Die wahre und die falsche Flagge der Völkerbefreiung

Vom Selbstbestimmungsrecht in Ost und West und in der Mitte. Bemerkungen zu den Memoranden Rudolf Steiners vom Juli 1917

01.07.1967

Quelle
Zeitschrift „Die Drei“
37. Jahrgang, Heft 4/1967, Juli-August 1967, S. 213 – 227
Bibliographische Notiz

Es ist in diesem Sommer ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Rudolf Steiner ein „mitteleuropäisches Programm“ der Völkerbefreiung dem von Woodrow Wilson und der damaligen Entente ausgehenden entgegenstellte. Es geschah dies sozusagen noch in der Stille; denn die beiden Memoranden, die er damals verfaßte, waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wandten sich an die Verantwortlichen im Deutschen Reich und in der Donaumonarchie. Sie waren ausgelöst durch ein konkretes Ereignis: Graf Otto von Lerchenfeld, Mitglied des Reichsrates, war an Rudolf Steiner herangetreten, um ihm aus seiner intimen Kenntnis heraus die ausweglose Lage der deutschen Politik zu schildern. In diese Gespräche wurde dann Graf Ludwig von Poltzer-Hoditz, der Bruder des Kabinettschefs des Kaisers Karl einbezogen.

Die daraus hervorgegangenen beiden «Memoranden» bedeuten das erste Eingreifen Rudolf Steiners in die europäisch-mitteleuropäischen Geschidte, und sie stellen zugleidi die Geburtsstunde der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus dar, welche dann bald nach dem Kriege in breitester Öffentlichkeit dargestellt und wirksam wurde, um allerdings an dem Widerstand restaurativer Kräfte aus allen Lagern zu scheitern. Aber die Idee der Dreigliederung als solche ist nicht tot; denn sie ist kein Abstraktum, sondern sie ist abgelesen an der politisch-sozialen Wirklichkeit und betrifft - wie Rudolf Steiner dann 1919 formulierte - «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft».[1]

Hatte diese Idee mitten in den Auseinandersetzungen des Ersten Weltkrieges eine reale Bedeutung? Darauf kann man antworten: für die damals verantwortlichen Menschen nicht, ihnen mangelte die Kraft des Verstehens; in den damaligen Verhältnissen aber wohl, und die Memoranden zeigen, daß sie wirklich die Kernpunkte in der mitteleuropäischen Sdiicksalssituation des Jahres 1917 erfaßten.[2] Ja, was Rudolf Steiner darin über den Charakter des

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 213]

Krieges sagte und die Folgen einer Verwirklichung der Wilson’schen Ideen, hat durch den Gang der Ereignisse seine Bestätigung gefunden. Dieser Krieg, so heißt es im 1. Memorandum, ist ein Krieg

„unter der falschen Flagge der Völkerbefreiung“, er ist ein Krieg „zur Unterdrückung des deutschen Volkes, im weiteren Sinne zur Unterdrückung alles selbständigen Volkslebens in Mitteleuropa. Entkleidet man das Wilson’sche Programm, das als die neueste Umschreibung aus den Deckprogrammen der Entente hervorgegangen ist, so kommt man darauf, daß seine Ausführung nichts anderes bedeuten würde als den Untergang dieser mitteleuropäischen Freiheit.“ (a. a. O. Seite 344).

Die mitteleuropäische Freiheit, so muß man heute, 50 Jahre nach diesen Aussagen, bekennen, ist untergegangen. Das „selbständige Volksleben“ der Westslawen, die, wie man heute sich gewöhnt hat zu sagen, Ost-Mitteleuropa bewohnen, ferner das Volksleben der Magyaren und eines wesentlichen Teiles des kernmitteleuropäischen Territoriums, ist nicht nur unterdrückt, sondern ist der Gefahr ausgesetzt, zugunsten eines volkstums- und farblosen Proletarismus sogar ausgelöscht zu werden.

