Oberschlesien

14.09.1920

Quelle
Zeitschrift „Dreigliederung des sozialen Organismus“
2. Jahrgang, Nr. 10, 14.09.1920, S. 2–3
Bibliographische Notiz

Oberschlesien! Wahrlich ein Problem, das auch Staatsmännern von etwas größerem Stil, als die heutigen sind, manche Kopfschmerzen bereiten würde. Eins ist sicher: eine Regelung der sogenannten oberschlesischen Frage, die

[Dreigliederung des Sozialen Organismus, 2. Jahrgang, Nr. 10, 14.09.1920, Seite 2]

nicht nur einen gewissen geschichtlichen Bestand verbürgt sondern auch den wahren Interessen der oberschlesischen Bevölkerung selbst und denen der anderen europäischen Völker dient, kann nur aus tieferen Impulsen gefunden werden, nicht aber aus denen, die heute unter dem Druck der Verhältnisse dieser teils durch frühere Fehler und Mißgriffe, teils aber auch absichtlich herbeigeführten schier unentwirrbaren Verhältnisse, die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens fällen sollen bezw. wollen. Es hat wenig oder gar keinen Zweck, heute über Einzelerscheinungen zu diskutieren, die sich an die oberschlesische Frage knüpfen, etwa über das halb kindische, halb buschkleppermäßige Verhalten der Polen, oder über die Politik der deutschen Regierung, die sich hinter den Versailler Friedensvertrag verschanzt, da sie sich nicht anders zu helfen weiß – sie ist ja auch in einer wirklich bemitleidenswerten Lage, gerade in dem Falle Oberschlesien ! oder gar über den mutmaßlichen Ausfall der Volksabstimmung, über die Propagandatätigkeit der einen und der andern Partei und was dergleichen mehr ist. Alle diese Erscheinungen haben nur einen Wert als Charakteristika der deutschen Politik, sie zeigen, wie unfähig diese „Staatskunst“ ist, etwas positives zu schaffen, wie sie vielmehr mit ihren Mitteln Europa immer tiefer in das Chaos hineinführt. Einer wirklichkeitsgemäßen Politik muß es zunächst darauf ankommen, die Kräfte und Tatsachen zu erkennen, aus denen heraus die heutige Lage entstanden ist, sodann muß sie auf Mittel und Wege sinnen, diese Kräfte in der Praxis so zu leiten, daß aus ihrem Wirken eine wirkliche Lösung, nicht neue Verwicklung entstehen kann. Selbstverständlich kann die Entwirrung des oberschlesischen Knotens nur zugleich mit der jenigen der größeren, übergeordneten europäischen Probleme erfolgen; immerhin aber kann gerade Oberschlesien als Beispiel dafür dienen, wie die wirklichkeitsgemäße Lösung solcher Fragen zu geschehen hätte.

Die Tatsachen, die sich zu dem oberschlesischen Problem verdichtet haben, zerfallen ihrem Ursprung nach in drei Kategorien. Als erste kommen in Betracht Tatsachen wirtschaftlicher Natur: reiche Bodenschätze und eine leistungsfähige Industrie machen das Land höchst begehrenswert; Bewerber sind ein Staat, der einen „Weltkrieg“ verloren hat, und der der frühere Besitzer des Landes ist, ferner ein Staatshomunkulus, der zu seiner Entwicklung und Erhaltung den Besitz der Provinz dringend zu benötigen meint, und endlich eine siegreiche (vermeintliche) Großmacht, die anstatt papierener Verträge lieber positive Werte in die Hand bekommen möchte, und die sich zum Anwalt der Ansprüche des zweiten Bewerbers macht. Die Ansprüche aller drei Anwärter sind aus wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeiten geboren; für jeden Bewerber bedeutet die Erfüllung seines Anspruches ungeheuer viel. – Die zweite Kategorie umfaßt Tatsachen des Rechts –, des Staatsgebiets im eigentlichen Sinne. Von zwei Staaten will jeder das strittige Land besitzen, um dort die sich an den Besitz knüpfenden rechtlichen Befugnisse, Verwaltung usw. ausüben zu können, und zwar teils aus Machtgelüsten heraus, teils unter Berufung auf geschichtliche und bevölkerungsstatistische Tatsache. Die Bevölkerung des Landes selbst ist in zwei Lager geteilt, die um die ausschließliche Vorherrschaft im Rechts- bezw. Verwaltungsgebiet ringen. Als dritte Kategorie sind schließlich Tatsachen aus dem Gebiete des Kulturlebens festzustellen: zwei Kulturen, zwei Volksindividualitäten, die sich nicht nur berühren, sondern durchdringen, kämpfen miteinander um die Möglichkeit, sich auszuleben. Auch dieser Kampf wird betrachtet als eine Sache nicht nur der Bevölkerung, sondern zweier Nationen.

