Hegelismus, Marxismus und Dreigliederung

01.11.1920

Quelle
Zeitschrift „Dreigliederung des Sozialen Organismus“
2. Jahrgang, Nr. 18–19, Oktober–November 1920
Bibliographische Notiz

Teil 1

Karl Marx und Friedrich Engels haben in ihren Schriften immer wieder betont, daß sie die wissenschaftliche Methode ihres Sozialismus der Philosophie Hegels verdanken, die in der Dialektik ein Mittel besaß, beweglich das historische und soziale Leben zu erfassen. Die Bewegung der Geschichte von einem Zustand durch den gegensätzlichen zu dem beide auf höherer Stufe vereinenden dritten zu verfolgen, lernten sie bei dem Idealisten Hegel. Aber sie kamen durch die Berührung mit Feuerbachs Materialismus dazu, einzusehen, daß die ihnen gemäße Philosophie nicht der Idealismus, sondern der Materialismus ist : sie erkannten sich als zugehörig zum materialistischen Menschentypus.

Hegel ging nun in seiner Philosophie von dem Grunderlebnis aus, daß der Mensch im reinen Denken die Weltgedanken, die Weltideen erfasse, daß er von den Weltideen durchdrungen werde und sie als die treibenden Kräfte der Geschichte erfassen könne. Denn nicht das macht in seinen Augen die Geschichte, was in der Oberfläche des menschlichen Bewußtseins zu Tage tritt, sondern die in der Tiefe waltenden Ideen. Die Ideen, die für das soziale Leben zunächst die größte Bedeutung haben, sind die Volksgeister. Sie durchdringen einzelne hervorragende Menschen mit ihrer Ideenmacht. Diese Menschen schaffen dann dem in ihnen waltenden Volksgeist in äußeren Staatsinstitutionen, in der ganzen Gesetzgebung und Verfassung eine Verkörperung. Auch die Impulse, die Ideen zu Kunst, Religion und Philosophie kommen den hervorragenden Einzelnen durch die Volksgeister. Die durch die Kulturheroen, die Staatsgründer und Gesetzgeber geschaffene äußere Staatsorganisation, die Gesetze, die ganze Lebensform des Volkes nehmen dann die anderen Volksangehörigen in sich auf. In sich verlebendigen sie den äußeren Staat, indem sie den allgemeinen Gesetzeswillen in sich aufnehmen, und in der Vereinigung ihres eigenen Willens mit dem allgemeinen Willen werden sie sittliche Wes en. Dadurch aber tragen sie dem Volksgeist zurück, was er durch die Heroen in die Welt als Staat gesetzt hat. Der Volksgeist kommt, wenn er sein eigenes Werk durch die Volksangehörigen zurückgespiegelt bekommt, zu einer höheren Stufe seines Bewußtseins – und die Menschen, die ihm dazu verhelfen, kommen der Welt näher, die die der Ideen ist – der Welt der Freiheit ; sie steigen auf zu einer höheren Stufe. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.“ Wenn aber ein Volksgeist zu einer höheren Stufe seines Bewußtseins aufgestiegen ist, tritt ein anderer heraus aus dem Ideenreiche, durchdringt und durchwebt Menschen, um durch sie zu einer äußeren sozialen Verkörperung in einem Staate zu gelangen. Mit List ergreifen die Ideen die Menschen, um ihre, der Ideen Ziele, durchzuführen. Die Volksgeister sind die wahren Individuen: nur von ihnen hat die Weltgeschichte zu reden, von den Menschen nur, soweit sie Diener dieser sich ablösenden Volksgeister sind.

