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Die Freie interkulturelle Waldorfschule Berlin
Es war ein weiter Weg von der Idee bis zur Eröffnung der Interkulturellen Waldorfschule Berlin. Inzwischen ist ein Schuljahr vergangen, die Idee ist auf die konkreten Anforderungen des Alltags getroffen. 70 Kindern besuchen gegenwärtig die Schule, 34 haben einen Migrationshintergrund, bei 10 Kindern wird zu Hause Arabisch gesprochen, bei anderen Türkisch, Serbisch, Finnisch, Spanisch und vieles mehr. Johannes Mosmann, Geschäftsführer der Schule, berichtet von den ersten Schritten.
Im Juni 2017 waren die Vertreter der Berliner und Brandenburger Waldorfschulen zu Gast. Das Konzept war bekannt, doch nun war die Schule wirklich da, es konnte aus den Erfahrungen des Alltags berichtet werden. Zur Einstimmung trugen Kinder der 2. Klasse ein arabisches Volkslied vor, die Klassenlehrerinnen berichteten aus ihrem Alltag und die Sprachlehrer aus dem Arabisch-, Türkisch-, und Spanisch-Unterricht.
«Warum habt Ihr keinen Religionsunterricht?» fragte einer der Teilnehmer. Am Beispiel des Nouruz-Festes, das wir unter Anleitung unserer muslimischen Kollegen in der Schule gemeinsam begangen hatten, konnten wir diese Frage beantworten. Gerade der «fehlende» Religionsunterricht macht den Impuls unserer Schule deutlich. Das Nebeneinander-Gestellt-Sein der religiösen Gemeinschaften, wie es durch den sonst üblichen Religionsunterricht zum Ausdruck kommt, ist ein Bild der gegenwärtigen Entfremdung. Schließlich hat jede Konfession das erklärte Ziel, die Kinder in ihre eigene Gemeinschaft einzugliedern. Dieses spaltende Moment wirkt umso stärker, als der konfessionelle Unterricht an das Gemüt und die moralisch-spirituellen Kräfte appelliert, während der übrige Unterricht demgegenüber «trocken» erscheint. Wir begreifen die Waldorfpädagogik jedoch so, dass wir innerhalb der ganzen Klassengemeinschaft Ehrfurcht, Begeisterung, Liebe gerade für die Erscheinungen der äußeren, vermeintlich «trockenen» Welt wecken wollen. Das Moralisch-Geistige soll nicht neben dem Leben, sondern im Leben gefunden werden.
Zu den Erscheinungen des äußeren Lebens gehören aber auch die religiösen Gemeinschaften selbst. Auch zu diesen soll sich das Kind ehrfurchtsvoll hinwenden können. Wir unterscheiden zwischen einer konfessionellen und einer rein pädagogischen, auf die Erkenntniskräfte zielenden Handhabung der Religionen. Als Schule wollen wir gerade nicht neben den katholischen, evangelischen usw. Religionsunterricht nun noch einen islamischen stellen, sondern die Religionen und Religionsgemeinschaften als Lebenstatsachen gemeinsam kennenlernen. Die Schüler sollen über die vielbeschworene «Toleranz», die oft nichts anderes bedeutet als Desinteresse, hinausgehen und ein lebendiges Verständnis der Kräfte entwickeln können, die Menschen als Mitglieder verschiedener Gruppierungen erscheinen lassen. Dabei interessiert uns nicht der abstrakte Gedanke, dass «Allah» derselbe sei wie «Gott», sondern umgekehrt: wie anders wird dasselbe hier und wie ganz anders dort erlebt? Ebenso im Hinblick auf die Sprachen, Nationalitäten usw.: Wie stellt sich die Seele zur Welt, wenn sie in den Lauten der arabischen Sprache lebt und wie in den Lauten der deutschen Sprache? Was ist da «anders»?
Ebenso sehr wie an Fundamentalismus, Nationalismus und Rassismus krankt unsere Gesellschaft an einem Internationalismus, der die Gemeinsamkeit in abstrakten «Werten» sucht und die Widersprüche als «bunte Vielfalt» bloß konsumiert. Das weltweite Wiedererstarken völkischer Kräfte beweist, dass dieser Internationalismus nicht tragfähig ist. Der sogenannte «neue» Nationalismus ist eine unschöne, aber ganz natürliche Gegenreaktion. Wir streben deshalb weder eine abstrakte «Wertegemeinschaft» noch einen «Karneval der Kulturen» an, sondern möchten in einen tiefergehenden, lebenslangen Verständigungsprozess eintreten und so letztendlich am Aufbau einer wirklich tragfähigen Gemeinschaft der Zukunft mitwirken. Ein wirksames Mittel hierzu ist die pädagogisch geführte Begegnung mit den durch die Kinder vertretenen und somit tatsächlich anwesenden Kulturen – etwa im Fach Begegnungssprache, durch die Art der Behandlung des Unterrichtstoffes, oder bei gemeinsamen Festen.
