen "Kapitalismus". Er strebte danach (und, soweit er siegte, erreichte er es), sich mit der Staatsmacht zu verkoppeln und sie möglichst umfassend in seinen Dienst zu stellen. Und dies in einer Welt der ungeheuersten Mechanisierung des gesamten Lebens durch die Technik, führte die Vermassung, die Kollektivierung der Menschen noch vollends auf ungeahnte Gipfel oder besser: in ungeahnte Abgründe, wo dem wahren Menschenwesen die Auslöschung droht.

Als am tragisch-verhängnisvollsten kann in dieser dreifachen "Denaturierung" doch wohl diejenige des Liberalismus angesehen werden, am stärksten sein Abfall von seinem ursprünglichen geistig-menschlichen Freiheitsimpuls. Darum auch muß in der Sphäre des Geisteslebens die Wende einsetzen, aus dem Ich aller derjenigen Menschen, die den Freiheitsimpuls in sich zu beleben vermögen und die sich mit den neuen spirituellen Grundkräften des Zeitalters durchdringen, wodurch das ersterbende Geistesleben der Gegenwart seine Auferstehung erfährt.

Und so kann denn nur von einer solchen Befreiung und Erkraftung des Geisteslebens im großen Stile das ausgehen, was Überwindekräfte dem kulturzerstörenden Massenwesen entgegenstellt, überall ansprechend, aufrufend, erweckend den einzelnen Menschen als ein Wesen von geistig-göttlichem Ursprung und geistiger Bestimmung.

Das Geistesleben repräsentiert funktionell im sozialen Organismus kraft seiner ureigensten innersten Dynamik den notwendigen Gegenpol aller Gleichmacherei, nämlich den hierarchischen Pol, jene geistige Hierarchie, die von allen am Geistesleben beteiligten Menschen in voller Freiheit mit Selbstverständlichkeit anerkannt wird, insofern eben nicht dem Geistesleben wesensfremde Einflüsse es pervertieren.

Und wenn die Politisierung des Geisteslebens, insbesondere der sozial unberechtigte Einfluß der Staatsmacht oder des Parteiwesens auf die staatsfremden Lebensgebiete vergröbernd auf alles Denken, ja bei entsprechender Steigerung entmenschlichend auf das Menschentum wirkt, insbesondere aber die Lüge zu einem immer mächtigeren Faktor allen öffentlichen und beruflichen Lebens werden lassen - was alles man zur Genüge in den totalitären Systemen des Nationalsozialismus im ganzen Deutschen Reich und des Systems in der ehemaligen DDR erlebt hat -, so kann die Heilung nur ausgehen von einem freien, gesunden und das heißt eben zugleich entpolitisierten Geistesleben. Von ihm allein aus vermöchte im großen Stile die Luft der Wahrhaftigkeit in den ganzen sozialen Organismus zu strömen und das Wehen des Geistes, wohin er will.

Haben wir ferner nicht eindringlich erlebt, wie vollends in den totalitären Systemen (die aber nur besonders radikal und daher besonders deutlich gewisse Züge zur Entwicklung bringen, die prinzipiell schon im Wesen eines jeden funktionellen Einheitsstaates liegen) eine umfassende Herrschaft des Primitiven und der Primitiven zur tiefst beschämenden sozialen Tatsache wurde? In ihr kam in Wahrheit nur eine Tendenz zum erschrekkenden völligen Durchbruch, die schon seit einer Reihe von Jahrhunderten im Leben des Abendlandes eine Rolle spielte und die auf dem beruhte, was Rudolf Steiner als eine "Selektion oftmals der Minderwertigen" in der neueren Zeit bezeichnet hat. (Als Gegenbegriff zur darwinistischen "Auslese der Stärksten"; A.W.). Sie gehört zu den wichtigsten Zügen des neueren sozialen Lebens (3) und hängt zusammen mit dem Überhandnehmen der materialistischen Lebensgesinnungen in den neueren Jahrhunderten als in der Zeit, in der immer mehr die Wirtschaft sich in den Vordergrund des sozialen Lebens drängte, als dessen Selbstzweck (statt als Mittel) sie betrachtet und behandelt wurde. Die "Herrschaft der Schlechteren" steigerte sich im "Dritten Reich" des Nationalsozialismus zu einer Herrschaft des Verbrechens und von Verbrechern.