Die Volksgeister wieder sind die Diener des Weltgeistes, der der eigentliche Dirigent des historischen Geschehens ist. In der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Volksgeister lebt sich die Idee der Weltgeschichte aus: so wie die Menschen die Instrumente der Volksgeister, sind die Volksgeister die des Weltgeistes. Der Weltgeist aber hat seine wahre Wirklichkeit auch nicht in sich, sondern in dem absoluten Geiste: aus ihm stammt im Grunde das menschliche Geistesleben in Kunst, Religion und Philosophie. Er gibt die Ideen zu diesem Geistesleben durch den Weltgeist und die Volksgeister an die führenden Menschen weiter, so daß es ein äußeres soziales Geistesleben geben kann. Aber da es durch die Volksgeister an die Menschen herankommt, muß es in engstem Zusammenhange mit dem stehen, was gleichsam aus sich heraus die Volksgeister schaffen: dem Staate. Religiöses Leben mag eine gewisse eigene Organisation in den Kirchen sich schaffen, aber es untersteht seiner ganzen sozialen Seite nach der Polizeiaufsicht des Staates. Verselbständigung der Wissenschaft würde zur Zerfahrenheit führen – deshalb muß der Staat die Wissenschaft leiten, weil er das Allgemeine, die Darstellung der göttlichen Idee in der intensivsten und klarsten Weise darstellt, in seinen Gesetzen dieselbe Bewußtseinshöhe hat wie die Wissenschaft im Denken. Der Staat ist der große so ziale Denker gegenüber Religion und Kunst, die die Ideen in der Form des Gefühls, der Vorstellung und der Anschauung, nicht aber ideengemäß in der Form des Gedankens haben.

Als eine soziale Organisation, die aus den einzelnen Menschen mit ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen herauswächst, ist die bürgerliche Gesellschaft anzusehen. Bei dem Sichausleben der wirtschaftlichen Egoismen der Menschen kommt aber doch eine gewisse Harmonie der Interessen zustande, weil die Menschen merken, daß für die Befriedigung ihrer. materiellen Bedürfnisse ein genossenschaftliches Zusammenarbeiten, ein korporatives Sichzusammenschließen sie am weitesten führt. Herrscht im Staat mit Recht das allgemeine für alle verbindliche Gesetz, so schließt sich die bürgerliche Gesellschaft durch die Organisationen zu einer Einheit zusammen: sie führt gleichsam hin zu der Staatsidee.

Das höchste Ideenleben kommt also nach Hegel in Kunst, Religion und Philosophie in die Welt – es entstammt dem absoluten Geiste. Einer niedrigeren Stufe gehört das Staatsleben insofern an, als es aus Weltgeist und im besonderen den Volksgeistern stammt. Die mindeste Realität hat die bürgerliche Gesellschaft in sich, weil sie ihre Substanz nur den Menschen entnimmt. Da aber die Geister, die dem sozialen Leben am nächsten stehen, am innigsten mit ihm verwoben sind, die Volksgeister sind, so ist der Staat die wichtigste soziale Organisation der Menschen.

* * *

Zu dieser Philosophie und Soziallehre Hegels entwickelten nun Marx und Engels nach und nach den Gegensatz. Ueber Feuerbachs Materialismus, den Utopismus und das politisch-revolutionäre Gefühl der Franzosen, aus der Anschauung der englichen Oekonomie und der Verarbeitung der englischen ökonomischen Literatur kamen sie dazu, die Realitätsskala der sozialen Beziehungen in ihrer materialistischen Geschichtsauffassung etwa folgendermaßen darzulegen:

Das, was die Menschen gewöhnlicherweise für die Triebkräfte des geschichtlichen Lebens ansehen, dieses ganze Material ihres Innenlebens, das sie ausleben und in der Welt verwirklichen – das ist nicht die wahre Wirklichkeit, das ist nicht das eigentlich Treibende in der Geschichte: hinter diesen ganzen Inhalten der Bewußtseinsoberfläche sind wirksam die Vorstellungen und Triebe, die in den Menschen infolge ihrer Klassenzugehörigkeit aufkommen. Ein Mensch einer herrschenden Klasse denkt infolge seiner Klassenzugehörigkeit anders als ein Mensch der beherrschten Klasse ; ihm erscheint seine herrschende Stellung und alles, was sie an Vorrechten mit sich bringt, selbstverständlich – und die Lehren, die diese Auffassung zum Ausdruck bringen, hält er für ewig und objektiv gültig, obwohl sie doch nur Rechtfertigungslehren seines bevorzugten Standes sind. Aber auch die Inhalte und Triebkräfte, die aus dem politischen Leben, den Klassen, in die Menschen hineinkommen, sind noch nicht die eigentlichen, die wahren sozialen Triebkräfte. Diese Triebkräfte der Triebkräfte liegen in den wirtschaftlichen Zusammenhängen der Menschen. Die wirtschaftliche Stellung der Menschen entscheidet über ihre sozialen Vorstellungen, Gefühle und ihren Willen.

