Die Globalisierung gestalten - Kapitel 5

Die kulturelle Natur der Zivilgesellschaft

01.03.2000

Leseprobe aus Die Globalisierung gestalten: Zivilgesellschaft, Kulturkraft und Dreigliederung

Am 25. April 1999 befiel die Kommunistische Partei Chinas eine außergewöhnliche Angst. Mehr als 10.000 Anhänger des spirituellen Gurus, Li Hongzhi, auch Meister Li genannt, versammelten sich ruhig und friedfertig in den Büros der Kommunistischen Partei in Zhongnanhai. Sie protestierten gegen die ungerechten Presseberichte über die Falun Gong, der Bewegung für Meditation und Übung, deren Führer Meister Li ist. Viele kommunistische Parteimitglieder nahmen an dem stillen Protest teil. Auch sie waren Falun Gong Mitglieder.

Die kommunistische Führung Chinas geriet in Panik. Man erinnerte sich sofort an die friedliche Studentenrevolte in Tiananmem 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Jiang Zemin, Parteichef und Präsident Chinas, kochte vor Wut, als er führenden Mitgliedern seines Politbüros einen mitternächtlichen Brief zukommen ließ. «Ich kann nicht glauben, dass der Marxismus nicht über Falun Gong triumphieren kann.» 1

Aber Zemin glaubte seinen eigenen Worten nicht. Um sicher zu gehen, verbot er die Bewegung im Juli, weniger als drei Monate später, nachdem mehr als 10.000 Mitglieder der Falun Gong bei dem Vorfall verhaftet worden waren. Desweiteren ordnete er ein scharfes Durchgreifen hinsichtlich des Lehrmaterials der Falun Gong an. Parteifanatiker zerstörten 2 Millionen Bücher, und Planierraupen zerdrückten Tausende von Tonbandkassetten.

Wovor hatten Zemin und die Führung des mächtigen China Angst? Schließlich waren die Falun Gong keine politischen Umstürzler. Sie hielten sich lediglich an drei Grundsätze: Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht, gewonnen aus buddhistischer und chinesischer Spiritualität. Aber Zemin war besorgt über die 70-100 Millionen Anhänger der Falun Gong, eine Zahl, größer als die der 50 Millionen eingetragenen Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Mitglieder der Kommunistischen Partei praktizierende Falun Gong Anhänger sind, ein Zeichen dafür, dass der Kommunismus als Glaube in China langsam stirbt. Zemin und andere Parteiführer befürchten, dass Falun Gong die geistige Leere füllen und dadurch dramatische Veränderungen in China herbeiführen wird.

Falun Gong ist auch ein Mahnmal für den Misserfolg von Maos «Kulturrevolution» in den 60er Jahren. Mao wollte die spirituelle Kultur in China beseitigen. Aber jetzt, mit Falun Gong und anderen, tritt die Suche nach Spiritualität in China wieder auf und zwar gewaltig.

Meister Li lebt sicher in New York City. Von dort aus kommentierte er das Durchgreifen gegen seine Anhänger. Er gab eine Voraussage ab, die das Wesen der Macht und die Probleme der kommunistischen Führer bloß legt: «Sie können ihre Herzen nicht einsperren.» 2

In einem Interview mit Newsweek gab Meister Li folgende aufschlussreiche Antwort: «Sie behaupten, ich tue all dies wegen des Geldes. Wenn ich von jedem meiner Schüler auch nur einen Dollar nehmen würde, ich wäre Milliardär. Ich bitte die Menschen, an Macht und Politik nicht teil zunehmen. Die erschreckendste Konsequenz ist, dass, egal wie hart die chinesische Regierung die Menschen zurückstößt, die Massen das Vertrauen in die Regierung verlieren werden ... Die chinesische Regierung behandelt gewöhnliche Bürger als ihre Feinde. Es ist sehr schwierig für mich, die Folgen vorauszusagen, wenn die chinesische Regierung so weitermacht ... Es könnte einen weiteren Vorfall wie in Tiananmen geben». 3

Befürworter der Zivilgesellschaft können aus diesem Ereignis viele Lehren ziehen. Eine ist die über das Wesen der Kulturkraft, welches das Thema des nächsten Kapitels sein wird. Die andere dient unserem momentanen Zweck.

Dieser Vorfall in China ist höchst aufschlussreich für diejenigen, welche die Eigenart und die Identität der Zivilgesellschaft erfassen wollen. Einen wichtigen Zugang zum Geheimnis der Zivilgesellschaft bietet die Beobachtung ihrer Aktionen. Ein genaues Studium der aktuellen unterschiedlichen Aktionsformen, vervollständigt durch das derzeitige Selbstverständnis der Aktivisten in der ZivilgeseIlschaft, offenbart die Grundlage, die für die Zivilgesellschaft wirklich tragend ist.

Die Blume mit den Tausend Blüten

Die Zapatistas in Mexiko überraschten die mexikanische Regierung und die Welt der elitären Globalisierung ungefähr zur Zeit der Ratifizierung und der Einführung der WTO 1994 und 1995. Diese revolutionäre Bewegung griff zu den Waffen und erklärte dem Neo-Liberalismus und seinen Institutionen den Krieg. Ebenso erklärte sie der mexikanischen Regierung den Krieg, weil diese die Bedürfnisse des mexikanischen Volkes und ihrer Kultur vernachlässigte. Nach vielen Jahren des Kampfes sprach das mexikanische Volk erst kürzlich in einer nationalen Wahl den Zapatistas das Vertrauen aus.

Doch dies war eine ganz andere Revolution. Die Waffen sollten nicht töten, sondern beschützen. Die meiste Zeit war die Revolution ein Propagandakrieg. Trotz ihrer überwältigenden Popularität in Mexiko erstrebten die Zapatistas keine politische Macht. Sie waren nicht daran interessiert, die Staatsmacht zu ergreifen, obwohl sie sich diese leicht hätten nehmen können. Sie waren vielmehr daran

interessiert, ihre Kultur und ihre Lebensweise zu erhalten. Sie wollten den realen physischen Grund und Boden vor den äußeren Einflüssen, die versuchten, ihre Lebensweise auszumerzen, schützen. Sie beschreiben ihren Aufstand als wirkliche Kulturrevolution, als eine, die versucht, die guten Seiten der mexikanischen Gesellschaft wieder herzustellen, bevor die westlichen Kolonialmächte kamen und ihre ursprüngliche Lebensweise zerstörten. 4

Ein springender Punkt

Wenn man sich diese Ereignisse in China und Mexiko vor Augen hält, sowie die anderen Beispiele der Mobilisierungen durch die Zivilgesellschaft, wie sie in Kapitel 1 und 3 besprochen wurden, zeichnet sich ein erstes Bild vom Wesen der Zivilgesellschaft ab. Aus ihrer heutigen Erscheinungsform wird klar, dass sich die Zivilgesellschaft als ausgleichende Kraft zu den totalitären Tendenzen von Staat und Markt sieht. (Siehe Figur 2.)

Während des Prozesses ihrer eigenen Differenzierung macht die Zivilgesellschaft gleichzeitig deutlich, was sie nicht ist. Sie glaubt nicht, dass sie ein Staat oder ein Ersatz für den Staat ist. Sie glaubt auch nicht, dass sie ein Markt oder ein Ersatz für den Markt ist. Und, indem sie feststellt, was sie nicht ist, weist sie gleichzeitig, wenn auch für manche unbewusst, auf ihre eigene Identität hin. Deshalb ist das Verständnis darüber, was Zivilgesellschaft ist, in einem entscheidenden Maße abhängig von einem genauen Verständnis davon, was der Staat ist, und was der Markt ist. Dies wird dann helfen zu bestimmen, was die Zivilgesellschaft ist.

Aber bevor wir uns dem zuwenden können, müssen wir uns kurz vertraut machen mit der dreigliedrigen Natur des sozialen Lebens. Alle drei Institutionen - Zivilgesellschaft, Staat und Markt, sind Phänomene des sozialen Lebens. Um zu verstehen, was diese sind, müssen wir verstehen, wie sich das soziale Leben konstituiert.

Figur 2. Die Zivilgesellschaft als eine ausgleichende Kraft in der Debatte um die Gestaltung der Globalisierung

Die dreigliedrige Natur des Sozialen Lebens

Viele Sozialwissenschaftler stellen sich das gesellschaftliche Leben dreigliedrig vor. 5 Sie haben große Mengen historischer und aktueller Daten zusammengetragen, um zu zeigen, dass die Gesellschaft aus drei «Sphären» oder «Untersystemen» zusammengestellt ist. Diese drei Bereiche der Gesellschaft oder des gesellschaftlichen Lebens sind die Wirtschaft, die Politik und die Kultur. Diese sind die drei «Teilmengen» des sozialen Lebens. (Siehe Figur 3.)

Die Wirtschaft ist das spezielle Untersystem der Gesellschaft oder der sozialen Welt, das mit Produktion, Verteilung und Verbrauch von Waren und Dienstleistungen für die angemessene Befriedigung menschlicher Bedürfnisse befasst ist. Die Politik ist das spezifische System, das zuständig ist für Gerechtigkeit und Sicherheit in allen Bereichen menschlicher Beziehungen. Die Kultur ist der Bereich, der die orientierenden, umfassenden Ideen in einer jeden Gesellschaft einführt. Die Kultur ist auch der erneuernde Bereich, der Identität und Sinn vermittelt, der die vollen menschlichen Potenziale in den einzelnen Individuen entwickelt und sie befähigt, kompetente Teilhaber an der Wirtschaft, dem politischem Leben, der Kultur und der Gesellschaft als Ganzes zu sein.

Die Wirtschaft beschäftigt sich damit, wie die Natur wirksam nutzbar gemacht werden kann, um die menschlichen Bedürfnisse in der ganzen Welt zu decken. Die Politik beschäftigt sich damit, wie Menschen miteinander menschlich umgehen. Die Kultur beschäftigt sich mit dem Bereich der Ideen in ihren verschiedenen Formen, einschließlich Weltanschauungen, Wissen, Bedeutungen, Symbolen, Identität, Ethik, Kunst, Spiritualität und anderen mehr.

Gestützt auf diesem archetypischen Verständnis des sozialen Lebens, können wir jetzt das offene Geheimnis entschlüsseln, das in der gegenwärtigen globalen Konfrontation zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt lebt, wie in Figur 2 dargestellt.

Figur 3. Die dreigliedrige Natur des sozialen Lebens

Zivilgesellschaft, Staat und Markt als die Schlüsselinstitutionen gesellschaftlichen Lebens

Glücklicherweise gibt es eine fast einhellige Übereinstimmung darüber, aus welchen Bereichen des sozialen Lebens der Markt und der Staat kommen.

Das macht die Aufgabe einfacher aber nicht notwendigerweise leichter, wie wir nachher sehen werden.

Wenn wir das Wort «Markt» hören, verbinden wir das sofort mit dem Bereich der Wirtschaft. Der Markt ist die Schlüsselinstitution in den kapitalistischen Wirtschaftssystemen vieler Länder der Welt. Und wenn wir das Wort «Staat» hören, verbinden wir damit sofort den politischen Bereich. Jedes heutige Land der Welt hat eine Regierung und der Staat ist die Schlüsselinstitution im politischen Leben, ganz gleich ob das Land kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch geführt ist.

Selbst wenn es manchmal eine Auseinandersetzung zwischen Markt und Staat über ihre Gebietsansprüche gibt, wird ihr Ursprung im wirtschaftlichen bzw. politischen Bereich nicht durcheinandergebracht oder in Frage gestellt. Staat und Markt können über das Maß an Privatisierung streiten, über das Maß, in welchem der Staat sich direkt in wirtschaftliche Prozesse einmischen soll. Und die Institutionen des Marktes, einschließlich der Wirtschaftsunternehmen, hätten gerne, dass der Staat seine eigenen Unternehmen aus dem Staatsbesitz entlässt. Aber es gibt wenig oder keinen Zweifel darüber, weder in bezug auf den Markt noch in Bezug auf den Staat, wo das natürliche «Gebiet» jeder dieser Institutionen liegt.

Dieses unausgesprochene oder manchmal auch deutlich ausgedrückte Verständnis wird oft klar, wenn Staat und Markt von öffentlich-privaten Partnerschaften sprechen, selbst wenn sie über Privatisierung, Wettbewerbsfreiheit, Liberalisierung und andere aktuelle Begriffe der Globalisierung debattieren. Beide sind der Überzeugung, dass Wirtschaft und Politik voneinander getrennte Funktionen ausüben.

So werden mit dem Markt und dem Staat zwei große Untersysteme, Bereiche oder Sphären der Gesellschaft oder des sozialen Lebens sichtbar - Wirtschaft bzw. Politik.

Wenn wir das Wort «Zivilgesellschaft» hören, sind wir jedoch oft verwirrt, zu welchem Bereich der Gesellschaft die «Zivilgesellschaft» gehört. Gehört sie zur Wirtschaft, zur Politik oder zur Kultur, der dritten großen Sphäre der Gesellschaft?