Die Betonung liegt auf «tatsächlich anwesend» – und damit hängt eine Schwierigkeit zusammen, mit der wir umgehen müssen: In Berlin ist die ganze Welt zu Hause. Was wird aus dem Fach Begegnungssprache, wenn jedes Kind eine eigene Sprache mitbringt? Müssen wir, damit unser Konzept langfristig funktioniert, noch gezielter auf die größten in Berlin vertretenen Volksgruppen zugehen – und damit zugeben, dass wir nicht «alle» Kulturen meinen? Oder müssen wir unser Konzept noch anders greifen? Andererseits stellte sich in diesem ersten Jahr heraus, dass die Kinder, unabhängig von ihrer Nationalität, ein außerordentlich starkes Interesse für die arabische Sprache zeigten. Womit hängt das zusammen?
Ähnliches erlebten wir im Feste-Kreis. Dort mussten wir für uns immerzu prüfen: wann handelt es sich um eine echte Begegnung und wann wird es Unterhaltung? In der Vorweihnachtszeit erreichte dieser Prozess einen ersten Höhepunkt: Eine muslimische Familie weigerte sich, ihr Kind am Sankt-Martins-Fest teilnehmen zu lassen. Außerdem befinden sich zwei muslimische Pädagogen im Kollegium. Je näher die Weihnachtszeit rückte, desto klarer wurde, dass wir nicht einfach das typische Weihnachtsprogramm abspulen konnten. Wir mussten Routine-Gewordenes wieder ins Bewusstsein heben: Warum feiern wir Weihnachten? Ist Waldorfpädagogik eigentlich christlich? Wann handle ich christlich? Und die schwierigste Frage: Kann es bezüglich religiöser Fragen überhaupt ein «wir» geben oder nur das individuelle Einstehen für die eigenen Überzeugungen?
Durch das selbstgewählte «interkulturelle» Arbeitsumfeld waren wir genötigt, zwei Aspekte zusammenzubringen: Erstens, «wir» wollten unsere christlichen Impulse nicht verleugnen. Zweitens, dieses «wir» sollte andersgläubige nicht ausgrenzen. Wie löst man das? Das Kollegium kam schließlich dahin, dass die Antwort gerade nicht in einer Verwässerung des eigenen Standpunkts liegt, sondern ausgerechnet im Gegenteil, nämlich in seiner Vertiefung: In dem Augenblick, da ich die christlichen Symbole und Rituale selbst verstehe, da ich die geistige Wahrheit, die sich z.B. im Bild des Weihnachtsbaums ausdrückt, als meine persönliche Erkenntnis besitze und darüber aus meinem individuellen Empfinden heraus sprechen kann, werde ich vom Andersgläubigen verstanden. Das «wir» bildet sich dann als Ergebnis der individuellen Erkenntniswege im Sinne einer freien und freilassenden Begegnung. Ein abstrakt vorausgesetztes «wir sind christlich» dagegen, das Weihnachten irgendwo zwischen Messe und Shopping gedankenlos abspult, verhindert jede tiefere Begegnung.
Damit näherten wir uns dem Kernpunkt unserer Initiative: Im Begegnungsmoment liegt latent die Möglichkeit, Routine-Gewordenes aus den Gewohnheiten heraufzuholen und in bewusste Erkenntnisse umzuwandeln, auf beiden Seiten. Die Begegnung mit dem zunächst «Fremden» bewirkt also auch bei den deutschsprachigen Kollegen, dass diese zu der eigenen kulturellen Prägung in ein immer bewussteres Verhältnis treten können. Und es ist ein unglaublich spannender Moment, wenn man in einer solchen Begegnung z.B. an sich selbst bemerkt: «Dass Du gerade so denkst oder fühlst, hat viel weniger mit deiner Individualität zu tun als einfach damit, dass Du ein Deutscher bist. Was Du bisher unbewusst zu Dir selber gerechnet hattest, teilst Du in Wahrheit mit vielen anderen Menschen, das macht Dich in Wahrheit zum Repräsentanten einer Volksgruppe.»
Von dieser Möglichkeit, zu den im Anderen und in einem selbst wirksamen Gruppen- und Volkskräften in ein immer bewussteres und somit freieres Verhältnis treten zu können, hängt alle Völkerverständigung in Wahrheit ab. Das schlimmste Missverständnis unserer Zeit ist, dass man dadurch zu einem Internationalismus glaubt kommen zu können, dass man das Nationale ausblendet. Damit drängt man diese Kräfte lediglich ins Unbewusste. Dort sind sie dem blinden Spiel von Sympathie und Antipathie anheimgegeben. Verständigung ist in dem Maß möglich, als wir uns von der Fratze des Nationalismus gerade nicht verleiten lassen, den Blick von den Gruppenkräften abzuwenden, sondern diese immer gründlicher und ehrlicher kennenlernen. In der Terminologie Rudolf Steiners: Das Ich muss die Blutskräfte als Kulturträger ablösen, wenn die Menschheit über die Erde hin zusammenfinden soll.