Die Oekonornie, die bürgerliche Gesellschaft Hegels ist das eigentlich reale soziale Reich. Als eine erste Ideologie über diesem Reiche der materiellen Beziehungen der Menschen erhebt sich der Ueberbau des politischen Lebens, der Produktions - und Eigentums-V erhältniss e. Dieses Gebiet hat eine gewisse Tendenz der Verselbständigung, sobald es einmal hervorgegangen ist aus dem wirtschaftlichen Leben: die Politiker können zu dein Glauben kommen, daß sie aus sich heraus arbeiten, weil sie die reale Unterlage ihres Lebens, die ihnen ihre politischen Ideen, ihre ganze politische Haltung einflößen, leicht vergessen. Ueber dem, politischen Leben, dem Staate, schwebt dann als reine Ideologie das Geistesleben: Kunst, Wissenschaft und Religion. Diese Erscheinungen des sozialen Lebens stehen, real gesehen, am weitesten ab von der wirklichen Grundlage des sozialen Lebens – bei ihnen stellt sich noch leichter als bei den politischen der Aberglaube an ihre Selbständigkeit ein und verführt zur Behandlung der Frage des Geisteslebens ohne Rücksicht auf die tragende ökonomische Grundlage. Die Ideologien beginnen. ein Dasein zu führen, als ob sie etwas Selbständiges, etwas Reales wären, während sie doch nur Spiegelungen der ökonomischen Verhältnisse in das Bewußtsein der Menschen hinein sind. Denn nicht das Bewußtsein bestimmt das Sein, sondern das Sein – die Oekonomie – bestimmt die Bewußtseinsinhalte der Menschen.

Indem die Menschen in der Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse sozial zusammenleben, wirken sich Gesetzmäßigkeiten aus, die den Verlauf der ökonomischen Entwicklung bestimmen. Die Menschen sind den Gesetzen des Wirtschaftsleben unterworfen. Die Tendenzen der Wirtschaft bestimmen die Produktivkräfte, die in ihr wirksam sind: das Wirtschaftsleben, die staatlichen Verhältnisse, die ideologischen Erzeugnisse der Kunst, Religion und Wissenschaft ändern sich mit dem Fortschritt von der Handarbeit zum Maschinen-w esen. Die ganze Richtung dieser Produktivkräfte-Entwicklung geht nun seit dem Beginn der kapitalistischen Epoche dahin: den großen Widerspruch, die große Antithese zu überwinden, die in der kapitalistischen Gesellschaft liegt, den Widerspruch zwischen der Erzeugungsweise der Waren und der Aneignungweise ihrer Erträgnisse. Im Mittelalter, in: der feudalen Gesellschaft war der Produzent der Waren im Besitze der damals einfachen Produktionsmittel und genoß deshalb den vollen Ertrag seiner Arbeitskraft. Individualistisch waren im wesentlichen Produktion und Aneignung. Durch das Aufkommen der Manufaktur und der Fabrik in der neueren Zeit wurde die Produktionsweise gesellschaftlich, die Aneignungsweise aber blieb individualistisch d. h. ein Kapitalist über vielen gesellschaftlich produzierenden Menschen besaß die Produktionsmittel und steckte einen Teil der Erträgnisse der •Arbeitskraft der Vielen in der Form des Mehrwertes ein. Es entstand gesellschaftlich der Klassengegensatz der Bourgeoisie als der Klasse der Mehrwerteinnehmer und des Proletariats als der Mehrwert produzierenden Klasse. Es entstand aber auch ein Bewußtsein in diesen Klassenangehörigen von der Stelle im Produktionsprozeß, die sie einnahmen : die einen, sie als selbstverständlich findend, die andern, sie als Joch empfindend. Und nun kam mit der zunehmenden Entfaltung der Produktivkräfte ein immer größerer Widerspruch hinein in das soziale Leben : Immer mehr drang der gesellschaftliche Charakter der Produktion durch, immer größer wurde die Spannung zwischen dieser gesellschaftlichen Organisation und den Eigentumsverhältnissen: Krisen über Krisen waren die Folge. Allmählich drang auch ein gesellschaftliches Element in die Eigen tums- und Aneignungsverhältnisse: an die Stelle der Einzelkapitalisten traten Gesellschaften, Organisationen von Kapitalisten, ja nach und nach immer weitergetriebene Organisationen. Die Kapitalisten begannen sich zu verschlucken, sodaß die Tendenz ganz deutlich herauskommt auf die Konzentrierung ,der Produktionsmittel in immer weniger Händen. Während so die ökonomische Entwicklung geht, iwird das Klassenbewußtsein des Proletariats intensiver und intensiver. Das Bewußtsein ihrer ökonomischen Lage bringt die Proletarier zum politischen Wollen. Sie streben die politische Macht an, um die wenigen Produktionsmittelbesitzer expropriieren zu können und auch die Aneignung gesellschaftlich zu machen, so daß dann die Oekonomie nach beiden Seiten hin gesellschaftlich organisiert wäre.