Lassen Sie uns die erste Möglichkeit prüfen. Ist die Zivilgesellschaft eine Einrichtung des wirtschaftlichen Lebens? Wenn wir diese Position einnehmen, begegnen wir zwei empirischen Tatsachen, die uns zwingen, diese Hypothese auf

zugeben. Die breite Mehrheit der Zivilgesellschaftsorganisationen (CS0s) ist nicht in der Produktion, der Verteilung und dem Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen tätig. Bei einigen wenigen von ihnen mag dies zu einem kleinen Teil ihrer Arbeit der Fall sein, aber gewiss nicht als die vorrangigste Aktivität ihrer Organisation. Zudem betrachten sich CS0s selbst als das Gegengewicht zu totalitären Tendenzen auf dem Markt. Dabei bedienen sie sich nicht in erster Linie einer wirtschaftlichen Sprache. Und wenn sie es doch tun, mag die Sprache zwar wirtschaftlich klingen, aber insgesamt beziehen sich die Argumente auf eine andere Sphäre des gesellschaftlichen Lebens. 6

Lassen Sie uns nun die zweite Möglichkeit überprüfen. Ist die Zivilgesellschaft eine Einrichtung des politischen Lebens? CS0s engagieren sich in Menschenrechtsfragen, insbesondere in der Verteidigung der Menschenrechte. Ist das nicht eine politische Aktivität? Hier muss man unterscheiden, ob die CS0s es als ihre Aufgabe ansehen, direkt die staatlichen Behörden und Institutionen zu übernehmen, oder ob das Eintreten der CS0s für die Menschenrechte und andere politische Themen aus einer Kritik stammt, die den Staat anklagt, seine Aufgabe nicht gründlich genug zu erfüllen.

Nehmen wir den Fall einer Umweltorganisation, die eine Regierungsabteilung kritisiert, weil sie versäumt hat, die Auswirkungen eines Atomkraftwerkes auf die Umwelt ausreichend einzuschätzen. Wenn die Umweltorganisation dies tut, engagiert sie sich auf politischem Gebiet. Aber heißt das schon, dass diese Umweltorganisation eine politische Einrichtung ist, die ihre Argumente vorbringt, um beim nächsten Wahlgang Stimmen zu gewinnen und als ein Mittel, politischen Aufstieg und Macht zu erlangen? Oder bedeutet es, dass die Umweltorganisation die Regierung daran erinnert, ihrer eigenen Funktion gerecht zu werden, während die CSO überhaupt nicht den Wunsch hat, selbst ein politisches Amt oder eine Funktion zu übernehmen?

Die meisten CS0s würden die letztere Position einnehmen. (Natürlich mag es Ausnahmen geben, aber das hier Gesagte gilt für die größere Allgemeinheit). Die CSO fordert die Regierung auf, ihren unausgesprochenen ethischen Vertrag mit der Bürgerschaft einzuhalten, einen Vertrag, der dem Staat erlaubt, politische Macht nur solange inne zuhaben, wie er glaubwürdig die Gesellschaftsnormen schützt und fördert. Die CSO selbst bleibt außerhalb des formalen politischen Prozesses, greift aber bei gewissen Punkten ein, wenn sie feststellt, dass diese die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Normen der Gesellschaft zu verletzen beginnen.

Die CSO bildet keine politische Partei und versucht nicht, den Posten der entsprechenden Regierungsbeamten zu bekommen. Statt dessen bezieht sie ihre Argumente und ihre Substanz aus einem anderen Bereich und aktiviert dann diese Substanz als Kritik und zur Ermutigung des Regierungsbeamten, seine oder ihre Aufgabe zu erfüllen. Im Fall der vorab erwähnten Umweltorganisation, kann diese behaupten, dass die Wissenschaft hinter der auf die Umwelt bezogenen Behauptung fehlerhaft ist, und dass diese Behauptung deshalb ein nicht zu akzeptierendes Risiko für die Menschen in der Gesellschaft insgesamt darstellt. Die CSO benutzt alle ihr verfügbaren Mittel, um die Sache für sich zu entscheiden, aber selten verwandelt sie sich selbst in eine politische Partei, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn sie es tut, trifft sie auf die Probleme, welche für die Grünen in Europa entstanden sind, wie bereits oben erwähnt wurde.

Aus welchem Gesellschaftsbereich erhält nun die Zivilgesellschaft ihr Mandat? Aus den oben angestellten Überlegungen wird klar, dass die Zivilgesellschaft die Schlüsselinstitution im kulturellen Bereichs des sozialen Lebens ist. Die Kultur ist, so haben wir oben gesehen, der Bereich, der sich aktiv mit der Findung, der Ausarbeitung und dem Schutz von Sinn und Werten der Gesellschaft befasst. Die Zivilgesellschaft verteidigt diesen kulturellen Raum der Gesellschaft vor Eingriffen und Verletzungen seitens des Staates und des Marktes. Das meinen die CS0s, wenn sie sagen, dass die Zivilgesellschaft ein Gegengewicht zu totalitären Tendenzen in Staat und Markt ist. Natürlich wird sich die Zivilgesellschaft auch gegen einen Totalitarismus in der Kultur selbst wenden. Das ist auch Teil ihrer Funktion.

Wir können unsere Analyse jetzt mit einem Bild zusammenfassen. ( Siehe Figur 4.). In diesem Bild verstehen wir nun die versteckte Aussage und Bedeutung des ersten Bildes, Figur 2. Die drei widerstreitenden Kräfte der Gesellschaft (Figur 2) sind in Wirklichkeit Ausdruck des Konfliktes zwischen den zwar unterschiedlichen, ideell aber komplementären Erfordernissen von Kultur, Politik und Wirtschaft. Das gewaltige globale Missverständnis über Dutzende von Themen kommt daher, weil die Schlüsselinstitutionen, welche Kultur (Zivilgesellschaft), Politik (Staat) und Wirtschaft (Markt) repräsentieren, keine klare Vorstellung davon haben, wie die Gesellschaft zusammengesetzt ist und was ihre entsprechenden legitimen Rollen und Aufgaben innerhalb der Gesellschaft sind. Mangels dieses Verständnisses versuchen sie alle das soziale Leben zu beherrschen, während tatsächlich jedes System von der Vitalität des anderen, welches es zu beherrschen versucht, abhängt.

So ist es zum Beispiel klar, dass die Wirtschaft nicht produktiv, effizient und wirklich ausreichend für menschliche Bedürfnisse sein kann, wenn ihre Aktivitäten die Kultur beherrschen. So schrieb selbst der zentrale Pionier der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith, ein langes Vorwort zu Der Wohlstand der Nationen. Sein Buch Theorie der Gefühle, das bereits seit 10 Jahren ein Bestseller war, bevor er Der Wohlstand der Nationen schrieb, zeigt die Bedeutung moralischer Überlegungen für die Sicherung von Frieden, Ordnung und Fortschritt einer Gesellschaft.

Wenn man die beiden Bücher zusammen betrachtet, können wir folgenden Schluss ziehen: Werden die moralischen Grundsätze einer Gesellschaft durch Laissez-Faire oder neo-Iiberalen Kapitalismus zerstört, dann werden die Langzeit-Voraussetzungen für die Effizienz der Märkte untergraben. Eine ähnliche Botschaft gibt es in dem Werk von Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaft 1998. Sein Buch Development as Freedom behauptet, dass Ethik und Leidenschaft, besonders im Zusammenhang mit der Ausrottung der Armut, wesentlich sind für die Langzeit-Stabilität und -Produktivität in der Wirtschaft. Weiterhin wird, wie Karl Polanyi in seinem Buch The Great Transformation belegt, die andauernde Aushöhlung ethischer Grundsätze in einer Gesellschaft durch die Wirtschaft eine mächtige Gegenreaktion gegen die Wirtschaft an sich in Bewegung setzen. Und schließlich ist dies auch teilweise die Botschaft der Weltbankstatistik, die zeigt, das 64% des Wohlstandes in der Welt durch «Sozialkapital» finanziert wird, während das Geschäftskapital nur für 16% der Gesamtproduktion in der Welt die Grundlage ist.

Figur 4. Die Schlüsselinstitutionen in der dreigliedrigen Gesellschaft

Die Wirtschaft kann somit die Lebendigkeit der Kultur nicht verletzen, ohne drastische Folgen für sich selbst. Und das gleiche gilt umgekehrt für die Kultur. Sie kann ihre Werte nicht in ungerechtfertigter und totalitärer Weise der Wirtschaft auferlegen. Mit dem Ende der Wirtschaft wird die Kultur aus einem sehr einfachen Grund ebenfalls untergehen. Da die Kultur sich ihre eigenen materiellen wirtschaftlichen Grundlagen nicht selbst schafft, denn das ist nicht ihre zentrale Aufgabe, ist sie abhängig von Schenkungen, Subventionen und Spenden. Und die kommen meistens, selbst in der Form von Steuern und finanziellen Zuwendungen seitens des Staates, letztlich alle aus der Wirtschaft. So wird am Ende die Kultur selbst darunter leiden, wenn, wie zu einigen Zeitpunkten in der Geschichte geschehen, die Kulturnormen ein unverantwortlich anmaßendes Übergewicht haben.

In dieser Weise kann eine ähnliche Einsicht gewonnen werden hinsichtlich der Interaktionen zwischen Kultur und Politik, wie zwischen Wirtschaft und Politik. Die ideale Situation ist erreicht, wenn alle drei Bereiche der Gesellschaft mit ihren Schlüsselinstitutionen ein tiefes Verständnis und Respekt gewinnen für ihre eigenen einzigartigen Aufgaben als zentrale Untersysteme der Gesellschaft. Und aus diesem Verständnis und gegenseitigen Respekt heraus ergeben sich enorme Möglichkeiten für eine wirklich umfassende und nachhaltige menschliche Entwicklung.

Durch diese Differenzierungen können wir nun die auf einander folgenden Phasen im Selbstverständnis der Zivilgesellschaft erkennen. Zunächst musste sich die Zivilgesellschaft behaupten im Gegensatz zu und in Unterscheidung gegenüber dem Staat und dem Markt. Nur so konnte sie das Gegengewicht zu Staat und Markt werden. In dieser ersten Phase (die Figur 2 entspricht) besteht die Zivilgesellschaft auf ihrer eigenen Autonomie und dabei unbewusst auch auf jener der Kultur. Sie verteidigt eigentlich die Lebendigkeit des kulturellen Bereiches in der Gesellschaft, einen Raum, der langsam durch die politischen und wirtschaftlichen Mächte, die hinter der elitären Globalisierung stehen, vereinnahmt wurde.

Ihrer Autonomie sicher, agiert die Zivilgesellschaft jeweils bilateral gegenüber dem Staat und gegenüber dem Markt. Das Verhältnis zwischen den dreien ist oft antagonistisch. Eine zweite Phase beginnt jedoch, wenn ein wachsendes Verständnis sich abzuzeichnen beginnt über die sich eigentlich ergänzenden Rollen in der Gesellschaft. Die Mächte der elitären Globalisierung fangen an, die nicht mehr rückgängig zu machende und dauerhaft starke Präsenz der Zivilgesellschaft anzuerkennen, und versuchen, mit ihr zusammen Partnerschaftsbereiche auszuarbeiten. Diese Phase entspricht der Darstellung in Figur 4.

Diese neue Phase ist jedoch sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Sie ist ein Segen, weil sie der Anfang ist einer möglichen Synergie der verschiedenen Bereiche und Kräfte der Gesellschaft bezüglich der Förderung aller lebenden und nichtlebenden Wesen auf unserem Planeten. Die unterschiedlichen Bereiche versuchen nicht mehr, den rechtmäßigen Raum der verschiedenen Gesellschaftssphären zu übernehmen. Bei der Revolution, die sich hier für die Zivilgesellschaft abspielt, geht es nicht um einen Griff nach staatlicher oder wirtschaftlicher Macht. Aber doch ist diese Revolution, obwohl friedlich, zur gleichen Zeit sehr radikal, weil sie die Rolle des übermächtigen Staates und/oder Marktes reduziert und sie darauf zurückführt, wirklich menschliche und ökologische Ziele zu erreichen.

Sie ist ein Fluch, weil der Begegnungsraum kritischen und grundsätzlichen Engagements zwischen den Bereichen gleichzeitig der Raum für mögliche Vereinnahmungen ist. Das gilt besonders für CS0s, die nicht die wahren kulturellen Ursprünge ihrer Bedeutung und Macht verstehen. Kritisches Engagement kann vordergündig und unaufrichtig sein. In allen Bereichen müssen die einzelnen Beteiligten ständig auf der Hut sein vor rückfälligen Tendenzen und strukturellen Zwängen, wie vorherrschende Normen und Praktiken, die in allen drei Bereichen existieren. Diese persönlichen und institutionellen Mechanismen können leicht jeden unbewussten Umgang miteinander, und sei er noch so kritisch und engagiert, überdecken und überwältigen.

Es gibt eine dritte Phase, die auf die Zivilgesellschaft in Verbindung mit den anderen Schlüsselinstitutionen der Gesellschaft wartet. Das ist die faszinierende Phase aktiver Dreigliederungsprozesse bezogen auf starke, echte und kreative Partnerschaften zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt. Die Diskussion darüber verschieben wir jedoch noch, um eine Reihe von brennenden Fragen zu behandeln, die sich von dem Zeitpunkt an ergeben haben, in dem die Zivilgesellschaft in die zweite Phase ihrer Aktivitäten in der Welt eingetreten ist.