Weltgeschichtlich betrachtet bildet die "Herrschaft der Schlechtesten", die wir in analoger Wortbildung zu dem Wort Aristokratie (Herrschaft der Besten) als "Kakistokratie" bezeichnen können, den Gegenpol der einstmaligen Herrschaft der Initiierten, d.h. der im damaligen Sinne "Besten", die auf der Grundlage der entsprechenden Blutszusammenhänge mit dem edelsten Blut zugleich auch die Träger des besten Geistes waren oder wurden. Alle alte, noch bis vor relativ kurzer Zeit wesentliche Blutsaristokratie ist heute gründlich überholt, das Blut bedeutet nunmehr wenig. (Wie absurd es ist, auf seiner Grundlage das moderne Leben aufbauen zu wollen, hat auch wiederum der zutiefst reaktionäre Versuch des Nationalsozialismus gezeigt.) Die weitgehende Zerstörung der alten Blutsgruppierungen in den neueren Zeiten, wie überhaupt die Chaotisierung der alten Ordnungen, letzten Endes durch den Einschlag der neuen Persönlichkeitskräfte, bedeutet eine notwendige Übergangsstufe. Von ihr kann der Weg, wenn eine heilvolle Entwicklung genommen werden soll, nur zu einer neuen, freien Aristokratie des Geistes führen, und der Boden, auf dem dies geschehen kann und muß, ist einzig das freie Geistesleben im sozialen Organismus. Bei jener Übergangsstufe der Chaotisierung stehenbleiben zu wollen, hieße dem Abgrunde verfallen. Das zeigen alle diejenigen erschütternde sozialen Phänomene der Gegenwart, deren Sprache besagt: "Das Niedere soll tonangebend sein, es soll womöglich herrschen über das Höhere." (4) In diesem Satz drückt sich die Verletzung eines der sozialen "Urgedanken" aus, die einstmals allem Leben der menschlichen Gemeinschaften zugrunde lagen, heute aber vielfach in ihr Gegenteil verkehrt sind, die aber wiederhergestellt werden müssen und an denen sich das soziale Leben ausrichten muß. Der hier in Frage kommende Urgedanke kann so formuliert werden: "Die Besseren sollen über die Schlechteren herrschen" oder, wie er sich bei Aristoteles findet: Die Weisen müssen über die Unweisen herrschen (und nicht umgekehrt!).

Solches sind die weltgeschichtlichen Zusammenhänge und sind die großen Perspektiven, in die der Ruf nach Freiheit, Erkraftung und Spiritualisierung des Geisteslebens sich hineinstellt und aus denen heraus er verstanden werden muß.

Wer die Forderung des freien Geisteslebens nicht in die umfassenden Zusammenhänge hineinzustellen vermag, in die sie gehört, kann ihr nicht gerecht werden. So sehr der Impuls von Mitteleuropa ausgehen, von den Deutschen initiativ ergriffen werden sollte, so sehr würde er erst als ein solcher der größeren, internationalen Zusammenhänge seine volle Fruchtbarkeit erweisen, wo er Lebensgemeinschaften über die politischen Grenzen hinweg heraufzuführen vermöchte, zusammen mit dem gleichfalls zu entpolltisierenden Wirtschaftsleben. Wer das, weil ungewohnt und von den meisten aus mangelnder Einsicht noch nicht entfernt gewollt, für unmöglich hält, mag nur gleich jede Hoffnung aufgeben, jemals zu einer zeitgemäßen, zeitgeistgewollten Gestaltung der menschlichen Verhältnisse auf Erden zu kommen. Hier ein, vielleicht klein erscheinendes Beispiel:

In den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ausbruch des Nationalsozialismus in Deutschland regten sich im östlichen Mitteleuropa mit seinen national gemischten Bevölkerungen in anfänglicher Weise gewisse Bestrebungen, die durchaus als Ansätze oder Keime eines staatsfreien kulturellen Lebens erkannt werden können und deren kraftvolle, konsequente Entwicklung in Verbindung mit anderem hätte unsäglichem Unheil vorbeugen können: die Bestrebungen nach dem, was man damals von Seiten gewisser nationaler Minderheiten in einigen Staaten, besonders in Estland, "Kulturautonomie" nannte: Der Staat sollte gewissermaßen entnationalisiert werden (wie er heute in weitgehendem Maße entkonfessionalisiert ist, was z.Zt. etwa des Dreißigjährigen Krieges auch als gänzlich "unmöglich" betrachtet worden wäre), dann würde er den verschiedenen damals auf seinem Gebiet lebenden Nationen gegenüber neutral geworden sein, und es würde diesen oblegen haben, in Selbstverwaltung ihr kulturelles Leben auszugestalten. Das Entsprechende hätte freilich auch als Notwendigkeit auch für die Wirtschaft erkannt und gefordert werden müssen. Der weitere, mit innerer Logik sich ergebende Schritt hätte sein müssen, daß die nationalen Minderheiten verschiedene Staaten, z.B. die Deutschen und die Polen, über deren Grenzen hinweg sich mit den "Konnationalen", wie man sie nannte, in freier Weise zu Gemeinschaften der Selbstverwaltung in Sachen der Sprache, des Schulwesens und so weiter zusammengeschlossen hätten. Mit anderen Worten, die vorher alles trennenden Staatsgrenzen wären relativ belanglos geworden für die meisten realen Lebensbeziehungen der Menschen im Kulturellen (und eben konsequenterweise auch in der Wirtschaft). Es war - wir haben damals wiederholt nachdrücklich darauf hingewiesen - nichts anderes als ein Keim der werdenwollenden Dreigliederung des sozialen Organismus, von den Beteiligten freilich als solcher nicht erkannt und darum auch viel zu zaghaft und "bescheiden" gedacht, veranlagt, gefordert und zu realisieren versucht. Wenn es im großen Stile aufgefaßt und in Angriff genommen worden wäre, und zwar im ganzen östlichen Mitteleuropa, dann wären die Staaten- und nationalen Beziehungen entgiftet worden, die Menschen hätten in den Siedlungsgebieten bleiben können, wo sie wohnten, d.h. in der nationalen Gemengelage, und lebensmögliche Verhältnisse hätten sich durch den Sieg vernunftgemäßer Ideen ergeben. Aber geistiges Versagen führt nun einmal zu physischen Katastrophen. So war es auch hier wie vorher schon anderwärts. Es kam zu den unsäglich primitiven gewaltsamen Vertreibungen, Aussiedlungen, Umsiedelungen ganzer großer Bevölkerungsgruppen mit all ihren entsetzlichen Begleiterscheinungen, dem furchtbaren Elend der unglücklichen Menschen, in denen nationaler Haß, Borniertheit und Zerstörungstriebe ihre grauenhaften Orgien feierten. Insofern waren es natürlich unmittelbar Folgen und Teilaspekte des furchtbaren Wahnes, der sich im Herzen Mitteleuropas als das sogenannte "Dritte Reich" etabliert hatte, aber dieses selbst war ja nichts anderes als die Quittung für die Nichtaufnahme des primär sich gerade an die Deutschen wendenden Zeitimpulses der sozialen Dreigliederung, zugleich - siehe bereits oben - der bisher äußerste Paroxysmus einer "Herrschaft der Schlechteren" und des unfreiesten Geisteslebens in der radikalen Verkehrung ins Gegenteil dessen, was sozial zu realisieren die wahre Aufgabe Mitteleuropas gewesen wäre. (5)

VI

Die Freiheit kann nicht angeordnet werden. Zwingen kann man niemanden zu ihr. Sie muß gewollt werden. Und dieser Wille muß, um zu Zielen zu gelangen, ein Wille von elementarer Kraft sein, in einer mächtigen Überzeugung wurzelnd. Je weitere Kreise er erfassen würde, desto früher würden Befreiungstaten vollbracht werden können. Am dringendsten bedarf unser gesamtes Schulwesen der Befreiung von der Staatsmacht, die es gegenwärtig und schon seit langer Zeit ablähmt. Es ließe sich denken, daß es gelänge, eine Bewegung großen Stils zu entfachen, die auf ein universell freies Schulwesen gerichtet wäre, beruhend auf Selbstverwaltung durch das rechte Zusammenwirken von Lehrern und Eltern, wenn auch selbstverständlich dieses nur nach und nach zu realisieren wäre und mit den nötigen Übergängen von dem, was ist, zu dem, was sein soll. Es ist von den Freunden eines solchen freien Schulwesens überzeugend dargelegt worden, wie in der Bundesrepublik Deutschland eine solche Bewegung wichtige Anknüpfungspunkte an gewissen Artikeln des westdeutschen Grundgesetzes finden kann, in deren logischer Konsequenz und vollends in deren Geist es liegt, eine solche universelle Freiheit zu ermöglichen, falls und soweit sie eben von genügend vielen Menschen, an genügend vielen Stellen gewollt würde. Nur im Wollen realisiert sich die Freiheit. Und würde daher mit Recht eingewandt werden können, die Freiheit des Geisteslebens werde kaum gewollt, und sei es auch schlechterdings unmöglich, die Menschen zu einem solchen Wollen aufzurufen, oder anders ausgedrückt: die Krankheit habe bereits einen solchen Grad erreicht, daß die Menschen nicht dafür zu haben seien, die Gesundheit zu wollen und das Heilmittel, das dazu notwendig ist, anwenden zu wollen - dann allerdings wäre nur die absolute Resignation in bezug auf die Freiheit des Geisteslebens, damit aber auf jeden gesunden Fortgang unserer Kultur überhaupt möglich. Hier liegt die eigentliche Schicksalsfrage.