Das Mittel der Verwirklichung der aus dem Bewußtsein von -den Tendenzen der Wirtschaft, der Produktivkräfte in den Proletariern aufsteigenden Wünsche ist also die Ergreifung der politischen Macht. Der Staat ist der Hebel des Fortschritts über den Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft hinweg zur Neuorganisation der Menschheit. Die Tendenz der materiellen Produktivkräfte führt so die Menschen zur Erlösung aus den gesellschaftlichen Widersprüchen : die ökonomische Entwicklung befreit durch ihre naturnotwendige Entwicklung, durch ihre Eigengesetzlichkeit den Menschen. Er kann zu einer höheren Stufe seines Lebens, zum freien Menschentum aufsteigen. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel macht ihn frei von den ihm als Gebietern gegenüberstehenden Gesetzen der Produktion : der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit ist ihm möglich: die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft mit ihren Antagonismen, ihren Klassenkämpfen ist beendet, die eigentliche menschliche Gesellschaft kann beginnen.

So war in der materialistischen Geschichtsauffassung die Antithese zur Hegelschen idealistischen Geschichtsphilosophie völlig deutlich herausgekommen. Was bei Hegel die übermenschlichen Ideen leisten : den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit für die Volksgeister und Menschen, das leistet bei Marx-Engels der untermenschliche Prozeß der Produktionskräfte.

[Dreigliederung des sozialen Organismus, Jahrgang 2, Nummer 18, Oktober 1920]

Teil 2

Die Dialektik, die Methode von Hegel und Marx-Engels, ist nun nicht beschränkt auf These und Antithese, sondern ist dreigliedrig, arbeitet mit These, Antithese und Synthese. Aus den methodischen Notwendigkeiten heraus müßte schon eine dritte Philosophie und soziale Auffassung ins Auge gefaßt werden, sobald man einmal Hegelismus und Marxismus als These und Antithese erkannt hat: die dialektische Methode muß vor allem auch Gültigkeit haben für den Zusammenhang der beiden Systeme, deren eines sich offen als die Antithese des andern bekannt hat, und das heißt, es müssen beide durch die synthetische Philosophie und Soziallehre aufgehoben werden.

