Robert Harris und das anonyme Kapital

01.01.2012

Im November erschien ein neues Buch des Bestsellerautors Robert Harris unter dem Titel „Angst“. Harris zeigt in seinem, nach Kritikermeinungen „routiniert gebauten Thriller, … wie die Finanzwelt aus Emotionen Geld macht.“[1] Das Interessante daran ist, was Harris in einem Taz-Interview als Kernthema entwickelt: Die schleichende Verselbständigung der digitalen Macht im Finanzhandel. Harris entwickelt daraus in seinem Roman den Plot eines selbst lernenden „Algorithmus Vixal-4, der übermächtig wird, indem er die Märkte und die sozialen Medien nach Anzeichen von Angst durchsucht und auf dieser Basis Marktentwicklungen vorhersagt.“[2]

In der Realität ist es nun schon so, dass „73 Prozent aller Transaktionen des US-Aktienhandels in New York von Computern getätigt werden“, und in diesem Sommer wurde in den Medien von einem Computerprogramm berichtet, welches kleinste Schwankungen der Währungskurse in Bruchteilen von Sekunden ausnutzt um Geldmengen profitabel hin- und herzuschieben. Menschen können diese Transaktionen nicht mehr tätigen, aber sie werden unmittelbar davon betroffen. Den dadurch generierten Gewinnen entspricht zwar keinerlei Wertschöpfung, aber das solcherart gewonnene Geld beansprucht reale menschliche Arbeitsleistung sobald es auf die Theke gelegt wird. Es führt damit ein parasitäres Dasein, welches die reale Arbeitsleistung der Menschen aussaugt.

Nie konnte dies deutlicher ans Tageslicht kommen als in unserer Gegenwart. Wir Menschen in Europa sind zur Zeit unmittelbar Zeuge und Opfer in diesem kulminierenden Prozess des Aussaugens der realen Arbeit durch virtuelle Vorgänge. Ganze Völker sollen über Generationen ausgeplündert und in Schuldhaft genommen werden, für virtuelle Besitzansprüche!

Mit der umfassenden digitalen Mechanisierung ist ein Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die ja in der Renaissance ihren Anfang nahm: „Seit jener Zeit herrscht der ökonomische Typus Mensch.“[3] Von da an kann man die gesellschaftliche Realität im Sinne der genialen marxistischen Überbauthese deuten, der sich Rudolf Steiner explizit anschließt: „Die Herrscher, die sind ja nur die Handlanger der ökonomischen Menschen.... Und alles das, was sich in Gesetz und Recht ergeben hat ..., das ist einfach eine Folge desjenigen, was ökonomische Menschen gedacht haben."[4] Im 19.Jahrhundert dann „wird ganz und gar diejenige Ordnung geschaffen, die eigentlich durch die Geldwirtschaft alle übrigen Verhältnisse zudeckt.“[5]

Und in diesem Sinne agieren auch die Unternehmen. Im Sinne der Geldwirtschaft. Es ist für den Kapitalisten unwesentlich an welchem Produkt er seinen Profit macht. Auch wenn in einigen deutschen Gazetten das Klagelied über den globalen Kapitalismus gesungen und das romantisierte Bild des bodenständigen deutschen Nachkriegsunternehmers gemalt wird, des gütigen Patriarchen mit der sorgenden Hand für seine Mitarbeiter, ist das, von einigen Ausnahmen abgesehen, lediglich Sozialkitsch erster Güte.

„Das Wesentliche für den Kapitalisten, insofern er ein Glied der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, besteht nicht darin, sich wie der Handwerker seinen Lebensstand zu verschaffen, sondern dafür zu sorgen, dass das Kapital Zuwachs erhält, dass es sich vermehrt.“[6] Damit kommen wir zurück zum Buch von Harris. Schon durch die Kapitalvermehrung im realen Produktionsprozess lösen sich die Vorgänge im Wirtschaftsprozess von allem Persönlichen. „Dadurch aber wird im hohen Maße das Kapital als solches verselbständigt ... Und das ist der Gesichtspunkt, der bei der richtigen Beurteilung der modernen sozialen Frage vor allen Dingen in Betracht kommt, diese Loslösung des Wirtschaftsprozesses von dem Persönlichen.“[7] Diese Loslösung mit der inhärenten zwanghaften Logik der permanenten Kapitalakkumulation findet ihren momentan perfidesten Ausdruck in den weitgehend automatisch ablaufenden Finanztransaktionen und den damit verbundenen Ereignissen rund um die globale Finanzkrise. Alle bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Krise blieben leider in der Logik dieses Systems. Das muss nicht verwundern, den die bislang handelnden Figuren sind lediglich Charaktermasken (ein m.E. wieder zur Aktualität gelangter Ausdruck der 68er) des Systems. Mit einer rein technischen Lösung im Sinne der Thesen „Finanzmärkte bändigen“ etc. wird es auch nicht getan sein, auch wenn sie kurzfristige Entlastung schaffen kann und ein Baustein auf dem richtigen Weg ist, denn diese potenzierte Entpersönlichung des Produktionsprozesses ist ja nur der bisherige Endpunkt einer Entwicklung, in der die Ökonomie das Rechtsbewusstsein und das geistig-kulturelle Wesen des Menschen Schritt für Schritt in die Bedeutungslosigkeit geführt haben.

In der digitalen Macht der Finanzindustrie über den realen Menschen symbolisiert sich ein Nullpunkt menschlicher Selbstmächtigkeit, symbolisiert sich die Unterdrückung des menschlichen Rechts, symbolisiert sich letztlich die Unterdrückung der menschlichen Möglichkeit zur Freiheit. So artikulieren die gegenwärtigen Proteste die Empörung des individuellen Rechtsempfindens und der eigenen empfundenen Identität und menschlichen Würde gegen die Machtansprüche des internationalen Finanzsystems. Die grundlegende Aufgabe wird sein, dass wir „der durch den Bankier hervorgerufenen ökonomischen Ordnung den Rechtsstaat und den Geistesorganismus entgegensetzen“[8] müssen.

Anmerkungen

Mehr zum Thema