Das also sind die nackten Tatsachen. Die große Verwirrung entsteht erst durch die Verquickung der auf den einzelnen gekennzeichneten Gebieten wirksamen Kräfte und das sich daraus ergebende Verfahren der Interessierten, sich Faktoren des einen Gebietes zur Erringung von Vorteilen auf einem anderen zunutze zu machen. Die großen Schwierigkeiten sind die Folgen eines Bewußtseins, das nur den alten Einheitsstaat kennt, und einer teils unfähigen (z. B. der preußischen „Schulpolitik“ im Frieden), teils korrupten (z. B, der der katholischen Kirche) Politik. Macht man die Gesichtspunkte des einen Tatsachengebietes zu den maßgebenden für die Lösung des gesamten fragenkomplexes, so wird Oberschlesien immer ein Herd von Beunruhigungen des Völkerlebens in Europa bleiben, wenn nicht ein Chaos entsteht, in dem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes vernichtet und die Möglichkeit zur Entfaltung einer Kultur überhaupt genommen wird, und dem Gewalt statt Recht herrscht. Wird dagegen das Problem in seiner Dreigliedrigkeit erfaßt, so eröffnet sich die Aussicht auf eine Lösung, die als die einzig mögliche anerkannt werden muß. Die „Kernpunkte der sozialen Frage“ Dr. R. Steiners weisen den Weg zu dieser wirklichkeitsgemäßen Regelung ; in großen Zügen sei dieser Weg hier angedeutet. – Vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus kann es sich nie um den Besitz Oberschlesiens, sondern nur um die Nutznießung seiner Erzeugnisse handeln. In einem überstaatlichen europäischen Wirtschaftsorganismus wird für die Einführung der oberschlesischen Produkte in den allgemeinen Güterkreislauf die staatliche Zugehörigkeit des Landes keine Rolle spielen, die Entscheidung wird sich nach den rein sachlichen Gesichtspunkten der speziellen Verwendbarkeit, der verkehrstechnischen Lage usw. richten. Diejenigen Verbraucher, deren Bedarf nicht aus Oberschlesien gedeckt werden kann, werden aus anderen Gebieten befriedigt werden. Verhandlungen der leitenden Wirtschaftskörperschaften in diesem Sinne, würden vermutlich mehr positiven Erfolg haben, als die Unterhaltungen in Spaa. Als wirtschaftliches Problem gliedert sich die oberschlesische Frage also in die europäische Gesamtwirtschaft ein und kann gelöst werden, sobald man sich entschließt, die Wirtschaft als das zu betrachten, als was sie in den „Kernpunkten“ dargestellt ist. – Stellt man das Geistesleben – losgelöst von wirtschaftlichen und staatlichen Beeinflussungen – auf sich selbst, so bietet auch das Neben- und Ineinanderspielen der beiden Kulturen in Oberschlesien keinen Anlaß zu internationalen Konflikten und örtlichen Gewaltakten mehr. Diejenige Volkskultur, die sich als die lebenskräftigere erweist, wird sich auf friedliche Weise ausbreiten können (Kernpunkte S. 101). Die Anwendung der korrupten Mittel von früher wird ausgeschlossen sein; in Schul- und Religionsfragen, sowie vor allem in der für Länder mit gemischtsprachlicher Bevölkerung so wichtigen Frage der richterlichen Rechtssprechung wird durch die Befreiung des Geisteslebens die Anhäufung von Konfliktsstoffen unmöglich gemacht. Auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung Oberschlesiens und derjenigen anderer Länder durch Sprache, Nationalbewußtsein und andere geistige Faktoren können gepflegt werden, ohne das Zusammenleben der beiden gegensätzlichen Volkscharaktere zu stören. Der dritte Teil des Problems, dessen wesentlicher Punkt die Frage der staatlichen Zugehörigkeit und der sich daraus ergebenden Art der Verwaltung des Landes ist, erscheint durch das Vorstehende in seiner Bedeutung stark eingeschränkt. Unabhängig von den politischen Grenzen werden die Bedürfnisse der interessierten Völker befriedigt werden, der geistige Zusammenhang der Angehörigen einer und derselben Nation ist so gewahrt, daß es für den Einzelnen weniger vvichtig ist, ob er die Grenzpfähle des Volkes, dem er sich zugehörig fühlt, vor sich oder in seinem Rücken hat Fragen des Prestiges und der nationalen Tradition werden sich in der alten Weise nicht mehr bemerkbar machen können, sie verlieren mit den nationalen Grenzen an Wichtigkeit. Die Entscheidung über den Anschluß Oberschlesiens an Polen oder an Deutschland durch eine Volksabstimmung zu finden, wird nicht möglich durch das Wirken einer modernen Plebiszitkommission, sondern durch die Loslösung der rein staatlich-rechtlichen Fragen von den wirtschaftlichen und kulturellen. Wenn man nicht den naheliegenden Weg einer wenigstens vorläufigen Verselbständigung Oberschlesiens wählt – vom Standpunkte der Dreigliederung aus wäre ein sich selbst verwaltendes Oberschlesien sehr wohl lebensfähig – so wird auch die Selbstbestimmung Oberschlesiens über seinen Anschluß an eins der in Frage kommenden Staatsgebilde unter den hier dargestellten Gesichtspunkten in solcher Weise möglich sein, daß die so gefundene Lösung geschichtliche Berechtigung und Dauer hat.

[Dreigliederung des Sozialen Organismus, 2. Jahrgang, Nr. 10, 14.09.1920, Seite 3]