Als Rudolf Steiner die Memoranden verfaßte (im Juli 1917), waren die 14 Punkte durch "Wilson noch nicht formuliert. Sie wurden ein halbes Jahr später (am 8. Januar 1918) vor dem Kongreß verkündet, und insbesondere der 10. Punkt enthielt das, wogegen in den Memoranden mit aller Macht bereits angekämpffc war: das Motiv zur Zerstörung der Doppelmonarchie. Wir lesen:

„10. Den Völkern von Österreich-Ungarn, deren Platz unter den anderen Nationen wir sichergestellt zu sehen wünschen, soll die ungehinderte Möglichkeit zu einer autonomen Entwicklung gegeben werden.“

Diese Entwicklung, die dann in den Pariser-Vorortverträgen besiegelt wurde, hatte freilich schon eingesetzt. Österreich-Ungarn befand sich bereits vorher in Zerfall, weil es die Slawenfrage nicht lösen konnte. Im Gegensatz zur politisch-militärischen „Lösung“, in die sich Österreich nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo verstrickte, sprach Rudolf Steiner im ersten Memorandum von der „anderen Handlung“, die fällig war:

„An dieser anderen Handlung hatte sich aber die österreichische Politik seit 1879 verblutet. Besser gesagt: sie hatte sich daran verblutet, daß diese andere Hanlung nicht aufgefunden werden konnte. Man konnte eben der Slawenfrage nicht Herr werden.“ (a. a. O. S. 330).

Das sagte er als jemand, der selber in einem slawischen Dorfe geboren war (1861 in Kraljevec im nördl. heutigen Jugoslavien), und der als junger Mensdi von der Tribüne des Wiener Parlamentes sich in die Bedürfnisse und Forderungen der debattierenden slawischen Abgeordneten gründlich eingelebt hatte. Rudolf Steiner schaute auf die gewaltige Vormacht des Slawentums, auf Rußland und das, was dessen Slawophile und Panslawisten am Balkan, besonders in Serbien an Gewichten ins Spiel brachten und sagte deshalb den in Österreich Regierenden:

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 214]

„Rußland wird immer seinen slawischen Grunddharakter in die Waagschale der Lösung werfen können. Österreich-Ungarn kann diesem Gewichte nur das der Befreiung der Westslawen entgegenstellen.“

Der Kabinettschef Kaiser Karls, der das Memorandum entgegennahm, gab aber die Mahnung, der äußeren Bedrohung und dem inneren Zerfall ÖsterreichUngarns ein lebensvolles Gegengewicht entgegenzusetzen, nicht weiter, sondern ließ das Dokument liegen, bis es zu spät war. Der zehnte der Wilson-Punkte tat indessen als ein höchst brisanter Zündstoff seine Wirkung.

Rudolf Steiner hat in den Memoranden zwar sachlich argumentiert, seine Darstellungen aber immer wieder auch mit eindringlichen Warnworten begleitet. Die geistige Schwäche der Mitte gegenüber der psychischen Kriegführung von Westen her war ihm unerträglich. In diesem Zusammenhang sind seine Darstellungen über Kriegsursachen und Kriegsziele von großer Bedeutung (worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll). Was aber die Völkerbefreiungs- und Friedensparolen Wilsons angeht, so sagte er, ein Bekenntnis zu ihnen seitens der Angehörigen der mittel- und osteuropäischen Völker bedeute ein „logisches Laster“, sie wirkten in der Richtung einer „moralischpolitischen Überrumpelung“, die Mitteleuropa in geistige und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Anglo-Amerikanismus brächte, er sprach von der Absicht im Westen, die „mitteleuropäischen Staatsgebilde zu zermalmen“ und rief an einer Stelle aus: man will uns „zu Schattenmenschen“ machen.