Bevor wir uns diesen brennenden Fragen direkt zuwenden, müssen wir jedoch zuvor noch unsere Analyse vertiefen, indem wir einen kurzen Blick werfen auf die Geschichte der verschiedenen Beziehungen zwischen der Kultur und der Gesellschaft aus der Sicht von Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Anthropologie und anderen verwandten Disziplinen. Nur dann kann ein synthetischer Rahmen entstehen, der uns helfen wird, mit den schwierigen Themen der Identität der Zivilgesellschaft und, damit zusammenhängend, ihrer dauerhaften Effektivität in der Auseinandersetzung mit den augenblicklichen weltweiten Problemen umzugehen.

Die wissenschaftliche Debatte über die Beziehung zwischen der Kultur und den anderen zwei Gesellschaftsbereichen

Die Begriffe der aktuellen Debatte um das Verhältnis von Kultur und den anderen beiden Bereichen der Gesellschaft wurden bereits 150 bis 200 Jahre früher zur Zeit von Hegel und Marx geprägt. Seit damals müssen moderne Sozialwissenschaftler sich, wenn auch in völlig neuer Weise, der von Hegel und Marx formulierten Herausforderung stellen. In der folgenden Abhandlung werde ich mich weitgehend auf den wichtigen Überblick von Jeffrey Alexander beziehen, einem Sozialwissenschaftler, der zusammen mit Steven Seidman ein Buch zu diesem Thema Culture and Society: Contemporary Debates, erschienen bei Cambridge University Press, herausgegeben hat.

Sozialwissenschaftler bedienen sich einer abgekürzten Sprache, um mit der schwierigen Beziehung zwischen Kultur und Politik einerseits und zwischen Kultur und Wirtschaft andererseits umzugehen. Wie wir sehen werden, ist diese Beziehung verbunden mit der ursprünglichen geschichtlichen Debatte über das Wesen von «Handlung» und «Ordnung» oder «System» und «Struktur». Und diese Debatte wird die wichtige Rolle eines Vermittlers einführen, der oft unsichtbar im großen Kampf zwischen Kultur, Politik und Wirtschaft bleibt. Dieser geschichtliche Vermittler ist der Mensch. Die nachfolgende Auffassung von «Handlung» und «Ordnung» stellt eine Voraussetzung dar, um viele brisante Fragen der heutigen Zivilgesellschaft zu verstehen und zu beantworten.

Die mechanistische Anschauung sagt, dass die «Handlungen» der Menschen von außen geführt und bestimmt werden. So wie sich eine Billiardkugel bewegt, weil sie von einer anderen Billiardkugel von außen angestoßen wurde und deshalb eine «objektive Handlung» vollzieht, so werden menschliche Handlungen durch die Bedingungen ihrer sozialen Umgebung bestimmt. Deshalb sind die Ordnungen oder die Strukturen von Kultur, Politik und Wirtschaft, die aus diesen unfreien Handlungen entstehen, mechanistische und zwanghafte.

Der nicht-mechanistische oder «subjektive», wenngleich nicht automatisch freie Ansatz über Handlung sagt das Gegenteil. Die Handlung kommt aus dem Inneren des Menschen und die «Ordnung», die daraus entsteht ist «ideational» 9 . Weiter:

«Es gibt eher subjektive Ordnung als subjektive Handlung, weil Subjektivität eher als Rahmen denn einfach als Absicht verstanden wird; es gibt eher gemeinsame Ideen als individuelle Wünsche, ein Rahmen, der sowohl als Ursache als auch als Ergebnis eher einer Mehrheit von auslegenden Handlungen als einer einzelnen Handlung per se gesehen werden kann. Erfahrung und die Auslegung von Erfahrung sind in dieser Ansicht ein zentrales Thema.» 10

Wo in diesen Betrachtungen taucht die Kultur auf?

«Kultur spielt in dem Maße eine Rolle, wie Bedeutung in diesem (autonomen) Sinn als angeordnet betrachtet wird. Kultur ist die Ordnung, die sinnvoller Handlung entspricht. Subjektive, antimechanistische Anordnung wird eher freiwillig als aus der Notwendigkeit im mechanistischen, objektiven (von außen auferlegten ) Sinn befolgt.» 11

Bereits hier ist es interessant zu beobachten, dass schon bei der ersten Formulierung der Debatte der Sitz der «Handlung» dem Bereich der Kultur zugewiesen wird, selbst wenn die eine Seite die Kultur mehr als mechanistische Projektion politisch-ökonomischer Prozesse sieht. Das ist ein wichtiger Aspekt, weil beide Seiten der Debatte die Kultur als den Bereich sehen, in dem gemeinsame Bedeutungsinhalte oder Auffassungen entstehen und geäußert werden. In der mechanistischen Schule hat die in der Kultur entstehende Auffassung ihre Ursprünge in den «objektiven» Prozessen von Politik und Wirtschaft. In der antimechanistischen Schule ist die Auffassung in den «subjektiven» Prozessen bei den Menschen selbst entstanden. Wir können diesen Gedanken in Figur 5 zusammenfassen.

Interessanterweise wird die Kultur, weil sie der Sitz der Sinninhalte und Werte und somit der potenzielle Sitz der Bedeutung ist, die auf freie Art entsteht, mit den Ursprüngen anti-mechanistischer Formen der Sozialwissenschaft identifiziert. Im Gegensatz dazu wurde die politische Ökonomie mit mechanistischen sozialwissenschaftlichen Formen identifiziert. Hier sehen wir bereits die akademisch-wissenschaftliche Entsprechung von der Auffassung der Zivilgesellschaft als das Gegengewicht zu Staat und Wirtschaft.

Hegel setzte sich für die Vorherrschaft der Ideen in der eigentlichen Konfiguration der Gesellschaft und der Weltgeschichte ein. So war «Handlung» vomGeist oder vom «Geist des Zeitalters» inspiriert, eine Vorstellung, die einige zeitgenössische Philosophen als Equivalent zum Kulturbegriff ansehen. Geschichtliche Entwicklung war Ausdruck der größer und größer werdenden Fähigkeit des «Zeitgeistes», seine Ideen in den «Ordnungen» menschlicher Gesellschaften ausgedrückt zu finden. Kultur war das Tor, aus dem sinnvolle Handlung hervortritt, eine Handlung, welche die Macht hat, soziales Leben zu ordnen.

Marx vertrat das Gegenteil. Er entwickelte die Unterscheidung zwischen «Basis» oder «Sozialwesen» und «Überbau» oder «Bewusstsein». «Sozialwesen», »Basis» oder «Ordnung» ist bestimmend für das Bewusstsein oder die «Handlung» der Menschen. In diesem Konzept ist Kultur, der Bereich der Sinninhalte und Bedeutungen, nur die Heimat für gespiegeltes, falsches Bewusstsein, ein nur äußerliches Phänomen der politischen Ökonomie. «Kulturelle Phänomene, von gesetzlichen Regeln und religiösen Riten bis zur Kunst und intellektuellen Ideen, sind dem Überbau zugeschrieben und werden als von der Basis bestimmt vorgestellt.» 12 Die wirkliche «Basis» ist der ausbeutende Bereich der Wirtschaft, der, um seine Macht aufrechtzuerhalten, das politische Leben in der Hand hält, und, um die elitäre Übernahme der Macht durch die wirtschaftliche Sphäre zu rationalisieren, auch das kulturelle Leben in der Hand hält. Wirtschaftliche Massen sind die wirklichen Kategorien sozialen Lebens und die wirtschaftliche Klasse bestimmt das Bewusstsein.

Dilthey übernahm Hegels Argumente und ersetzte Hegels Begriff des «Geist des Zeitalters» durch mehr religiöse Quellen. Er betonte auch die Bedeutung menschlicher Vorsehung als Quelle für Sinn und Bedeutung, eine weitere Abweichung von Hegel, bei dem das Individuum dazu tendiert, in den großen Prozessen der Geschichte zu verschwinden. Dilthey verteidigte die Autonomie der Kultur vor politischen und wirtschaftlichen Prozessen und argumentierte, wie gemeinsame Auffassungen zwischen Individuen die Kultur schließlich befähigen, eine ordnende Kraft für sich selbst und über sich selbst hinaus zu finden.

Dilthey führt die «Hermeneutik» ein, eine Interpretationsmethode, um Zugang zu dem inneren Ort im Menschen zu gewinnen, an dem sich die ordnende Kraft der Kultur befindet.

Figur 5. Zwei traditionelle Bezugsrahmen für die Erklärung des Verhältnisses zwischen Handlung und Ordnung

«Interpretation beruht auf dem Verstehen, nicht einfach nur auf der Beobachtung. Dilthey stellt so die hermeneutische Methode der 'Geisteswissenschaften' den beobachtenden, erklärenden Methoden der 'Naturwissenschaften' gegenüber.» 13

Geschichtlich gesehen gab es zwei Reaktionen auf Diltheys Einstellung. Mit diesen zwei Reaktionen beginnen wir auch, die auftauchende Kraft der Seite der Debatte zu beobachten, welche für die kulturelle Autonomie eintritt.

Zuerst gab es das große System des «Funktionalismus», eingeführt von Talcott Parsons, einem Soziologen der Harvard Universität. Parsons Funktionalismus beherrschte die Sozialwissenschaften, besonders in den Vereinigten Staaten, über mehr als 30 Jahre. Das ist verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Parsons Theorie das kräftigste Gegenargument lieferte gegen die mechanistische Schule, die von Marx verfochten wurde.

Parsons versuchte, für einen ausgeglicheneren Weg zwischen den Idealisten und Mechanisten einzutreten. Auf der einen Seite argumentierte er, dass jede soziale Handlung die Existenz kultureller Kategorien (Werte, Normen, Meinung usw.) voraussetzt. Auf der anderen Seite kann man die wirklichen Handlungszwänge nicht weg lassen, die da sind hinsichtlich begrenzter Möglichkeiten und vorhandener Richtlinien, auf welche die Handlung im sozialen Leben trifft.

Desweiteren postuliert Parsons die Existenz einer dritten analytischen Ebene: die Persönlichkeit.

«Weder kulturelle Regeln noch sozialer Determinismus schließen die Rolle der psychologischen Imperative aus. Handlung ist symbolisch, sozial und motivierend zur gleichen Zeit ... Parsons Festhalten an der analytischen Autonomie der Kultur, der sozialen und psychologischen Systeme, verspricht einen Ausweg aus der Mechanisten-Subjektivisten Trennung, ohne eine der Seiten abzuschreiben. Es ist Platz für die Kultur, aber sie ist nur ein relativ autonomer Bereich. Man braucht auch die Analyse einer mehr mechanistischen Art ... Das Versprechen dieses Ansatzes kann eingelöst werden, wenn die Trennung zwischen diesen Ebenen (der Analyse) eher konkret als analytisch vollzogen wird. » 14

Man kann hier eine Abweichung von der extremen Autonomie beider Positionen erkennen hin zu einer Position, bei der man konkret bestimmen muss, wie die verschiedenen Untersysteme der Gesellschaft aufeinander wirken. Somit erreichen wir hier einen Punkt, der ähnlich ist unserer früheren Diskussion bezüglich der Phasen des Selbstverständnisses in der Zivilgesellschaft. Phase 1 entspricht der geschichtlichen Debatte darüber, wessen Autonomie folgerichtig ist, die der Kultur oder die der politischen Ökonomie. Phase 2 entspricht der Position Parsons, dass kein Untersystem ganz autonom ist; sie wirken aufeinander und formen sich gegenseitig.

In diesem Zusammenhang führt Parsons ein sehr wichtiges Konzept ein, eines, das bedeutende Auswirkungen auf die laufenden Debatten innerhalb der Zivilgesellschaft haben wird. Es ist das Konzept der «Institutionalisierung». Der Einfluss der Kultur auf die Politik und die Wirtschaft wird unmittelbar wirksam oder operativ mittels der Art, durch welche innerhalb der Kultur hervorgebrachte «Werte» zu den in der Gesellschaft vorherrschenden werden, indem sie in die Systeme von Politik und Wirtschaft eingeführt und dann von diesen verinnerlicht oder internalisiert werden. Das Maß der ordnenden Kraft der Kultur ist verbunden mit dem Maß, durch welche sie fähig ist, ihre Auffassungen und Werte innerhalb von Politik und Wirtschaft zu institutionalisieren.

In der tatsächlichen Praxis jedoch schienen die Anhänger Parsons vergessen zu haben, dass sie untersuchen wollten, wie die Kultur sich im Bereich von Politik und Wirtschaft institutionalisierte. Statt dessen schienen ihre Studien zu belegen, wie Werte aus den Bedingungen der Dynamik hervorgingen, die in Politik und Wirtschaft vorherrschend ist.