Nun ist bei der Betrachtung des Hegelismus und des Marxismus auffällig, daß der Mensch als Triebkraft für beide nicht in Frage kommt. Die scheinbaren Triebkräfte im Menschen kommen nicht aus dem Menschen, sondern aus Volksgeistern oder ökonomischen Entwicklungen. Daß der Mensch selber eine Idee hat, das tritt bei Hegel ebenso zurück wie bei Marx-Engels das andere, daß das Bewußtsein den Menschen frei macht. Und doch käme grade die Hegelsche Philosophie erst zu ihrem Ende, wenn sie die besondere Rolle erfaßte, die die Idee des einzelnen Menschen spielt. Diese Idee ist nichts Generelles wie ein Volksgeist, nichts, was den Menschen als, Instrument benutzt, sondern eine Idee, in der der einzelne Mensch leben kann als Individualität mit eigener Freiheit. Gerade die eigene Idee des Menschen gehört in das Reich der Freiheit Hegels, sie ist für den Menschen gleichsam der Zugang zum freien Ideenreiche, sobald der Mensch sie erfaßt und in sein Bewußtsein zieht. Da ist er nicht mehr angewiesen darauf, die fremden Ideen, die die Volksgeister ihm einflößen, durch sich durchfluten zu lassen in die Welt, da ist er auch – wenn er ein weniger „historisches Individuum" ist – nicht angewiesen darauf, von außen her aus den bereits vorhandenen Staatsgedanken die Triebkräfte seines Willens zu beziehen, da kann er vielmehr aus dem freien Bewußtsein heraus Ideen zu Triebkräften machen, die er herausholt durch moralische Phantasie aus dem ihm durch seine eigene Idee zugänglichen Ideenreiche. In dieser Freiheit wirkt der Mensch sowohl als Idee im Sinne Hegels als auch als Gesetz der Produktivkräfte im Sinne von Marx. Indem er seine eigene Idee ergreift, erreicht der Mensch ja im Sinne Hegels eine wahre Triebkraft, eben seine eigene – und indem er bewußt die Gesetze der Produktivkräfte von Karl Marx gleichsam hineinnimmt in die bloße Idee Hegels, zum Gesetzgeber der Produktivkräfte wird, wird aus dieser Idee die blutwarme Individualität. So ist die freie Individualität die Synthese Hegelscher bloßer Ideen und Marxscher Produktioasgesetze. Engels hat sogar gesehen, daß der Mensch frei wird von der ihn knechtenden Gesetzmäßigkeit der Produktivkräfte, wenn er sie erkennt und in sein Bewußtsein aufnimmt. Der ökonomische Prozeß, so meinte er, verhilft dem Menschen nach und nach dazu, zum Bewußtsein, zum bewußten Erfassen der Gesetze der Produktionsentwicklung aufzusteigen – und dadurch wird er ihnen gegenüber frei, kann mit vollem Bewußtsein von sich aus die Produktion regeln, wird zum Herrn, zum Gesetz der Produktion. Das heißt aber deutlich, daß die materialistische Geschichtsauffassung nur gilt für die Zeit des ungenügenden menschlichen Bewußtseins, daß aber eine Zeit für den Menschen möglich ist, in der er aus seinem Bewußtsein heraus das gesellschaftliche Sein bestimmt – aber nun nicht willkürlich-subjektiv, sondern in einem wahrhaft gesellschaftlichen Sinne. Auch der Mensch, der sich zu seiner eigenen Idee durchgefunden hat, handelt nicht willkürlich-subjektiv, sondern wahrhaft gesellschaftlich. Denn die Sphäre, aus der heraus er handelt, ist die Sphäre der anderen menschlichen Ideen, der Individualitäten der Menschen, die die wahren Triebkräfte der anderen Menschen sind. So sehr er Ideen aus Bewußtsein heraus zu seinen Triebkräften macht, die er herausholt aus der Ideenwelt nach Maßgabe seines Standortes, wenn der Ausdruck erlaubt ist, und nach der Weite seiner moralischen Phantasie, seines freien Blicks für Ideen – er lebt aus einem Reiche heraus, in dem die menschlichen Individualitäten alle wurzeln : er handelt gleichsam in ihrer aller Sinne mit, wenn er wahrhaft aus sich heraus handelt. Es besteht nicht die geringste Gefahr des Zerflatterns des menschlichen Soziallebens bei individuellem Handeln – es wird im Gegenteil eine wahre menschliche Gesellschaft erst möglich durch die Erkraftung der Menschen zu einem Leben aus ihren Individualitäten heraus. Das äußere soziale Einheitsphänomen, die menschliche Gesellschaft, entstünde aus den einzelnen Menschen heraus, weil diese Menschen geistig in einer bewußten Einheit lebten, nicht aber einheitlich dirigiert würden: sie könnten in aller Bewußtheit Ideen von Volksgeistern entgegennehmen, aber nicht gezwungen durch diese Geister als überragende Triebkräfte und Dirigenten, sondern weil sie geneigt wären, diese Ideen aufzunehmen, aus Liebe zu ihnen, weil sie ihnen gefielen. Und so würden auch die Volksgeister selber befreit werden von der Rolle der äußerlichen Befehlshaber der Völker und könnten aufsteigen zu Ratgebern der freien Menschen – und das würde gewiß ein Fortschritt in ihrer Entwicklung sein.

Diese dritte Philosophie, diese synthetische Philosophie ist aber die Rudolf Steiners.

Und so wie aus der Hegelschen idealistischen Philosophie und der Marxschen materialistischen Auffassung soziale Systeme hervorgegangen sind, so auch aus der Freiheitsphilosophie Rudolf Steiners die soziale Auffassung, die die Synthese Hegelscher und Marxscher Soziallehren ist.