War das übertrieben? Man kann das nicht behaupten, wenn man die anschließende Kettenreaktion überschaut: aus der Unzufriedenheit der Slawen in der Donaumonarchie und dem Versagen der österreichischen Führung ging, dirigiert von Wilsons Leitideen, die Gründung selbständiger Nationalstaaten in Ostmitteleuropa hervor; es entstanden dabei neue Minderheiten- und Grenzprobleme, die ihrerseits - speziell bezüglich Polen und der Tschechoslowakei den deutschen Nationalismus entfachten, so daß schließlich von da aus der zweite Weltkrieg, wenn auch in verbrecherischer Weise, entfesselt wurde. Und das alles endete - zunächst und wohl noch auf absehbare Zeit - in dem Verlust der persönlichen und nationalen Freiheiten in weiten Gebieten Ost- und Zentralmitteleuropas.

„Mitteleuropa braucht wirkliche Freiheit“ hatte es im ersten Memorandum geheißen, und wirkliche Freiheit hätte den Völkern Österreich-Ungarns von deren Verantwortlichen gegeben werden sollen. Das geschah nicht. Wilson aber, so heißt es,

„redet gar nicht von einer wirklidien Freiheit. Die ganze westliche Welt hat von dieser wirklichen für Mitteleuropa nötigen Freiheit überhaupt keinen Begriff. Man redet da von Völkerfreiheit und meint dabei nicht die wirkliche Freiheit der Menschen, sondern eine chimärische Kollektivfreiheit von Menschenzusammcnhängen, wie sie sich in den westeuropäischen Staaten und in Amerika herausgebildet haben.“ (a. a. O. Seite 344).

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Von Freiheit im eigentlichen Sinne, so meint Rudolf Steiner im Grunde, kann in Mittel- und Osteuropa nur die Rede sein, wenn es sich um Befreiung und Freiheit des menschlichen Geistes handelt, der aber nur als individuelles Element auftreten kann. Die Quelle für den Geist, der in die irdischen Verhältnisse eintritt, ist eben nichts anderes als das einzelne Menschen-Ich. Und Geist, der vollbewußt in diesem Ich leben kann, ist in den Gebieten Europas, um die es in den Memoranden geht, immer gesucht worden, insbesondere auch in der Philosophie. Man kann in diesen Gebieten den Geist Goethes und Schillers, Herders, Hegels und Schellings nicht verleugnen, ohne sich selbst in seinem eigenen Wesen zu entfremden. Wenn Rudolf Steiner von Freiheit spricht, so rührt er an diese geschichtliche Substanz Mittel- und Osteuropas, aus der Ende des vorigen Jahrhunderts dann seine eigene «Philosophie der Freiheit» und daraus seine Geisteswissenschaft hervorgewachsen ist.

Jene Kollektivfreiheit aber, die er eine chimärische nennt, ist durch Wilson zu einem Postulat von Weltgültigkeit gemacht worden, und sie hat — im Namen des Selbstbestimmungsrechtes und der Völkerfreiheit (und die ist eben kollektiver Natur) eine geistige Sklaverei heraufgerufen, die ihresgleichen in der Weltgeschichte nicht hat. Ganze Völker, wie die in Polen und in der Tschecho-Slowakei lebenden sind von ihrer eigenen Geistesentwicklung abgeschnitten und der zwangsweisen Indoktrinierung durch eine geistfremde, das Individuelle auslöschende und alles uniformierende Ideologie ausgeliefert worden. Unter der falschen Flagge Wilson’scher Völkerbefreiung kam es zu der von Rudolf Steiner prognostizierten Völkerunterdrückung in Europa, eingeleitet durch die Hybris des Nationalsozialismus in Deutschland und vollendet in der Unterwerfung des europäischen Ostens durch die Sowjet-Union.