Es ist auch nicht so, daß es etwa genügte, aus dem Willen zur Freiheit einmal Institutionen des freien Geisteslebens, z.B. freie Schulen, Hochschulen und dergleichen zu begründen, als ob damit alles getan wäre und man dann diese freien Institutionen gleichsam sich selbst überlassen, sich selbst aber dem Schlafe wieder hingeben könnte. Die Freiheit solcher Institutionen kann vielmehr nur in dem Maße erhalten werden, als sie, letzten Endes aus dem innersten Freiheitsbewußtsein und Freiheitsstreben der Beteiligten heraus, immer neu aktiv gewollt und immer neu angefacht und impulsiert wird. Die bloße Beharrung ist der größte Feind der Freiheit, und die Institutionen, die aus ihr heraus einmal begründet worden sind, haben in sich die Tendenz, zu erstarren und gerade in etwas die Freiheit Bedrohendes umzuschlagen. Es fehlt ja geistesgeschichtlich keineswegs an Erfahrungen darüber, wie die Verwalter geistiger Organisationen, gerade insoweit diese Selbstverwaltung üben können, ihre Macht (und eine solche müssen sie haben, um ihre autonomen Organisationen ordnungsmäßig und kontinuierlich leiten zu können) dazu mißbrauchen, ein verzopftes Fachwesen zu konservieren, Träger neuer Ideen oder Impulse fernzuhalten, Vertreter anderer Richtungen oder Gesinnungen auszuschließen, mit besonderer Vorliebe etwa die Schwiegersöhne der die Selbstverwaltung Übenden zuzulassen und dergleichen. Auf diese dem Geistesleben innewohnende Neigung hat Rudolf Steiner einmal hingewiesen mit den Worten:

"Das Geistesleben ist, wenn man ihm gegenübersteht, ein Element, das auf sich selbst gebaut ist; ein sehr strenges Element, ein Element, dem gegenüber man fortwährend seine Freiheit bewahren muß, das deshalb nicht anders als auch in Freiheit organisiert werden darf. Lassen Sie einmal eine Generation ihr Geistesleben freier als bisher entfalten und dann diese Generation das Geistesleben organisieren, wie sie es will - und es ist die reinste Sklaverei für die nächste Generation. Das Geistesleben muß wirklich, nicht bloß der Theorie nach, sondern dem Leben nach frei sein. Die Menschen, die drinnenstehen, müssen die Freiheit erleben. Das Geistesleben wird zur großen Tyrannei, wenn es überhaupt auf der Erde sich ausbreitet. Denn ohne daß eine Organisation eintritt, kann es sich nicht ausbreiten, und wenn eine Organisation eintritt, so wird die Organisation zur Tyrannin. Daher muß fortwährend um die Freiheit, die lebendige Freiheit gekämpft werden, gegen die Tyrannis, zu der das Geistesleben selber neigt."

Das Geistesleben gerade in seiner Freiheit muß auf der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Bewußtseinsentwicklung eine ständige Neuschöpfung sein, eine ständige Neuschöpfung aus dem innersten Ich des Menschenwesens heraus.