Worauf muß wohl die Synthese dieser beiden sozialen Auffassungen gerichtet sein ? Bei Hegel fanden wir einerseits den Abstieg von dem absoluten Geist, dem Spender von Kunst, Religion und Wissenschaft, also dem Geistesleben, durch den Weltgeist und die Volksgeister als die Staatsorganisatoren zu den Menschen, aus denen die bürgerliche Gesellschaft hervorgeht – andererseits betont, daß doch eigentlich der Staat die göttliche Idee auf Erden ist, das Reich der sozialen Sittlichkeit.

Bei Marx-Engels haben wir das Reich der ökonomischen Beziehungen der Menschen als die wahre Wirklichkeit, auf der sich der Staat das politische Leben als die Form der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse erhebt, schon Ideologie gegenüber der Wirtschaft, und darüber als Ideologie schlechthin das Geistesleben. Aber zugleich finden wir betont, daß es darauf ankomme, vermittels des Staates, durch den Staat zu der höheren. Form der menschlichen Gesellschaft zu gelangen.

Wenn man diese beiden antithetischen Systeme synthetisiert, dann hört die einseitige Realitätsskala beider auf – und die drei Glieder des menschlichon Soziallebens: Geistesleben, Staat und Wirtschaft, treten nebeneinander mit Anspruch auf Wirklichkeitsgehalt.

Dem Geistesleben kommt zu die Freiheit, dem Staatsleben die Gleichheit-Allgemeinheit, dem Wirtschaftsleben die Organisation in gesellschaftlich-assoziativer Weise.

Im Geistesleben kommt die verschiedene Individualität zu freier Entfaltung, im Staate leben die Menschen als Gleiche, soweit sie als Gleiche füreinander in Frage kommen können, im Wirtschaftsleben handelt es sich um die zweckmäßige Produktion, den Austausch und Konsum der Waren, die zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Menschen erforderlich sind. So ist eine gewisse Stufenleiter in der Sozialorganisation – aber nicht mehr wegen der Anteilnahme verschiedener übergeordneter Wesen an ihr, sondern weil der Mensch zum Menschen sich verschieden stellt, stellen kann, stellen muß, um das zu erreichen, was er nur in Gemeinschaft mit den andern, nicht aus sich allein heraus erreichen kann.

Die Einheit dieser drei Glieder des Soziallebens liegt nicht in Volksgeistern und Gesetzen der Produktivkräfte, sondern in den Menschen.

Diese soziale Auffassung kann nicht mehr im Staate den Gott auf Erden oder das unentbehrliche Verwirklichungsmittel der notwendigen neuen Gesellschaftsorganisation sehen – sie muß ihn zu entlasten suchen von den Aufgaben, denen er nicht gewachsen ist, muß ihn herausführen aus den Gebieten, die er aus seiner inneren Tendenz auf Gleichheit hin immer vergewaltigt, wenn er sich ihrer leitend bemächtigt: dem Geistesleben und dem Wirtschaftsleben. Sie muß einen Zustand anstreben, in dem 1. das Wirtschaftsleben mit dem Erzeugen von Waren, d. h. Sachgütern zu tun hat, 2. der Staat die Menschenrechte hütet und wahrnimmt, also auch die Versachlichung der Menschen in der Wirtschaft aufhebt und hindert, die die Proletarier revolutioniert hat, 3. das Geistesleben frei von staatlicher Bevormundung auf sich selbst gestellt ist und zeigen kann, was aus dem geisterfüllten Leben der Individualitäten heraus geleistet wird. Dadurch wird das Vorrechtswesen auf dem Gebiete des Staates beseitigt, dem Geistesleben der Charakter einer lebensfremden Ideologie, den es als Departement der Staatsverwaltung hatte und hat, genommen und dadurch werden in den Augen des Proletariers die beiden Glieder des sozialen , Lebens mit Wirklichkeitsgehalt erfüllt, die er wirklichkeitsleer sehen mußte neben dem Gliede, das mit so erbarmungsloser Realität über ihn herging, dem Wirtschaftsleben.

Da die Dreigliederung des sozialen Organismus den Menschen in den Mittelpunkt des sozialen Organismus stellt, ist sie die der Freiheitsphilosophie Rudolf Steiners entsprechende soziale Organisation – sie ist die synthetische Sozialphilosophie, der synthetische soziale Impuls gegenüber Hegelismus und Marxismus.

[Dreigliederung des sozialen Organismus, Jahrgang 2, Nummer 19, November 1920]