Wenn wir diese Entwicklung als Folge der westlichen (Wilson-)Parolen ins Auge fassen, dann können wir aber auch nicht außer acht lassen, in welcher Weise das Motiv des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bei den Machthabern in Ost-Europa gelebt und gewirkt hat. Denn auch dort, und gerade dort, ist dasselbe eines der großen Mittel geworden, um die Herrschaft des alles uniformierenden Bolschewismus über andere Länder und Völker auszudehnen. Im Jahre 1917, als Rudolf Steiner seine Memoranden verfaßte, trat das Selbstbestimmungsrecht weltöffentlich vom Westen her auf. Heute, 50 Jahre nach der russischen Oktoberrevolution, ist aber zu übersehen, wozu dieses Motiv sich im Osten entwickelte, nachdem die bolschewistische Macht sida etabliert und späterhin ausgedehnt ha.t.

Die russischen Sozialisten sind immer auch Revolutionäre gewesen, die nie an etwas anderes dachten, als an die Zertrümmerung des zaristischen Staates und an die gewaltsame Eroberung der Macht. Dabei verließen sie sich aber nicht nur auf die soziale Gärung in der Arbeiterschaft und im Bauernwesen des Landes, sondern sie wußten, daß sie auch die Sprengkraft der nationalen Ambitionen in diesem Vielvölkerstaat einsetzen mußten, der im Zarismus

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nur durch eine straffe Zentralgewalt zusammengehalten wurde. So proklamierte schon der II. Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im Jahre 1903 „das Selbstbestimmungsrecht für alle Völker, die zum Staatsverband gehören.“[3]

Das geschah im Osten intern, im Rahmen der Partei, 14 Jahre bevor Wilson im Westen mit dem Selbstbestimmungsrecht weltpolitisch zu operieren begann. Gemeint war also auch hier von vornherein kollektive Selbstbestimmung und Kollektivfreiheit, keineswegs eine Befreiung des Menschen als solchem. Ja, Lenin selbst tat noch im gleichen Jahre 1903 einen Schritt weiter, durch den mit dem Worte Selbstbestimmung derselbe Mißbrauch in Erscheinung trat, der heute in der kommunistischen Propaganda mit den Worten Freiheit, Demokratie, Befreiung und Frieden getrieben wird.

Selbstbestimmung hat immer mit Freiheit zu tun. Freiheit der Völker kann aber Blendwerk sein, dann nämlich, wenn man das Kollektiv Volk in irgendeinem Erdgebiet äußerlich freimacht, es aber im Inneren durch Unterdrückung des Einzelnen und seine Unterwerfung unter eine Diktatur versklavt. Lenin aber hat das Motiv der Selbstbestimmung auf seine Weise innerlich verfälscht, indem er es zum bloßen Sprengmittel innerhalb der damals bestehenden Zustände in Rußland machte. Ihm ging es nicht um die Befreiung der Völker in ihrem Eigenwesen, es ging ihm schon gar nicht um die Befreiung des Menschen in seiner Individualität, es ging ihm, dem Klassenkämpfer im Sinne des dialektischen Materialismus, einzig und allein um die Zerstörung der Bourgeoisie und um die Machtübernahme in einer sogenannten Diktatur des Proletariats. Er formulierte:

„Die Sozialdemokratie sieht als Partei des Proletariats ihre positivste und wichtigste Aufgabe darin, die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nation zu fördern.“[4]

Nicht lange vor dem ersten Weltkrieg sandte die Partei angesichts der Bedeutung des Motivs der Selbstbestimmung im Zusammenhang mit ihren Umsturzplänen ihren Genossen Stalin nach Wien, damit er die Problematik in dem Vielvölkerstaat Österreich studiere. Daraus ist dann Stalins Schrift «Der Marxismus und die nationale Frage» hervorgegangen (1913 in Wien veröffentlicht), in der es, das Fazit ziehend, brutal heißt:

„Das Prinzip der Selbstbestimmung muß ein Mittel im Kampf für den Sozialismus sein und den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden.“[5]