Diese einseitig ausgerichtete Neigung des «Funktionalismus» zum vorherrschenden Einfluss von Politik und Wirtschaft auf die Kultur schwappte auch auf die Entwicklungstheorie über. Die Kultur verschwand aus vielen Entwicklungsgrundsätzen, und die Ausrichtung in ihnen wurde immer politischer und ökonomischer. Diese Unsichtbarkeit der Kultur durchdrang die Entwicklungsdiskurse über Jahrzehnte, bis dann kürzlich ein neues Verständnis von Kultur aufkam. Selbst prominente Führer der globalen Zivilgesellschaft wurden von der Sprache dieser Debatte so eingenommen, dass sich einige Zivilgesellschaften als politische Institutionen betrachten, während sie gleichzeitig kulturelle Macht und Mittel mobilisieren, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Vorherrschaft des Funktionalismus in der Entwicklungstheorie wird auch unterstrichen durch die bestehende Typologie verschiedener Wirtschaftsformen. In der APEC zum Beispiel gab es vor der Intervention der Philippinischen Agenda 21 (PA21) einen Kampf um die Vorherrschaft zwischen dem staatlich geführten Kapitalismus Japans und der marktgeführten Wirtschaft der USA. Vor der Erscheinung der PA21 gab es kein Konzept für ein kulturell orientiertes oder ethisch fundiertes Wirtschaftssystem.

Die andere Antwort auf Dilthey ist Gramsci. Und mit dessen Ansicht wird die Autonomie der Kultur als drittem Gesellschaftsbereich endlich begründet. Gramsci ist Marxist, aber nicht in gleicher Weise wie Marx. Gramsci könnte ein kultureller Marxist genannt werden, da er die Bedeutung der Kultur im Kampf um eine kommunistische Gesellschaft favorisiert. Selbst wenn Gramsci vage geblieben sein mag mit seiner Vorstellung von der Kultur und dem Weg, wie er sie entfaltet, so hat er doch die historische Aufgabe erfüllt, der Kultur wieder eine gewisse Autonomie und Bedeutung zu verschaffen.

Gramsci sprach über «kulturelle Hegemonie», das ist die Herrschaft über die Massen durch Intellektuelle, die für die vorherrschende kapitalistische Ansicht eintreten. So verstand Gramsci kulturelle Befreiung als einen wichtigen ersten Schritt im gesamten Prozess zur Überwindung des Kapitalismus.

Man muss jedoch darauf hinweisen, dass Gramsci, wie Parsons, nicht wirklich interessiert war an der unabhängigen, autonomen Art und Weise, mit der die Kultur in die Auffassungen und Werte hinein webt, die für die Gesellschaft so bestimmend sind. Beide waren mehr an den wirksamen, operationellen Aspekten der Kultur interessiert, mit denen sie die Dynamik der anderen Untersysteme der Gesellschaft berührt und beinflusst.

Alexander fasst den Stand der Sozialwissenschaft, der mit der Artikulation der Anschauungen von Gramscis und Parsons erreicht war, so zusammen.

«In der funktionalistischen Theorie führte die Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft zu einer engeren Ausrichtung auf Werte als auf Symbole. Im kulturellen Marxismus spielt das Konzept des «Klassenbewusstseins» fast die gleiche Rolle. Obwohl es in Begriffen kultureller Auffassung definiert wird, wird es in das soziale System selbst verlegt. Aus diesem Grund gerät die marxistische Analyse des Bewusstseins - wie die funktionalistische Analyse der Werte - sozial oft viel verkürzter als ihr Einverständnis mit der relativen Autonomie der Kultur impliziert. Wir sehen wieder, wie schwierig es ist, ein echtes, voneinander abhängiges oder interdependentes Verhältnis zwischen der Kultur und der Gesellschaft zu erreichen.» 15

Genau an diesem Punkt werden die sozialen Schriften von Saussure für die Verteidigung kultureller Autonomie entscheidend, selbst wenn er diese in etwas einseitiger Art erreicht hat.

Saussure war führend in der Errichtung der Schule der Semiotik, der Wissenschaft der Zeichen oder der «strukturellen Analyse» oder dem Strukturalismus, wie sie auch genannt wurde. In seiner Analyse der Sprache vertrat Saussure die Vorstellung, dass die Struktur der Sprache durch Gesetze, die ihr eigen sind, festgelegt wird und nicht durch das gesellschaftliche System, in das die Sprache eingebettet ist.

Saussure argumentiert folgendermaßen. Wörter sind eigentlich Zeichen, das heißt, es gibt Bezeichnendes und Bezeichnetes. Das «Bezeichnende» ist die materielle Komponente oder der Klang der Wörter. Das «Bezeichnete» ist der Begriff, auf das sich das Bezeichnende bezieht. Das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ist willkürlich oder «arbiträr». Es hängt davon ab, wie es konventionell gebraucht wird.

Saussure geht noch weiter. Diese Wülkür bezieht sich auch auf das soziale Leben:

«Jede soziale Aktivität ist in einem Zeichensystem verstrickt, welches analog zur Sprache wirkt. Weder geschichtliche Entwicklung noch soziale Verhältnisse bestimmen die Struktur dieses Zeichensystems. Ihre Bedeutung kann nur dadurch verstanden werden, dass man die internen Regeln der institutionellen oder sprachstiftenden Kultur selbst rekonstruiert.»"

Es wurde oben schon gesagt, dass Saussures Auffassung problematisch ist, obwohl sie der kulturellen Autonomie einen wesentlichen Stellenwert zuweist. Die subjektive Erfahrung von Bedeutung, die in der Hermeneutik von Dilthey eine vorherrschende Rolle spielt, ist verschwunden. Sie ist ersetzt durch eine Art Willkür und Relativismus. Dadurch ist es nicht überraschend, dass Saussures Werk in den gegenwärtigen Debatten über Postmodernismus und Relativismus hervorsticht. Während es die Autonomie der Kultur in gewisser Weise verteidigt, geschieht es solcherart, dass diese Autonomie unwirksam wird, wenn es darum geht, der Welt Bedeutung zu geben. Es muss jedoch gesagt werden, dass die Semiotik, in ausgewogenerer Form, Perspektiven enthält, die für die Analyse von Kultur und Kulturkraft nützlich sind.

Idealismus, Marxismus, Hermeneutik, Funktionalismus, kultureller Marxismus, Semiotik und Strukturalismus sind einige der sehr wichtigen Meilensteine in der Debatte zwischen Kultur und politischer Ökonomie. Heutige Teilnehmer an dieser Debatte beziehen sich auf diese bemerkenswerte Tradition, während sie den Diskurs weiter vertiefen.

Eine der neueren Entwicklungen ist das Entstehen der «Dramaturgie». Diese neue Betrachtungsweise, für die Erving Goffman eintritt, verstärkt die Bedeutung der Kultur durch Aufzeigen der Schlüsselrolle, die Individuen bei der Vermittlung von Sinn oder Auffassungen in sozialen Interaktionen spielen. Individuen sind fähig, eine kritische Haltung einzunehmen, wenn sie unter verschiedenen Normen, die sie beeinflussen, auswählen, egal ob diese Normen aus Institutionen der Kultur, der Wirtschaft oder der Politik kommen. Diese Position reiht sich dadurch in die nicht-mechanistische Interpretation von individuellem und kulturellem Leben ein.

Der Name «Dramaturgie» kommt von dem Bild, das Goffman von der sozialen Situation hat. Die Einzelnen sind Schauspieler in einem gesellschaftlichen Drama. Sie haben den vorherrschenden «Text» einer Institution oder einer Kultur verinnerlicht, so wie Schauspieler auf einer Bühne den Text ihrer Rollen verinnerlicht haben. Anhand der vielen Zeichen oder Signale des sozialen Lebens bestimmen sie, wie sie auf der Basis dieses Textes reagieren möchten. Diese Reaktion ist nicht vorhersagbar, selbst wenn ein institutioneller «Text» oder bevorzugtes Verhaltensmuster verinnerlicht wurde. Denn das Gespür oder der Sinn für das eigene Selbst des Individuums wird in der Interaktion mit dem geschaffen, was Institutionen von dem Individuum erwarten.

Goffmans Position spiegelt die Bedeutung der Persönlichkeit wieder, wie sie im Funktionalismus gefunden wird. Beide werden entscheidend, nachdem ihre Ansichten wesentliche Modifikationen erfahren haben, indem sie eine Plattform schaffen für die Antworten auf die brennenden Fragen, die mit der Identität der Zivilgesellschaft verbunden sind.

Clifford Geertz bringt das kreative Element, das der Dramaturgie innewohnt, noch deutlicher hervor als Goffman. Geertz studierte den Balinesischen Hahnenkampf und kam zu bedeutsamen Ergebnissen.

«Der Hahnenkampf ist weder eine funktionelle Verstärkung von Statusunterschieden - eine Sicht, die Geertz dem Funktionalismus zuschreibt - noch eine automatische Schlussfolgerung aus Texten. Er ist aktiv, ästhetisch, eine Kunstform, die gewöhnliche Erfahrung verständlich macht, indem sie in übertriebene dramatische Form gekleidet wird. Geertz besteht ebenso darauf, dass es die Akteure und das Ereignis sind, welche diese Struktur schaffen, und dass es nicht die Struktur ist, die das Ereignis schafft.» 17

Der Wert der Dramaturgie, zusammen mit dem der Semiotik und des Funktionalismus, liegt in ihrer Betonung der überzeugenden Strukturen und Prozesse der Kultur. Dramaturgie fördert Ästhetik und kreatives Auftreten. Semiotik lehrt uns die formellen symbolischen Beziehungen, die unabhängig von ökonomischen und politischen Prozessen ihr eigenes Leben haben. Funktionalismus betont die Rolle, welche die Werte, die im Bereich der Kultur hervorgebracht und ausgesprochen werden, im sozialen Leben spielen.

Die erwähnten Untersuchungen geben der Idee der Kultur empirische Greifbarkeit in Bezug auf das, was sie tatsächlich tut und wie sie die anderen Bereiche des sozialen Lebens beeinflusst. Die Bedeutung des sozialen Lebens für den Menschen wird nicht in erster Linie von Politik und Wirtschaft artikuliert. Es ist die Kultur, die vorrangig diese Bedeutung hervorbringt, obwohl Wirtschaft und Politik ihren Einfluss innerhalb der Kultur geltend machen, was oft in der Erteilung politischer und wirtschaftlicher Auflagen für die Kultur selbst mündet.

Diese revolutionären Untersuchungsergebnisse werden jetzt durch mehrere Beispiele belegt, bevor wir schließlich die verschiedenen Positionen in einem Gesamtbild zusammenfassen, welches für das Verständnis der Identität der Zivilgesellschaft nützlich sein wird.

Weber ist eine weitere einflussreiche Gestalt in dieser Debatte zwischen Kultur und politischer Ökonomie. Sein 1904 geschriebenes Werk, Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus versuchte zu belegen, dass die protestantische Lebensweise eine Vorbedingung für den Beginn des modernen unternehmerischen Kapitalismus war. Seine Ideen sind noch immer unter zeitgenössischen Denkern wie Francis Fukuyama verbreitet, der sich auf Webers Werk bezieht, um seine Behauptung zu stützen, dass «Vertrauen», eine Eigenschaft, die durch die Kultur entwickelt wird, wichtig ist für die kontinuierliche Beständigkeit der Wirtschaft.

Webers Anhänger haben aus seinen Ergebnissen eine einflussreiche neue Synthese entwickelt. Sie betrachten jetzt Kultur als ein intern entwickeltes symbolisches System, das auf dringende spirituelle Fragen der Menschen in der Gesellschaft antwortet. Diese Neuerung erlaubt kulturellen Untersuchungen, tief in die spirituellen und religiösen Auffassungen, die in der Kultur entstehen, einzudringen und zu zeigen, wie sich diese in anderen Bereichen der Gesellschaft auswirken. Diese spirituellen Aktivitäten sind nicht länger an Religion und die Suche nach Heil gebunden, sondern auch an moderne Ausdrücke von Spiritualität, einschließlich Gewissen, Aktivismus, Gemeinschaft und sozial sensible Persönlichkeitsentwicklung.

Michael Walzer, zum Beispiel, wendet die Webersche These auf das politische Leben an. Göttlicher Wille wirkt durch das menschliche Gewissen, nicht durch Macht, die im politischen Bereich erworben wurde oder durch Wohlstand und Status, die durch erfolgreiche wirtschaftliche Betätigung erlangt werden. Diese göttliche Macht sucht nach radikaler Erneuerung der Gesellschaft in Richtung auf mehr Gerechtigkeit. In diesem Konzept spielt die Kultur die Rolle des gesellschaftlichen Gewissens und deshalb sind spirituelle Belange von Natur aus revolutionär. Nach Walzer sind Revolutionen nicht einfach aus politischer Notwendigkeit heraus entstanden, sondern in dem kulturellen Prozess der Neuinterpretation und der Neuauslegung des Sinngehaltes religiöser Texte, in diesem Fall der christlichen Bibel.

Eine ähnliche Umgestaltung eines weiteren bedeutenden Soziologen hat heute stattgefunden. Die Werke von Emile Durkheim sind auch durch kreative und erhellende Umwandlungen gegangen.

Wie die Strukturalisten, jedoch auf eigene Art, betonte Durkheim die interne Autonomie und Komplexität symbolischer Systeme in der Kultur.