VII

In welchem Sinne das freie Geistesleben mit dem Nationalen, mit nationaler Sprache und Kultur und Schulen z.B. zu tun hat, konnte man aus dem Abschnitt V ersehen. Mehr aber noch zu betonen ist der übernationale Charakter des größeren Teil des Geisteslebens, zu dem es seinem inneren Wesen nach drängt. Das ist offenkundig bei all dem, was zusammenhängt mit Mathematik und den Naturwissenschaften sowie ihrer Anwendung in der Technik. Diese drängt ihrem innersten Wesen nach zu internationaler Handhabung. Der Staat als solcher hat in Wahrheit mit ihnen nichts zu tun. Er enthalte sich konsequenterweise einer jeden Einmischung in diese Gebiete! Dasselbe gilt von allem, was Kunst ist oder z.B. Religion. Auch diese wollen ihrem eigenen inneren Wesen nach als staatsfreie Lebensgebiete behandelt werden. Und ebenso wollen sie ihrem inneren Wesen nach über staatliche Grenzen hinweg Verbindungen miteinander suchen. Der Staat behindere diese nicht, er entlasse sie aus seinem Wirkensbereiche und beschränke sich bezüglich dessen, was von ihnen auf seinem räumlichen Bereiche liegt, auf die äußere Aufsicht z.B. baupolizeilicher und dergl. Art. Gerade an den genannten Phänomenen des freien Geisteslebens wird es deutlich, wie dieses etwas ist, das wie die ganze Dreigliederung des sozialen Organismus nicht von außen her gewissermaßen über die Dinge gestülpt wird, sondern dem entspricht, was aus den Dingen selbst heraus werden will. Es müßte dahin kommen, daß in elementarer Art dieses empfunden wird; das freie Geistesleben, mit dem wir es hier zu tun hatten, steht und fällt mit diesem elementaren Empfinden.

Anmerkungen

(1) Hier ist an einen Vorgang gedacht, wie er sich heute bei der Berufung des Generaldirektors einer Aktiengesellschaft durch deren Aufsichtsrat vollzieht.

(2) Wenn man sagt, z.B. in eine Fabrik erstrecke das Geistesleben etwas wie einen Golf, so geht man davon aus, daß eine Fabrik eine Veranstaltung der Wirtschaft ist, und was darin z.B. geistig-kulturell getrieben wird, kann dann eben mit Recht als ein solcher "Golf" des Geisteslebens betrachtet werden. In einem anderen - und tieferen Sinne freilich ist es so, daß es überhaupt keine Einrichtung des sozialen Lebens gibt, an der nicht in Wahrheit alle drei Glieder des sozialen Organismus Anteil haben. An einem jeden Wirtschaftsbetrieb z.B. hat außer dem Geistesleben - dieses übrigens z.B. an einer jeden Fabrik schon durch die in der Vergangenheit liegende Erfindung der in der Fabrik verwendeten Maschinen, die in ihr angewandten Fabrikationsverfahren usw. - einen allergrößten Anteil das Recht, insofern es sich um zusammenarbeitende Menschen handelt, für deren Arbeitsbeziehungen das Recht gilt. Jedes Theater, an sich gewiß eine Veranstaltung des "Geisteslebens", steht in rechtlichen Beziehungen zu seinen Mitarbeitern wie zu den Besuchern, es hat das Wirtschaftsleben mächtig in sich hereinragend usw. Entsprechendes gilt wiederum für die Veranstaltungen des Rechtsstaates, z.B. seine Behörden, etwa die Polizei.

In Wirklichkeit also ist es so, daß ausnahmslos jedes äußere Gebilde des sozialen Organismus den Charakter eines Zusammenflusses der drei verschiedenen Funktionen des sozialen Lebens besitzt, wobei nur einmal die eine, ein anderes Mal die andere Funktion überwiegt, weshalb man eben für den äußeren Sprachgebrauch eine Schule oder ein Theater als eine Anstalt des Geisteslebens, die Polizei oder auch z.B. das Parlament als das Organ der Gesetzgebung als eine des Rechtsstaats, eine Seifenfabrik aber z.B. als eine Veranstaltung des Wirtschaftslebens betrachtet.

(3) Näheres vgl. Karl Heyer: Die neuere Zeit. 2. Auflage. Kressborn 1957. Seite 157 f.

(4) ebd.; Seite 68.

(5) vgl. Karl Heyer: Wesen und Wollen des Nationalsozialismus. 3. Auflage. Basel 1991.

(6) Rudolf Steiner: Vortrag vom 14. Oktober 1921. In: Anthroposophie, soziale Dreigliederung und Redekunst. GA 339. 2. Auflage. Dornach 1971. Seite 72.


Quelle: Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst, Heft 42, 1994. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Ursprüngliches Erscheinungsdatum unbekannt.