Selbstbestimmung hat, wie gesagt, immer mit der Freiheit zu tun. Wenn man Selbstbestimmung verheißt und damit Freiheit des Denkens und Handelns, dann aber hinzufügt, daß dies alles einem anderen Prinzip, nämlich dem

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Sozialismus „unterzuordnen“ sei, dann beweist das, daß man sein eigenes Denken korrumpiert hat und das anderer mit korrumpieren will. Freiheit läßt sich niemals unterordnen! Hier schauen wir in eine Seelenverfassung hinein, die krank ist, und die, zur politischen Methode gemacht, geradezu zur Weltkrankheit geworden ist. Und man kann sagen: auf solchem Boden, auf dem man das Höchste des Menschen, nämlich sein Denken verfälscht, wird nie etwas wirklich Menschliches erwachsen. Diese Verhältnisse im kommunistisch gewordenen Osteuropa müssen mitbedacht werden, wenn man andererseits von Rudolf Steiner im ersten Memorandum - nach Westen gewendet über den damals von dort kommenden „Demokratismus“ hört:

„Dieser sogenannte Demokratismus ist ... nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen.“ (Seite 340).

So war im Jahre 1917, welches die Historiker heute ein Jahr der Entscheidung oder der Wende nennen, Mitteleuropa von zwei Seiten her von die eigentliche Substanz verfälschenden Ideologien bedrängt, die, was die eigene Existenz betrifft, unvereinbar waren mit seinen realen Lebensbedingungen. Im Blick auf das Eingreifen solcher Kräfte in das politische Geschehen spricht Prof. Dr. Erwin Hölzle in bezug auf das Jahr 1917 sowohl von einer beginnenden bolschewistischen, wie auch von einer beginnenden amerikanischen Weltrevolution,[6] die beide auf Weltherrschaft hinausgehen.

Was aber die Manipulierung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker durch die Sowjets angeht, so haben sie dasselbe in der Folge zum unmittelbaren Instrument der Weltrevolutionierung und der Ausdehnung ihrer Macht entwickelt, das ihnen bis heute, d. h. bis in den gegenwärtig schwelenden Konflikt im Nahen Osten hinein, vortrefflich dient, gerade durch seine Korrumpierung und durch seine Degradierung zum bloßen Mittel. So sagte Lenin, um nur auf wenige grundlegende Äußerungen aus diesem Machtbereich hinzuweisen, schon im Jahre 1916:

„Selbstbestimmung der Nationen ist dasselbe wie Kampf für vollständige natinale Befreiungen, für volle Unabhängigkeit, gegen Annexionen; und diesen Kampf, in jeder seiner Formen, einsdiließlich Aufstand oder Krieg - können Sozialisten nicht ablehnen, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein.“[7]

Und im jüngsten Parteiprogramm (vom 31. Oktober 1961) wird, von der „KPdSU und dem ganzen Sowjetvolk“ auch für unsere Gegenwart bekräftigt:

„sie erachten es als ihre Pflicht, den heutigen Kampf der unterdrückten Völker und ihre gerechten Befreiungskriege gegen den Imperalismus zu unterstützen.“

Das sind bis heute gültige und erfolgreiche Grundsätze der sowjetischen Politik, und wie die Praxis bei dieser Unterstützung „gerechter Befreiungskriege“

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aussieht, das hat die Niederschlagung der Aufstände gegen ihre (kommunistischen!) Bedrücker in Ostdeutschland 1953 und in Ungarn 1956 weltö ff entlieh demonstriert.