Mary Douglas hat das Konzept der «Symbolischen Verschmutzung» formuliert, eine Situation, bei der etwas deshalb schmutzig oder verschmutzend ist, weil es auf massive und bedrohliche Weise die bestehende symbolische Ordnung stört, welche das Verhalten der Gesellschaft bestimmt. Aktivisten in der Zivilgesellschaft könnten hier eine der theoretischen Grundlagen der Kulturkraft bemerken, oder deren Fähigkeit, die wirtschaftlichen und politischen Mächte hinter der elitären Globalisierung zu beeinflussen. Mit ihrer Kritik «verschmutzt» die Zivilgesellschaft das symbolische Universum, welches den Institutionen der elitären Globalisierung Bedeutung und Legitimität zuspricht.

Zivilgesellschaftsaktivisten können ebenso erkennen, dass symbolische Verschmutzung Angst auf moralischer, psychologischer und existentieller Ebene auslöst. Das ist sehr wahrscheinlich ein Grund, warum der ehemalige US Präsident und Opfer des Watergate Skandals, Richard Nixon, die Anwesenheit eines einzigen Demonstranten fürchtete, der ständig ein Plakat vor dem Weissen Haus herum trug. Dieser einsam Protestierende beschmutzte das symbolische Universum der mächtigsten Persönlichkeit der Welt.

Ein weiterer wichtiger Erneuerer Durkheims ist Victor Turner, der die Rolle des Rituals, einem kulturellen Prozess, betont, insofern es Solidarität in der Gesellschaft schafft. Das Hauptkonzept hierbei ist «Liminalität» oder Ausgrenzung, die Phase, in welcher ein Individuum zum Außenseiter der Gesellschaft wird, um innere Prozesse zu durchlaufen als Vorbereitung auf größere Integration und Verantwortung in der Gesellschaft.

Turner beschreibt das Beispiel der Eintrittsriten bei einem Stamm in Zambia. Hier wird der potentielle Häuptling, kurz bevor er König seines Stammes wird, in einem Ritual physisch degradiert und psychologisch beschimpft. Dieser Prozess ritueller Demütigung soll sicher stellen, dass der König die Demut verinnerlicht, um gerecht, weise und mitfühlend zu regieren.

Für die Aktivisten der Zivilgesellschaft ist hier interessant, dass «Liminalität» oder Ausgrenzung ein wesentlicher Zug der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Ausgrenzung, rituell verstanden, verleiht auch den traditionell schwachen Teilen der Gesellschaft besondere Kräfte. Während Augenblicken der Umwandlung in einer Gesellschaft kommt ihren Randgruppen eine wichtige Rolle dabei zu, Moral, Ordnung und Gemeinschaft in die Gesellschaft zurück zubringen.

Tatsächlich ist die Zivilgesellschaft gegenwärtig die Kraft, welche die herrschenden Mächte der Gesellschaft anstößt, das entsprechende «Ritual des Übergangs» zu vollziehen. Die herrschenden Mächte müssen geschwächt werden. Aus dieser Demütigung heraus, die in der Phase der Liminalität geschieht, öffnen sich der Gesellschaft neue Möglichkeiten. Die Zivilgesellschaft ist der Ort der «Einweihung» für die nächste Generation von Führern der ganzen Gesellschaft - Führer, die zugänglicher für die wirklichen Bedürfnisse aller Bürger sein müssen.

Durch all diese Entwicklungen wird sogar der gegenwärtige Marxismus tief berührt. Das zeigt sich ganz deutlich in den Werken E. P Thompsons, der The Making of the English Working Class schrieb. Man kann vermuten, dass Marx sich aufgrund dieser Studie im Grabe umdrehen würde!

In seinen Untersuchungen zeigt Thompson, dass die revolutionären Tendenzen der englischen Arbeiterklasse weniger durch Marxismus als durch kulturelle Regeln selbstbewusster Handwerker aufgebaut wurden, ein Kodex, der «Bescheidenheit, Regelmäßigkeit und gegenseitige Hilfe» betonte. Mit der Ausbreitung der Industriellen Revolution erreichte dieser Kodex eine breite Basis der Arbeiterschaft, die den Gewerkschaften nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen beitraten, sondern aus dem Bedürfnis heraus, Teil der Kultur dieser neuen Industriehandwerker zu sein. Diese mächtige Kultur der Arbeiterklasse verband sich dann mit religiösen Bruderschaften und Sozialisten. Sie behielt jedoch ihre grundlegende Kultur der gegenseitigen Hilfe, der Selbstdisziplin, der bürgerlichen Diskussion und der Teilnahme an ausgedehnten Zeremonien und Ritualen bei, die das angeborene menschliche Bedürfnis nach Bedeutung befriedigten.

«Thompson besteht darauf, dass die Massendemonstrationen, durch welche die Arbeiter schließlich in die Lage kamen, Anerkennung zu erlangen, nur durch diese erfolgreiche kulturelle Umformung möglich waren, die den Teilnehmern gestattete, Bedeutung, Solidarität und Selbstdisziplin unter schwierigen politischen Bedingungen aufrecht zu erhalten. In Thompsons Darstellung wird die relative Autonomie der Kultur mehr als eine analytische Variable: sie wird zu einer geschichtlichen und politischen Notwendigkeit.» 18

Einsichten aus dieser wissenschaftlichen Debatte

Aus diesem kurzen Überblick über die verschiedenen Theorien zum Zusammenwirken von Individuum, Kultur und der allgemeinen Gesellschaft können wir jetzt einen Bezugsrahmen entwickeln, die uns helfen wird, auf die brennenden Fragen und Einwände einzugehen, die mit der Behauptung verbunden sind, dass die Zivilgesellschaft eine kulturelle Institution ist. Figur 6 zeigt das Strukturschema, welches der Autor für die folgenden Diskussionen benutzt.

Figur 6. Synthetischer Bezugsrahmen

Der ganze Bereich der «Ordnung» ist die Gesellschaft. Diese gesellschaftliche Ordnung wird durch drei Bereiche gebildet: Kultur, Politik und Wirtschaft. Jeder dieser Bereiche hat seine eigene Aufgabe in der Gesellschaft und somit seine eigene Autonomie. Diese verschiedenen Bereiche wirken jedoch in unendlich unterschiedlicher Art und Weise aufeinander und beeinflussen sich dadurch gegenseitig.

Die Hermeneutik und die Semiotik behandeln vorrangig kulturelle Phänomene und schauen aus diesem Blickwinkel auf die Interaktion der Kultur mit den anderen Bereichen der Gesellschaft. Der Marxismus behandelt vorrangig Politik und Wirtschaft und versucht, ihre Einflüsse auf die Kultur aufzuzeigen. Der Funktionalismus untersucht mit fast gleicher Betonung die Beziehung zwischen Kultur und politischer Ökonomie. Wie wir jedoch gesehen haben, zielen die Funktionalisten in der Praxis mehr darauf hin, politische und wirtschaftliche Prozesse zu durchleuchten als die innere kulturelle Dynamik. Das ist so, obwohl der Funktionalismus das zentrale Konzept der «Institutionalisierung» einführte, die Internalisierung kultureller Werte in den Bereich der Politik und der Wirtschaft.

Der Bereich der «Handlung» ist der des Individuums. Kultur kann in der sozialen Welt nur durch den Einzelnen «handeln» oder durch Gruppen von Einzelnen in einer gemeinsamen Aktion. Es gibt keine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung, die man nennen könnte: «Die 'Kultur' tritt handelnd in der sozialen Welt auf.»

Das Konzept der Persönlichkeit ist unter dem Begriff «Individuum» zusammen gefasst. Persönlichkeit kommt vom Wort «Persona», was Maske bedeutet. Hinter dieser Maske verbirgt sich die wahre geistige Individualität des Menschen. Diese Unterscheidung ist besonders wichtig, wenn wir untersuchen wollen, wo im menschlichen Wesen wahre Freiheit gefunden werden kann. Diese freie Individualität kann sich beispielsweise kognitiver Sprachkritik bewusst werden und sie überschreiten.

Der Funktionalismus beschäftigt sich mehr mit sozialen Prozessen, die mit der Persönlichkeit verbunden sind. Das Gleiche gilt für die Semiotik. Die Dramaturgie Goffmans jedoch beginnt, an den Bereich der Individualität anzugrenzen. Geertzs Ausweitung der Dramaturgie bringt das Verständnis dann bis in den Bereich der Individualität - dem Bereich der Kreativität und Ästhetik.

Schließlich beinhaltet unser Schema die Realität des Geistes als deutliche analytische und ontologische Ebene. Diese Ebene ist eindeutig in den Werken Hegels vorhanden, obwohl Hegel Geist mit Idee zusammenlegt. Die ontologische Ebene des Geistes ist auch entscheidend, wenn wir ein gesundes Verständnis der aktuellen Neuerungen entwickeln wollen, die sich aus den wichtigen Untersuchungen Webers und Durkheims ergeben.

Wie wirken diese verschiedenen Ebenen aufeinander?

Die einzelnen Individuen erhalten ihre Ideen aus dem Bereich des Geistes. Aus letzterem erfassen sie unter anderem wissenschaftliche Gesetze, religiöse Empfindungen, Ästhetik in Natur und sozialem Leben und ethische Impulse. Das Individuum ist dasjenige, das Verbindung zum Geist hat.

In diesem Schema treffen wir auch eine Unterscheidung zwischen Autonomie und Freiheit. Autonomie, in sozialem Sinn, führt nicht automatisch zu Freiheit. In klassischer Semiotik und im Strukturalismus beispielsweise, ist die radikale Autonomie der kulturellen Sphäre die radikale Autonomie der Unfreiheit. Einzelne in einer Kultur werden durch die Imperative der Sprache beherrscht. Sie können das de facto Gefangensein in der Sprache nicht überwinden. Während sie zwar die Sprache von der Herrschaft der politischen Ökonomie befreien, können jedoch, genau genommen, weder die Semiotik noch der Strukturalismus die Einzelnen, die aktiv im kulturellen Leben sind, zum eigentlichen Sinn ihrer Bedeutung und Macht führen.

Individuen wirken in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft auf verschiedenen Wegen aufeinander. Die Einzelnen haben deshalb direkten Einfluss auf den Bereich der Gesellschaft, in welchem sie handeln, egal ob in Kultur, Politik oder Wirtschaft oder ob in allen dreien. Wie unsere Diskussionen oben gezeigt haben, wird das Individuum jedoch auch, einschließlich seiner oder ihrer Persönlichkeit, durch soziale «Strukturen» geformt, von Mustern gewohnheitsmäßiger Interaktion in der Gesellschaft, die wir als Kultur, Politik oder Wirtschaft begrifflich gefasst haben. 19

Diese Realität gegenseitigen Einflusses bringt uns zu einem der wichtigsten Aspekte dieses synthetischen Schemas. Wir müssen auch unterscheiden zwischen dem Einzelnen und den Einrichtungen, bzw. dem Bereich der Gesellschaft, in welche sich der oder die Einzelne stellen will. Mit dieser Unterscheidung werden wir die problematischeren Aspekte des derzeitigen Zivilgesellschaftsdiskurses heraus arbeiten.

Das Individuum kann in jedem Untersystem der Gesellschaft tätig sein. Er oder sie kann in Kultur, Wirtschaft oder Politik aktiv sein. Dabei muss der Einzelne jedoch ein konkretes Verständnis der «Gesetze» haben oder der jeweils anders gearteten inneren Logik in jedem dieser unterschiedlichen Subsysteme der Gesellschaft, damit er fähig ist, sich in dem speziellen Bereich der Gesellschaft produktiv zu engagieren. Kulturelle Prozesse haben sehr unterschiedliche Ziele und Praktiken im Vergleich zu Politik und Wirtschaft. Die Wirtschaft in die Kultur einzubeziehen und umgekehrt kann höchst problematisch sein, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben.

Institutionen haben nicht die Flexibilität, welche die Einzelnen beim gleichzeitigen Wirken in den unterschiedlichen Bereichen haben. Die Institution wird sich dabei in Widersprüche verstricken und auf Schwierigkeiten stoßen.

Nehmen wir den konkreten Fall einer Bank, die an nachhaltigen Lebensunterhaltskrediten für die Armen beteiligt ist. Natürlich arbeitet diese Bank aus der wirtschaftlichen Sphäre heraus. Wenn nun diese Bank auch zum wirksamen Zentrum einer politischen Partei wird, gibt sie nicht nur der Öffentlichkeit eine verwirrende Botschaft, sondern, was noch viel gefährlicher ist, auch den politischen Kräften, die im Bereich der Arbeit aktiv sind. Weil politische Parteien das Lebensunterhaltsprogramm einer Bank grundsätzlich als Deckmantel für politische Ambitionen ansehen, gibt die Bank deshalb wegen eines Interessenkonfliktes Anlass zu Kritik und kann zum Objekt für einen politischen Gegenschlag werden.

Oder nehmen wir eine Zivilgesellschaftsorganisation (CSO), die daran interessiert ist, sich in unternehmerischen Aktivitäten zu engagieren. Die Institution war auf die Organisation von Gemeinwesen ausgerichtet und hat Kenntnisse über die Ausbildung und Schulung von Fähigkeiten entwickelt. Jetzt, da sie sich als Unternehmen engagieren will, wird die Institution bald herausfinden, dass zusätzliche Fertigkeiten gebraucht werden. Schlimmer noch, in der Natur eines Unternehmens liegt es, Überschüsse zu erzielen. Es hatte zum Umgang mit Überschüssen nie eine Frage gegeben, nur, ob und wie eventuell anfallende Überschüsse gleichmäßig verteilt werden. Jetzt wird die CSO mit einer Situation konfrontiert, in welcher sie dazu kommen könnte, wirtschaftliche Aktivitäten, die nur dann sinnvoll sind, wenn sich Überschüsse ergeben, gegen kulturelle Aktivitäten abzuwägen, die aus ihrer Natur heraus nicht unternommen werden, um Überschüsse zu erzielen. Das könnte zur Abtrennung gewisser kultureller Aktivitäten führen, was in der Folge bewirkt, dass nun die kulturelle Entwicklung nachlässt.