Das ist zugleich Kern der Waldorfpädagogik: Sie erzieht das Kind nicht nach nationalen oder nationalwirtschaftlichen Interessen, sondern stellt das Individuum selbst ins Zentrum. Für sie besitzt das Ringen mit den Gruppen-Kräften deshalb noch eine ganz andere Bedeutung: Diese Waldorfpädagogik verkehrt sich ins Groteske, wenn sie nicht als individuelle Kunst, sondern als Gruppenphänomen wirkt, wenn sie in die Routine oder gar ins Programmatische abgleitet. «In der Waldorfpädagogik macht man es so und so.» Dieser Satz verblasst im interkulturellen Kontext gegenüber dem ganz anderen Erlebnis, dass die Waldorfpädagogik den Pädagogen vor allem geistesgegenwärtig machen kann für die Gegenwart.
Solche Gedanken klingen schön, in der Praxis sind sie schmerzhaft. Und selbstverständlich musste auch ich als Geschäftsführer Programm-Gewordenes bei mir selbst immer wieder auflösen. Manches Mal ging mir das sehr nahe, etwa als wir uns Ende Januar von zwei Kindern trennten. Bis zu diesem Tag hatte ich gesagt: «Wir arbeiten mit allen Kindern, wir nehmen sie so wie sie sind, und wenn etwas nicht klappt, dann liegt es an uns, dann müssen wir besser werden.» Ähnlich dachten auch die Pädagogen. Jetzt hatten wir aber mit einer 1. und einer gemischten 2./3. Klasse begonnen und hatten somit auch in dieser Hinsicht schwierigere Bedingungen. Denn mit der 1. Klasse kann man gewissermaßen bei Null anfangen, die Kinder der 2./3. Klasse haben dagegen alle bereits eine Schulgeschichte hinter sich, meistens keine erfreuliche. Besonders auffällig zeigten sich zwei Kinder, eines davon durch extreme Gewalttätigkeit. Bei beiden konnten wir die Gründe anhand der Vorgeschichte gut verstehen. Um so unerträglicher war es, den Gedanken einer Trennung zuzulassen. Doch als wir über Wochen hinweg in den Konferenzen nur über diese beiden Kinder gesprochen, Schularzt und pädagogische Berater hinzugezogen hatten, mussten wir erkennen, dass wir die anderen Kinder vernachlässigten und die Schule lahm legten. Die Entscheidung war also eigentlich «da», noch bevor sich jemand traute, sie auszusprechen. Und sie auszusprechen war umso schwerer, da allen Kollegen klar war: In einer anderen Phase unserer eigenen Entwicklung würden wir dieselbe Entscheidung anders fällen.
Heute ist von der Aggressivität, die zunächst auf dem Pausenhof herrschte, nichts mehr zu spüren und die Kinder beider Klassen entwickeln sich großartig. Kinder und Eltern äußern immer wieder, wie dankbar sie für diese Schule sind und selbst Eltern, die der Waldorfpädagogik zunächst skeptisch gegenüberstanden, sind begeistert. Spätestens seit dem Sommerfest können wir uns vor Anfragen für die kommende 1. Klasse nicht mehr retten.
Aber natürlich bleiben die ersten 5 Jahre eine Herausforderung, zumal wir in dieser Zeit wegen der gesetzlichen Wartefrist keinerlei staatliche Zuschüsse für den Schulbereich erhalten. Zum September soll die zweite Etage des Gebäudes fertiggestellt werden, in zwei Jahren dann die dritte und vierte. Falls wir die 2. und 3. Klasse trennen, was pädagogisch ratsam ist, entsteht eine zusätzliche finanzielle Belastung, die wir nur teilweise durch eine stärkere Inanspruchnahme der Eltern auffangen können. So ist es immer wieder: Irgendwo tritt eine neue Schwierigkeit auf, und dann finden sich doch wieder Wege. Wir verspüren deshalb große Freude und Lust, alle kommenden Herausforderungen anzunehmen.
Dank vielfältiger Unterstützung lebt und wächst die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin von Tag zu Tag. Weitere Hilfe ist willkommen.
Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin Schnellerstraße 1-5 | 12439 Berlin
Johannes Mosmann geschaeftsfuehrung@interkulturellewaldorfschule.org
www.interkulturellewaldorfschule.org
iban DE 82 43060967 1163350800
bic GENODEM1GLS
Quelle
Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Oktober 2017