Als Rudolf Steiner im Sommer 1917 all dem gegenüber mit seinem „wirklich menschenbefreiendem Programm“ (a. a. O. Seite 349) die Stimme für M itteleuropa erhob, war den Wenigsten in diesen Gebieten klar, welche zerstörerischen Konsequenzen der so verführerisch klingende Ruf „Selbstbestimmungsrecht und Freiheit für alle Völker“ haben würde. Heute, nach 50 Jahren, könnten sie durchschaut und überschaut werden. Dennoch sind wir von einem wirklichen Durchschauen noch immer weit entfernt. Das aber hängt damit zusammen, daß kein zureichender Freiheitsbegriff in Europa selber Gemeingut geworden ist, von dem aus die innere Verlogenheit einer Selbstbestimmung im Sinne der Kollektivfreiheit entlarvt werden könnte. Die Freiheitstendenz in der Art des amerikanischen „Demokratismus“ hat der Installierung absoluter Unfreiheit bei wesentlichen Völkern der Menschheitsfamilie Vorschub geleistet. Die vielen Osteuropäer sind zwar „autonom" geworden, aber ihre Beherrscher haben, indem sie das freie Denken und Sichäußern verbieten und die Wirtschaft primär nicht zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern zur Stärkung ihrer Staatsmacht benutzen, ihre eigenen Bevölkerungen im Inneren versklavt. Über die Qualität ihrer „Autonomie“ als nationales Kollektiv nach außen hin kann man angesichts der gewaltigen Macht und Autorität, welche die Sowjet-Union über sie ausübt, wohl schweigen.

Wozu rief aber, im Gegensatz zu alledem, Rudolf Steiner vor einem halben Jahrhundert mit der ganzen Kraft eines positiven, zukunftweisenden und konfliktlösenden Gedankens auf?

Österreich-Ungarn, auf das er sich vor allem bezog, war ein Vielvölkerstaat und deshalb - zwar auf kleinem Raume -, ein menschheitliches Modell, sowohl was die vorhandene Problematik wie auch was die Lösungsmöglichkeiten betrifft. Er wollte das Wilson’sche durch ein mitteleuropäisches Programm „schlagen“, indem er, auf die „Befreiung der Westslawen“ hinweisend, sagte:

„Diese Befreiung kann nur unter dem Gesichtspunkte der Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens vor sich gehen, welche das nationale Dasein und alles, was damit zusammenhängt, betreffen. Man darf eben nicht zurückschrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomisierung und Föderalisierung des Volkslebens. Diese Föderalisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorgebildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fortgebildet werden muß bis zur völligen föderalistisch-freiheitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärischpolitischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geographisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind.“ (a. a. O. Seite 330/1).

Was seinen Impuls „in dem Menschen selber“ hat, das betrifft sein Eigenwesen, sein individuell-einmaliges Seelisch-Geistiges, und es betrifft zudem das Volks-

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tum, in dem der Einzelne lebt. Dabei wird, was die Freiheit angeht, der Freiheit der Individualität absolut der Primat gegeben, was freilich nicht heißt, daß das Volkstum in seiner Bedeutung gering geschätzt würde. Aber da innere Freiheit nicht anders entstehen kann als durch die eigene Bemühung und Entwicklung der Individualität, so kann die äußere Freiheit einer Nation nur aus der Freiheitssituation der einzelnen Volksangehörigen - als wahre und nicht chimärische Kollektivfreiheit - erfüllt werden. Darum heißt es im Anschluß an die zitierten Sätze über die „Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens“, welche das nationale Dasein betreffen, weiter:

„Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird.“

Und um die Bedeutung dieses Satzes nachdrücklich hervorzuheben, wurde noch hinzugefügt:

„Strebt man statt des letzteren das erstere an, so stellt man sich auf den Boden des weltgeschichtlichen Werdens.“