Wenn Kulturinstitutionen wirklich im Bereich der Politik arbeiten wollen, müssen sie zu diesem Zweck eine unabhängige Institution errichten. Das Gleiche kann von kulturellen Institutionen gesagt werden, die im Bereich der Geschäftswelt und der Wirtschaft arbeiten wollen. Auf diese Art sind die organisatorischen Formen eindeutig und die Signale in die Gesellschaft sind auch klar.

Medizinisch gesprochen bedeutet das: wenn der Stoffwechselprozess, der normalerweise im der Magengegend stattfindet, im Gehirn aktiv wird, bekommt man Kopfschmerzen. Auf ähnliche Weise sind in Markt, Staat und Zivilgesellschaft unterschiedliche strukturelle Realitäten vorhanden. Wenn man die eine durch die andere ersetzt, werden gewisse Probleme auftauchen. Das beste Beispiel für dieses Problem ist die elitäre Globalisierung, bei der ein einseitig wirtschaftliches Programm ganze Teile des politischen und kulturellen Raumes allmählich zu vereinnahmen beginnt.

Schwierige Fragen

Nachdem wir ein synthetisches Strukturschema für die verschiedenen Beispiele, die in den Sozialwissenschaften vorhanden sind, gegeben haben, sind wir jetzt soweit, einige der schwierigen Beobachtungen und Fragen zu behandeln, die den Diskurs um die Zivilgesellschaft begleiten. Um diese Diskussion zu ermöglichen, werden wir Civicus untersuchen, eine der bekanntesten Zivilgesellschaftsorganisationen der Welt. Civicus hat eine Arbeitsdefinition der Zivilgesellschaft, die weltweit akzeptiert wird. Wir werden jedoch sehen, dass diese Definition eine Anzahl wichtiger Fragen aufwirft, die beantwortet werden müssen. Aber zunächst kurz zum Hintergrund von Civicus.

Civicus ist auch bekannt unter dem Namen World Alliance for Citizen Participation (Weltweite Verbindung für Bürgerbeteiligung). Civicus wurde 1993 in Barcelona gegründet. In dem Buch Citizens: Strengthening Global Civil Society weist Civicus hin auf das vorher noch nie dagewesene Ausmaß an Bürgerbeteiligung überall auf der Welt. Civicus erwähnt, dass dieses Buch «aus der Wahrnehmung heraus entstand, dass die weltweiten Themen, die sich der Menschheit stellen, weder von Regierungen und Märkten allein gelöst werden können, noch durch Aktionen, die nur auf nationaler Ebene stattfinden.»

Dieses Verständnis weltweiter Ereignisse wird im Leitbild wiedergegeben, das folgendes sagt:

«CIVICUS widmet sich dem Einsatz für eine Welt, in der Bürgeraktion ein vorherrschender Zug des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in allen Gesellschaften ist ... Privates Handeln für das öffentliche Wohl (Definition von Civicus für die Zivilgesellschaft) betätigt sich durch ein reiches und vielfältiges Aufgebot an Organisationen, die manchmal fern vom und manchmal mitten im Dialog mit Regierung und Geschäftswelt stehen ... eine gesunde Gesellschaft ist eine, in welcher ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Bürgern, ihren eigenen Verbindungen und Stiftungen einerseits, und Geschäftswelt und Regierung andererseits besteht.»

Dieses Leitbild von Civicus bietet einen guten Ansatz für die Diskussion hinsichtlich dessen, was das Wesen der Zivilgesellschaft ist. Civicus' Definition der Zivilgesellschaft spiegelt wider, was ein großer Anteil der Praktiker über die Zivilgesellschaft denkt. Wenn man diese Aussage jedoch genau untersucht, lässt sie die folgenden Fragen, die beantwortet werden müssen, offen:

1. Bedeutet diese Definition, dass die kulturelle Sphäre der Gesellschaft genauso Ursprung und Kontext für die Dynamik einer Zivilgesellschaft bilden, wie die wirtschaftliche Sphäre Ursprung und Kontext für den Markt und die politische Sphäre Ursprung und Kontext für den Staat bilden?

2. Was meinen wir mit «kultureller Sphäre» der Gesellschaft?

3. Sind Formen wirtschaftlichen Austausches Teil der kulturellen Sphäre dadurch, dass sie auch von kulturellen Aspekten bestimmt werden?

4. Ist die Zivilgesellschaft, da sie sich bei politischen Themen engagiert, nicht auch Teil der politischen Sphäre?

5. Kann Bürgeraktion sich in allen drei Bereichen der Gesellschaft manifestieren?

6. Wenn die Zivilgesellschaft in der kulturellen Sphäre liegt, wird sie dann nicht ihre Kraft verlieren, dringende Probleme der wirtschaftlichen Globalisierung anzugehen? Wird sie nicht auch ihre Verbindung zu bedeutenden finanziellen Quellen verlieren, die wichtig für die Ausführung ihrer Arbeit sind?

Ausgehend von diesem Leitbild kann man sich folgenden Zusammenhang vorstellen. Zunächst gibt es einen breiten Kreis, der die Gesellschaft darstellt. Innerhalb dieses Kreises sind drei kleinere und sich gegenseitig überschneidende Kreise. Diese kleineren Kreise repräsentieren die drei Sektoren der Gesellschaft: Staat, Markt und Gemeinnutz (non-profit). Dabei entstehen eine Reihe von Fragen:

7. Befindet sich die Zivilgesellschaft dort, wo sich jeweils zwei der drei Sektoren überschneiden?

8. Ist die Zivilgesellschaft nur allein dort im Zentrum zu finden, wo sich alle drei Sektoren überschneiden?

9. Ist die Zivilgesellschaft der größere Kreis, in dem alle drei Sektoren und ihre Institutionen agieren?

10. Ist die Zivilgesellschaft, wie sie oft verstanden wird, nur ein anderer Begriff für den gemeinnützigen oder non-profit Sektor, oder ist sie mehr als das?

11. Wie verhält es sich mit den Genossenschaften, den Gewerkschaften und politischen Formationen? Wo gehören sie hin? Es gibt weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die Grundlage der Zivilgesellschaft, egal welche Form man auswählt, die Bürgeraktion ist. Deshalb wird die Umschreibung «private Handlung für das öffentliche Wohl» oft benutzt, um die Zivilgesellschaft zu definieren, und sie dem Staat (öffentliche Handlung zum öffentlichen Wohl) und dem Markt (private Handlung zum privaten Wohl) gegenüberzustellen. Das wirft weitere Fragen auf.

12. Wie trennt man einzelne Bürger und deren Handlungen von den Bereichen, in denen diese Bürger im allgemeinen tätig sind? Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines wohlhabenden Unternehmers, der sich dazu entschließt, einen bedeutenden Teil seines Lebens und seiner Mittel für den Kampf um Menschenrechte einzusetzen. Wann hört er oder sie auf, zum «Markt» zu gehören, bzw. wann beginnt er oder sie, zur «Zivilgesellschaft» zu gehören? Wir haben auch gesehen, dass die Zivilgesellschaft geschichtlich als starkes Gegengewicht entstanden ist gegenüber zentralisierenden Tendenzen in vielen Regierungs- und Unternehmensinstitutionen, welche die elitäre Globalisierung fördern.

13. Kann die Zivilgesellschaft aus diesem Grund als ein wichtiger Ausdruck der Kultur gesehen werden, die sich selbst verteidigt, weil sie als Gegengewicht gegenüber Schädigungen seitens «Staat» und «Markt» handelt?

14. Bedeutet das, dass CS0s per se immer «gut» sind?

Antworten auf die schwierigen Fragen

Diese schwierigen Fragen können auf der Grundlage der Diskussionen über die Entwicklungen in den Sozialwissenschaften und des synthetischen Bezugsrahmens, die den obigen Fragen unmittelbar vorausgingen, beantwortet werden.

1 . Bedeutet diese Definition, dass die kulturelle Sphäre der Gesellschaft genauso Ursprung und Zusammenhang für die Dynamik einer Zivilgesellschaft bilden, wie die wirtschaftliche Sphäre Ursprung und Zusammenhang für den Markt und die politische Sphäre Ursprung und Zusammenhang für den Staat bilden?

Ja, die obige Diskussion hat das ganz deutlich gemacht.

2. Was meinen wir mit «kultureller Sphäre» der Gesellschaft?

Die kulturelle Sphäre der Gesellschaft ist das Untersystem der Gesellschaft, das sich mit der Entwicklung der gesamten menschlichen Fähigkeiten und mit der Entwicklung von Wissen, Verständnis, einem Sinn für das Heilige, die Kunst und Ethik befasst. Siehe entsprechende obige Ausführungen.

3. Sind Formen wirtschaftlichen Austausches Teil der kulturellen Sphäre dadurch, dass sie auch von kulturellen Aspekten bestimmt werden?

Die beiden anderen großen Untersysteme der Gesellschaft - Politik und Wirtschaft - werden von Werten gelenkt, die im kulturellen Bereich entstehen. Diese sind jedoch nicht Teil der Kultur, weil ihre Hauptaufgabe sich von jener der Kultur unterscheidet (Siehe obige Ausführung über Dreigliederung des sozialen Lebens). Statt dessen werden kulturelle Werte in Politik und Wirtschaft «institutionalisiert». (Siehe obige Ausführung über Institutionalisierung). So werden kulturelle Werte in der Wirtschaft internalisiert, bzw. verinnerlicht. Die innere Logik der Wirtschaft behandelt alles unter dem Warengesichtspunkt. Die Wirtschaft würde deshalb die Kultur zu einer Ware machen, wie sie es zum Beispiel bei musikalischen Neuerungen bereits tut, wenn sie in die kulturelle Sphäre eindringt.

4. Ist die Zivilgesellschaft, da sie sich bei politischen Themen engagiert, nicht auch Teil der politischen Sphäre?

Das Engagement der Zivilgesellschaft in der politischen Sphäre ist nur ein natürliches Ergebnis der Notwendigkeit der drei unterschiedlichen Sphären, aufeinander zu wirken. Jeder Bereich hat eine gewisse Autonomie. Als Teil der größeren Realität, die wir GeselIschaft nennen, müssen sie jedoch aufeinander wirken. Die deutlich sichtbaren Aktivitäten der Zivilgesellschaft, wie die, die zum Sieg über das MAI führten, sind in Wirklichkeit ein Versuch, den kulturellen Raum vor dem Übergriff rein wirtschaftlicher und politischer Interessen zu schützen. Zusätzlich zu dieser Art Selbstverteidigung der Kultur sind diese Aktivitäten auch eine aktive Form der «Institutionalisierung» gewisser Werte in solche Teile von Politik und Wirtschaft, die ihre eigentliche Aufgabe gravierend verletzen, nämlich den Schutz der Menschenrechte und die gerechte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Schließlich wirkt Zivilgesellschaft nicht in der politischen Sphäre im Sinne politischer Verbände und politischer Parteien, obwohl sie sich für die politische Befürwortung gewisser kultureller Werte und Ideen engagiert.

5. Kann Bürgeraktion sich in allen drei Bereichen der Gesellschaft manifestieren?

Ja, als einzelner Bürger kann man in allen drei Bereichen aktiv sein. Eine Institution jedoch, die aus einem der drei Bereiche kommt, kann nicht in allen drei Bereichen aktiv sein, ohne für sich selbst schwierige Probleme zu schaffen. (Siehe Ausführung über den synthetischen Bezugsrahmen.)

6. Wenn die Zivilgesellschaft in der kulturellen Sphäre liegt, wird sie dann nicht ihre Kraft verlieren, dringende Probleme der wirtschaftlichen Globalisierung anzugehen? Wird sie nicht auch ihre Verbindung zu bedeutenden finanziellen Quellen verlieren, die wichtig für die Ausführung ihrer Arbeit sind?

Die Zivilgesellschaft als kulturelle Institution kann immer Berührungspunkte mit wirtschaftlichen und politischen Institutionen haben, um wirtschaftliche und politische Probleme anzugehen. Nichts hält die Zivilgesellschaft davon ab, ihre Themen vorzubringen. Sie macht dies allerdings in einer Art, die einer kulturellen Institution gleichkommt - zum Beispiel durch das Mittel symbolischer Verschmutzung. Dieses Eintreten ist Teil der Aufgabe, eine ausgegrenzte Institution zu sein, besonders im Zeitalter der elitären Globalisierung. (Siehe obige Ausführungen zu kulturellen Prozessen symbolischer Verschmutzung und Ausgrenzung und ihre soziale Aufgabe.) Die Zivilgesellschaft erfüllt ihre Aufgaben, welche Kritik und kritisches Engagement in Staat und Markt einbeziehen, ohne sich selbst in eine politische oder wirtschaftliche Institution zu verwandeln.

Bedeutet dies den Verlust des Zugangs zu wirtschaftlichen Mitteln? Aus ihrer Natur heraus schafft sich Zivilgesellschaft nicht vorrangig ihre eigene wirtschaftliche Grundlage, selbst wenn sie sich in Fondsaktivitäten engagieren kann. Sie verlässt sich auf Schenkungen und Garantien aus anderen Institutionen, einschließlich der Stiftungen. Je mehr sie in der Lage ist, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung kultureller Prozesse und zur Erhaltung der Grundlagen des Gemeinwohls zu zeigen, desto attraktiver wird sie für Spender und Stiftungen, die auch Teil des kulturellen Bereiches sind.

7. Befindet sich die Zivilgesellschaft dort, wo sich jeweils zwei der drei Sektoren überschneiden?

Nein, der gemeinnützige Sektor ist Teil der Zivilgesellschaft, die ihrerseits die Schlüsselinstitution im kulturellen Bereich ist. Die Überschneidungen im Schema zeigen die Gebiete, wo sich die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft begegnen. Der Kreis und seine Überschneidung ist ein Symbol für die zweigeteilte Natur jedes großen Bereichs der Gesellschaft - seine Autonomie und seine Aufgabe, mit den anderen Bereichen in Beziehung zu treten.

8. Ist die Zivilgesellschaft nur allein dort im Zentrum zu finden, wo sich alle drei Sektoren überschneiden?

Nein, das Zentrum, wo sich alle überschneiden, sind die Themenfelder, in denen die Präsenz aller drei Sphären gefordert ist, um ein Thema gründlich genug anzugehen. Beispielsweise fordert das Voranbringen nachhaltiger Entwicklung oder das Bevölkerungswachstum die aktive Beteiligung aller drei Gesellschaftsbereiche. Diese Themengebiete brauchen die unterschiedlichen Sichtweisen, die gemeinsame Einsicht und die nachhaltige Unterstützung aller drei Bereiche.

9. Ist die Zivilgesellschaft der größere Kreis, in dem alle drei Sektoren und ihre Institutionen agieren?

Nein, der größere Kreis ist die Gesellschaft selbst. Zivilgesellschaft als Teil des kulturellen Bereiches ist nur eine der drei wesentlichen Subsysteme der Gesellschaft.

10. Ist die Zivilgesellschaft, wie sie oft verstanden wird, nur ein anderer Begriff für den gemeinnützigen oder non-profit Sektor, oder ist sie mehr als das?

Nein, die Zivilgesellschaft ist als Konzept und als Realität umfassender als der gemeinnützige Sektor, selbst wenn es stimmt, dass die meisten CS0s gemeinnützig sind. Ursprünglich hielten sich die gemeinnützigen Organisationen aus kritischem politischen und wirtschaftlichen Engagement heraus. Gemeinnutz bezieht sich ursprünglich auch auf Stiftungen und Spendengesellschaften, die nicht nur Erweiterungen wirtschaftlicher und politischer Institutionen sind. Die Zivilgesellschaft hat jedoch, während sie die Rolle des gesellschaftlichen Gewissens ausübte, den Wert der Demokratie in der politischen Sphäre und den des größeren Mitgefühls auf wirtschaftlicher Ebene «institutionalisiert».

Hinzu kommen die Medien, die Teil der Zivilgesellschaft sind, besonders in ihrer Rolle als Hüter und einer der Haupterzeuger von Werten und Normen in der Gesellschaft. Aber die meisten Medienunternehmen heute müssen zur Erhaltung ihrer Arbeit Profit machen. Sie müssten ihre eigene unabhängige Einkommensquelle haben, wenn sie sich von wirtschaftlichen und politischen Interessen befreien wollen, Jedoch befinden sich nicht alle in solch einer Position, und so sind einige Medienunternehmen nur Ausweitungen irgendwelcher Wirtschaftsunternehmen oder Propagandamaschinen der Regierung.

11. Wie verhält es sich mit den Genossenschaften, den Gewerkschaften und politischen Formationen? Wo gehören sie hin?

Die Antwort auf diese Frage ist komplizierter als sie scheint, weil man mehrere Schlüsselkonzepte der Sozialwissenschaften gleichzeitig anführen muss, um eine adäquate Antwort zu geben.

Genossenschaften wurden als Antwort auf den Missbrauch und die Ausgrenzung der Armen durch die ausbeuterischen Praktiken des laissez-faire Kapitalismus gegründet. Statt Einzelkapitalismus sollte es Gruppenkapitalismus geben. Das Kapital ging von der Kontrolle eines Einzelnen oder einiger weniger Kapitalisten auf Genossenschaften der Armen über. Diese Genossenschaften engagierten sich, und tun es noch heute, unter Benutzung ihres angelegten Kapitals in der Kreditvergabe, der Produktion, der Vermarktung und dem Verbrauch wichtiger Güter und Dienste.

Wirtschaftliche Herkunft und Natur der Genossenschaften sind unmissverständlich. Ihr kulturelles Wesen ist jedoch auch deutlich im Hinblick auf ihr ethisches Verständnis und ihre Auffassung, die sie in das wirtschaftliche Leben bringen. Zu welchen Bereich gehören sie also?

Genossenschaften gehören zur wirtschaftlichen Sphäre, weil sie sich direkt an Wirtschaftsunternehmen beteiligen und Ziele verfolgen, die direkt zum Wesen und zur Funktion der Wirtschaft gehören. Genossenschaften sind nicht einzigartig darin, dass sie gewisse kulturelle Werte verkörpern. Das tun andere Unternehmen auch. Doch unterscheiden sie sich natürlich von anderen Unternehmen durch die Sichtbarkeit und die Intensität, mit der sie die progressiven Werte der Gesellschaft fördern.

Genossenschaften können als ausgezeichnetes Beispiel dafür gesehen werden, was geschieht, wenn fortschrittliche Werte des kulturellen Lebens in funktionalistischem Sinn im wirtschaftlichen Leben «institutionalisiert» werden. Genossenschaften bringen Wirtschaftsinstitutionen näher an die wirklichen gesunden Ideale der Wirtschaft im Dienste menschlicher Bedürfnisse heran. Sie tun dies durch ihre Produktionsgewinne, die durch gegenseitiges Vertrauen und Zusammenarbeit erlangt wurden anstatt durch halsabschneiderischen Wettbewerb.

Eine erfolgreiche «Institutionalisierung» eines kulturellen Wertes in das Wirtschaftsleben bedeutet jedoch nicht, dass die wirtschaftliche Institution in eine kulturelle Institution umgeformt wird. Es bedeutet, dass kulturelle Werte sich gemäß der inneren Logik und den Erfordernissen der Wirtschaft in einer Art und Weise verkörpern, welche diesen entspricht und nicht denen der Kultur.

Eine ähnliche Denkweise hilft, die Natur der Gewerkschaften zu erklären. Wie die Genossenschaft ist eine Gewerkschaft eindeutig Teil einer wirtschaftlichen Unternehmung. Das Gleiche gilt für das Management. Organisierte Gewerkschaften entstanden jedoch als Antwort auf den Missbrauch seitens der Kapitalseigentümer und der Manager. Durch ihre Interessenverflechtung bringen die Gewerkschaften kulturelle Konzepte in die Wirtschaft ein, die mit menschlichen und gewerkschaftlichen Rechten verbunden sind.

Wir können sagen, dass die Gewerkschaft somit ein anderer Teil der Wirtschaft ist, der erfolgreich bestimmte kulturelle Werte «verinnerlicht» hat. Es spielt sich jedoch ein weiterer Prozess dabei ab, der die Sache noch komplizierter macht. Die Verhandlungen für einen gemeinsamen Tarifvertrag zur Festlegung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gehören gemäß dem hier entwickelten Verständnis in den politischen Bereich, da letzterer der rechtmäßige Vermittler innerhalb einer Gesellschaft ist für alle Fragen, welche die Handhabung von Rechten im operationellen Sinne betreffen.

Diese Diskussion liefert einen wichtigen Hinweis für die Bestimmung, in welcher Sphäre der Gesellschaft eine spezifische Institution zu finden ist. Man muss fragen: «Was wird tatsächlich getan oder verfolgt in operationeller Hinsicht?» Ist die Institution in einer entsprechenden Aktion direkt involviert oder tritt sie in ihr für bestimmte Dinge ein? Aktiver und maßgeblicher Einsatz in einem Unternehmen macht eine Institution so zu einer Wirtschaftsinstitution. Aber das Eintreten für bestimmte Werte und Ziele innerhalb der Geschäftswelt und der Wirtschaft macht eine Institution nicht zu einem Teil der Wirtschaft.

Aufgrund dieses entscheidenden Tests können wir erkennen, dass parteilose politische Zusammenschlüsse Teil der politischen Sphäre sind, wenn sie direkt am politischen Prozess beteiligt sind. Doch wäre der Zusammenschluss dann eine CSO, wenn er Vollzeitforschung über Politik betreibt und nicht direkt in den politischen Prozess eingreift. Er kann sogar bestimmte politische Werte verfechten und dennoch eine CSO bleiben. Wenn die Organisation jedoch nur ein Forschungszweig eines politischen Zusammenschlusses ist, dessen Ziel es ist, in gewisse Funktionen der Staatsmacht zu gelangen oder sich direkt in der Politik einzubringen, dann ist diese Organisation keine CSO.

12. Wie trennt man einzelne Bürger und deren Handlungen von den Bereichen, in denen diese Bürger im allgemeinen tätig sind? Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines wohlhabenden Unternehmers, der sich dazu entschließt, einen bedeutenden Teil seines Lebens und seiner Mittel für den Kampf um Menschenrechte einzusetzen. Wann hört er oder sie auf, zum «Markt» zu gehören, bzw. wann beginnt er oder sie, zur «Zivilgesellschaft» zu gehören?

Wie bereits oben diskutiert wurde, kann ein Einzelner in jedem der Bereiche der Gesellschaft sein und vom günstigsten Punkt des entsprechenden Bereiches aus handeln. Die Sphären der Gesellschaft sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern um die volle Entwicklung der Menschen zu ermöglichen, die wiederum die Aufgabe haben, die Prozesse in den verschiedenen Untersystemen der Gesellschaft so zu gestalten, dass gewährleistet ist, dass ihre Institutionen tatsächlich den Menschen dienen. Der wohlhabende Unternehmer jedoch setzt sich aus seinen individuellen Möglichkeiten für Menschenrechte ein. In dieser Situation drückt sich seine Individualität sowohl im Bereich des Marktes als auch im Bereich der Zivilgesellschaft aus. Aber dieser individuelle Ausdruck seiner Persönlichkeit bedeutet nicht, dass die jeweils unterschiedlichen institutionellen Wirklichkeiten von Zivilgesellschaft und Unternehmen dadurch verschwunden sind. Diese Institutionen der Kultur bzw. der Wirtschaft funktionieren weiterhin entsprechend ihrer eigenen inneren Logik. In solchen Fällen trifft man auf Stellungnahmen, wie: «Die Meinungen, die geäußert werden, sind die der Einzelnen und nicht unbedingt die der Institution.»

Anders ist es aber, wie ebenfalls oben besprochen, im Falle einer Institution. In ihr muss der Unternehmer oder die Unternehmerin, unabhängig davon, ob ihm oder ihr das Unternehmen gehört, alle Vorstandsmitglieder und Angestellten einer Organisation vom Einsatz für die Menschenrechte überzeugen. Wo dies versäumt wird, verletzt ein Unternehmer in Wirklichkeit die Rechte der Beschäftigten einer Organisation. Angenommen, dieser unternehmensinterne Prozess verläuft erfolgreich, und das Unternehmen als Ganzes beschließt, in der Verfechtung der Menschenrechte aktiv zu werden. Dann wäre es wirkungsvoller, wenn das Unternehmen einen Teil seines Reingewinnes beiseite legen und es einer CSO spenden würde, welche die Verfechtung der Menschenrechte als eines ihrer Hauptziele hat. Zusätzlich kann das Unternehmen eine Art Umformung seiner Organisation vollziehen, um sicher zu stellen, dass es innerhalb des Unternehmens selbst keine Verletzung der Menschenrechte gibt. Auf diese Weise bleibt es eine Unternehmensorganisation und findet dennoch eine angemessene Betätigungsmöglichkeit für seine Belange hinsichtlich der Menschenrechte. Wenn die Institution selbst eine Zivilgesellschaftsorganisation werden würde und gleichzeitig ein Unternehmen bleibt, gerät sie in den Widerspruch zwischen der unterschiedlichen inneren Logik eines Betriebes und einer CSO.

Lassen sie uns noch genauer prüfen und sehen, was passieren würde, wenn eine Institution sowohl ein unternehmerischer Betrieb als auch eine CSO sein will. Solch einen Fall zu untersuchen, stellt eine komplizierte Aufgabe dar, denn die Details darin werden ganz notwendigerweise von der realen Eigenart der ökonomischen Abläufe beherrscht. Aber zu Illustrationszwecken wollen wir es dennoch tun.

Das Ziel einer Unternehmensorganisation ist es, Güter oder Dienstleistungen zu angemessenen Kosten bereitzustellen und zu einem Preis zu verkaufen, der ihr erlaubt, seine Funktionäre und Angestellten zu bezahlen und dabei gleichzeitig genug Überschuss zu schaffen, um sowohl in die Verbesserung und Erweiterung des Unternehmens zu investieren, als auch für unerwartete Entwicklungen Rücklagen bereit zu stellen. Wenn das Unternehmen nun also beschließt, eine Menschenrechtsorganisation zu sein, eine CSO, muss es sich in Aktivitäten einbringen und Mittel und Personal zur Verfügung stellen, die mit dem Unternehmen selbst nichts direkt zu tun haben. Deshalb werden die Kosten des laufenden Betriebes und die eines weniger eindeutig konzentrierten Managements steigen. Mit steigenden Kosten wiederum werden die Preise von Gütern und Dienstleistungen steigen müssen, was zu einer höheren Wahrscheinlichkeit führt, dass das Unternehmen auf dem Markt an den Rand gedrängt wird.

Dieses Szenario bezieht nicht die Kosten der Hindernisse mit ein, die sicherlich entstehen werden, wenn eine Unternehmensorganisation auch eine CSO wird. Beispielsweise geben Banken eventuell nur zögernd Kredite, wenn sie sehen, dass die Bilanzen des Unternehmens immer unattraktiver werden. Regierungsbehörden üben vielleicht größeren Druck aus oder Bestimmungen werden enger ausgelegt, sobald erkannt wird, dass das Unternehmen tatsächlich offenkundige politische Interessen verfolgt.

Das Szenario stellt sich natürlich anders dar, wenn das spezifische Produkt oder die Dienstleistung des Unternehmens in einer Weise echte Bedürfnisse versorgt, die Umwelt und Menschen nicht schädigt. In einem solchen Szenario bleibt das sozial und ökologisch verantwortungsbewusste Unternehmen ein auch weiterhin funktionierender Betrieb, der den ethischen Erwartungen einer modernen Gesellschaft entspricht. Dieses Unternehmen wird deshalb eine Unterstützung durch größere Produktnachfrage haben, selbst wenn die Preise höher sind. Denn es hat für seine Produkte und Dienstleistungen eine sinnvolle Nische gefunden.

Aus unseren Darstellungen geht klar hervor, dass diese neuere Konzeption der Zivilgesellschaft, die wir behandelt haben, sich deutlich unterscheidet von Hegels Konzept der Zivilgesellschaft. In seinem alten Konzept werden wirtschaftliche Unternehmen und kulturelle Organisationen einander noch gleichgestellt, um die Dominanz des Staates auszugleichen. Aber nach Hegels Zeit befreite sich der Markt von diesem allmächtigen Staat. Noch früher hatte sich der Staat von der allmächtigen Kirche befreit und dabei den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat historisch angewendet und durchgesetzt.

Diese notwendige Befreiung des Marktes wurde jedoch getrübt durch die Missstände des laissez-faire Kapitalismus und seiner modernen Version, des Neo-Liberalismus, bekannt auch als der Washington Konsens (Washington Consensus). Deshalb befreite sich die Zivilgesellschaft sowohl vom Staat als auch vom Markt. Und somit hat sich eine Konstellation der Dreigliederung des globalen sozialen Lebens ergeben, der wir jetzt zur Jahrtausendwende gegenüberstehen.

13. Kann die Zivilgesellschaft aus diesem Grund als ein wichtiger Ausdruck der Kultur gesehen werden, die sich selbst verteidigt, weil sie als Gegengewicht gegenüber Schädigungen seitens «Staat» und «Markt» handelt?

Ja, so ist es. Hinzu kommt, dass viele Kämpfe der Zivilgesellschaft Bemühungen für eine «Institutionalisierung» im funktionalistischen Sinne sind. Mehr und mehr ist es dazu gekommen, daß politische und wirtschaftliche Institutionen in der ganzen Gesellschaft wie Krebsgeschwüre wirken. Dadurch verlieren sie ihre Berechtigung für den Bereich der Kultur und auch für die Gesellschaft als Ganzes angemessene Instrumente zu sein zur Verwirklichung sozialer Werte und Themen. Die Zivilgesellschaft ist die wirksame institutionelle Antwort der Kultur auf die Schädigungen durch Staat und Markt. Sie verteidigt den kulturellen und den verbliebenen sozialen Raum, der noch nicht durch gegnerische politische und wirtschaftliche Kräfte verbraucht wurde. Die Zivilgesellschaft ermöglicht die Internalisierung, oder sie «institutionalisiert» aktiv die bevorzugten Auffassungen, Werte und Normen der Gesellschaft sowohl in den politischen als auch in den wirtschaftlichen Bereich.

14. Bedeutet das, dass CS0s per se immer «gut» sind?

Es kann gut sein, dass eine CSO ursprünglich gute Absichten gehabt haben mag, dass sie dann aber im Laufe der Zeit selbst hemmend und repressiv wurde. So ist es möglich, dass CS0s nicht immer per Definition «gut» sind. Deshalb gibt es selbst-regulierende Prozesse unter den CS0s, um die zwielichtigen und problematischen CS0s aus denjenigen herauszulesen, die echter und näher am Ideal einer CSO sind.

In diesem Sinne gibt es ebenso gute und schlechte Wirtschaftsinstitutionen wie gute und schlechte politische Institutionen. Das Verständnis einer CSO, die wir in diesem Buch verfechten, bezieht sich mehr auf das, was eine Institution tatsächlich als Hauptaufgabe tut, und von dort aus können wir bestimmen, ob die Institution zum kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich gehört. Ob sie ihre Aufgaben schlecht erfüllt oder sogar problematisch auftritt, ist eine weitergehende Frage, die im Einzelfall angesprochen werden muss.

Institutionen bestehen aus individuellen Menschen, aus Individuen. Da jeder individuelle Mensch seine eigene Persönlichkeit hat, mit seiner Mischung aus herausragenden Eigenschaften und problematischen Schwächen, werden Institutionen durch diese Persönlichkeiten der einzelnen Menschen, die zu ihr gehören, geprägt. Deshalb haben wir die Kategorie «Individuum» von der Gesellschaft getrennt und sie näher der Kategorie «Geist» zugeordnet. (Siehe Figur 6.)

Selbständige innere Umwandlung ist die deutliche Verantwortung aller einzelnen Menschen, egal ob sie in Kultur, Politik oder Wirtschaft aktiv sind. Diejenigen, die in der Kultur sind, haben jedoch die doppelte Verantwortung, wirklich an ihren Schwächen zu arbeiten. Warum? Weil sie in dem Bereich der Gesellschaft arbeiten, der die Aufgabe hat, das volle Potential von Menschen zu entwickeln, so dass diese Menschen dann ihre Talente und Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft und der Natur stellen können.

Das ist der Grund, warum das Aufkommen von CS0s, die sich mit Biographiearbeit, Trainings, Übergangssriten für Jugendliche, Einweihungsritualen für Erwachsene, Fähigkeitsbildung und menschlicher Entwicklung allgemein befassen, immer wichtiger für die Arbeit der Zivilgesellschaft im Ganzen werden. Viele dieser neuen CS0s stellen diese Bemühungen um menschliche Entwicklung in den Zusammenhang der Herausforderungen durch die elitäre Globalisierung. So erliegen diese CS0s nicht der Nabelschau, die oft die Initiativen anderer CSOs schwächen, die sich nur mit sich selbst und der Entwicklung des Einzelnen beschäftigen.

Das Auftreten dieser CS0s, die sich mit den gesamten menschlichen Möglichkeiten im Zusammenhang mit der globalen Gesellschaftsentwicklung befassen, ist auch aus einem geschichtlichem Grund bedeutsam.

An die Türen der Zivilgesellschaft klopft bereits das Rätsel um die Bedeutung der menschlichen Existenz und das Wesen der Natur, ein Rätsel, das die elitäre Globalisierung jedem einzelnen Menschen auf diesem Planeten als Herausforderung aufgibt. Die elitäre Globalisierung schreitet in halsbrecherischein Tempo voran, weil die Zivilgesellschaft und die Kultur es grundsätzlich versäumt haben, auf die brennenden Fragen der Menschheit zu antworten. Hat die menschliche Existenz einen Sinn, oder reicht es, das Leben eines gesättigten und überreizten Tieres zu leben? Wofür ist die individuelle menschliche Verschiedenheit wichtig? Gibt es grundlegende archetypische Gemeinsamkeiten, welche die Basis bilden zur wahren Verständigung unter den verschiedenen Kulturen der Menschheit oder gibt es nur die bittere Ernte aus dem «Kampf der Kulturen»? Haben Gesellschaft und Zivilisation eine Mission, oder ist das ganze Panorama menschlicher Geschichte nichts weiter als die Aufführung eines Kampfes um das Überleben von Stärkeren, ein Theater, das jammernd verklingt, wenn die Leben spendende Energie und Einstrahlung der Sonne zu Ende sind? Gibt es Geist in der Natur, und wenn ja, kann er der Gentechnik unterworfen werden?

Die Liste der drängenden existentiellen Fragen ist lang. Machtgesichtspunkte und wirtschaftliche Wirksamkeitskriterien an grundsätzliche, essentiell geistige Fragen der menschlichen Existenz und Bedeutung anzulegen, kann die Situation nur noch verschlimmern. Beobachten Sie den Anstieg von Drogen, Gewalt, Mord und Selbstmord. Können CS0s wissenschaftliche, spirituelle Einsichten erarbeiten und erzieltes spirituelles Wissen und Werte in den größeren kulturellen Bereich, sowie in die Wirtschaft und die Politik «institutionalisieren»?

Identität und Bestimmung

Aus dieser langen Diskussion haben wir jetzt eine klarere Vorstellung über das kulturelle Wesen der Zivilgesellschaft gewonnen. Natürlich haben wir die Einblicke nicht ausgeschöpft und nicht alle Fragen beantwortet, die es noch gibt. Aber wir haben jetzt ausreichende Kenntnis, um aus diesem Einblick in die Identität der Zivilgesellschaft übergehen zu können zum Bereich sozialer Aktion und Umgestaltung.

Dazu brauchen wir eine kurze Ausarbeitung über das Konzept der Kulturkraft. In ihm liegt eine wesentliche Voraussetzung zur Bewältigung der weltgeschichtlichen Aufgabe, der die Zivilgesellschaft gegenübersteht.

Anmerkungen

1 M. Liu, «Mao vs. the Mystic», Newsweek, 9. August 1999, S. 10-12. Siehe auch S. Lawrence, «Stressful Summer», Far Eastern Economic Review, 19. August 1999, S. 16-18 und M. Liu, «Echoes of 89», Newsweek, 2. August 1999, S. 24-27. Referenzen zum Falun Gong Vorfall sind alle diesen Quellen entnommen.

2 Liu, Ebd., S.26.

3 Ebd., S.27.

4 Gustavo, s. Anm. 2 der Einleitung.

5 Siehe zum Beispiel Michael Mann, Die Geschichte der Macht, Frankfurt/M. u. New York (Campus-Verlag) 1998; Jean Cohen und Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge, Massachusetts (The MIT Press) 1994; Leslie Sklair, Sociology of the Global System, Baltimore, Maryland (The John Hopkins University Press) 2. Auflage, Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der Sozialen Frage, Dornach (Rudolf Steiner Verlag) 1976. Siehe auch in der amerikanischen Ausgabe das dortige Vorwort von Joseph Weizenbaum in The Renewal of the Social Organism, Spring Valley, New York (Anthroposophic Press).

6 Wir werden den Bereich wirtschaftlicher Genossenschaften (cooperatives) später aufgreifen. Einige Genossenschaften betrachten sich als Teil der Zivilgesellschaft.

7 Für Interessierte zu diesem Thema gibt es in der Bibliographie zahlreiche Referenzen zu weiteren Ausarbeitungen.

8 Wie wir sehen werden, ist es für die Kultur möglich, autonom von Politik und Wirtschaft zu sein. Aber daraus folgt nicht unbedingt, dass «Handlungen» in der Kultur automatisch frei sind. Die subjektiven Faktoren, die zu einer Handlung führen, können, während sie nicht von außen angeregt wurden, von einem charakterlichen Zwang ausgehen und deshalb nicht frei sein. Auch klassische Strukturalisten sagen, dass während die Sprache der empirische Beweis für die Autonomie der Kultur ist, kann Sprache auch die Quelle von Unfreiheit für das menschliche Bewußtsein sein. In der Zusammenfassung dieser Diskussion werde ich zeigen, das es einen Weg aus diesem Dilemma gibt.

9 Ideation = terminologische Bestimmung von Grundtermini der Geometrie, der Kinematik und der Dynamik. (Duden Fremdwörterbuch, Mannheim 1990)

10 Jeffrey C. Alexander und Steven Seidman (Hrsg.), Culture and Society. Contemporary Debates, Cambridge,(Cambridge University Press) 1990, S. 1.

11 Ebd., S.2.

12 Ebd.

13 Ebd., S.3.

14 Ebd., S.5.

15 Ebd., S.8.

16 Ebd., S.9.

17 Ebd., S.15.

18 Ebd., S.22.

19 Zum Vergleich siehe das Konzept «Strukturation» in den Schriften des Soziologen Anthony Giddens. Siehe Bibliographie.