Verfährt man aber nicht so, dann „arbeitet man diesem Werden entgegen und legt den Grund zu neuen Konflikten und Kriegen“. Überlassen wir weiter - so muß man nachdrücklich auch in unserer Gegenwart sagen - das NationalVolksmäßige den bloßen Instinkten, die sida als Nationalegoismus ausleben, dann schaffen wir nicht nur weiter Konfliktstoff über Konfliktstoff, sondern wir verstoßen im eigentlichen Sinne gegen ein menschliches Urgrundrecht, das zugleich eine Urgrundpflicht bedeutet: gegen die Würde des Menschen. Denn im naturwissenschaftlichen Zeitalter, das Rudolf Steiner das Zeitalter der Bewußtseinsseele nennt, ist alles, was uns unter die Sdiwelle des wachen und klaren Bewußtseins herabdrückt in Trieb- und Instinktregionen, d. h. in irgendein Kollektiv- oder Gattungserleben, menschenunwürdig. Daß Wilson an die Sphäre der nationalen Instinkte appellierte, als er seine nationale Kollektivfreiheit durch Selbstbestimmung verkündete, brachte Rudolf Steiner als Mitteleuropäer im edelsten Sinne „in Harnisch“. Es ist eine geistige Kampfansage, wenn er im zweiten Memorandum das heute auf dem Felde des Völkerlebens Notwendige in knappster Weise so formulierte:

„Die Völkerbefreiung ist möglich. Sie kann aber nur das Ergebnis, nicht die Grundlage der Menschenbefreiung sein. Sind die Menschen befreit, so werden es durch sie die Völker.“ (a. a. O. Seite 359).

Man wird also in den Freiheitsfragen unserer Zeit nicht einmal einen Anfang machen können, wenn man nicht von der Selbstbestimmung und Freiheit des einzelnen Menschen ausgeht. Eine praktische Konsequenz, ein Anfangmachen erfordert aber:

„Der Mensch muß sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu jedem Zusammenhang, der sich aus seinen allgemein-menschlichen Aspirationen ergibt,

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 220]

bekennen können, ohne daß er in diesem Bekenntnisse von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird.“ (a. a. O. Seite 361).

Die Autonomisierung und Förderalisierung des Volkslebens verlangt in unserem Jahrhundert eine „Dreigliedrigkeit der Staatsstruktur“ (a.a.O . S. 362): eine autonome Wirtschaft, welche gemäß den ihr immanenten Sach-Gesetzlichkeiten arbeitet, also nicht zum Machtinstrument eines nationalegoistischen Staates wird, sowie ein autonomes Geistesleben, zu dem auch die Angelegenheiten gehören, welche aus einem echten Volksleben heraus gepflegt und entwickelt werden sollen. Das dritte autonome Glied ist dann der Staat als solcher, der als reiner (nicht wirtschaftender und auch das Geistesleben nicht macht- und beamtenmäßig dirigierender) Rechts-Staat funktioniert. Das im bundesstaatlichen Wesen Deutschlands „von der Geschichte vorgebildete Modell“ würde dabei eine Metamorphose erfahren. „Autonomisiert“ würden nunmehr nicht physische Territorien, sondern Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rcchtslcbcn; und diese drei Glieder würden, „föderalisiert“, ein Ganzes im menschlichen Zusammenleben bilden können. Was aber das „Geistesleben“ im besonderen angeht, so sagt das Memorandum I:

„Alle juristischen,[8] pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Person gegeben. Auf diesem Gebiet hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklidikeit kann sich nur derjenige an dem hier Gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überläßt es den sadi-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen usw. zu erriditen, und er überläßt es dem Einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen.[8] Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfang wird dies wohl durch die territorialen Grenzen besdiränkt werden müssen,[9] doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze — auch andere — auszugleichen.“

Das österreichische „Modell“ ist nicht zustande gekommen. Rudolf Steiners Anregung verstaubte in K. u. K. Schubladen. Statt voller Kulturautonomie für die verschiedenen Volksangehörigen innerhalb der Habsburger Monarchie brachen sich die instinkthaften Tendenzen nach autonomen Nationalstaaten der Tschechen, Ungarn und der Südslawen Bahn, die, wie erwähnt, unter der „falschen Flagge der Völkerbefreiung“ in einen neuen Völkerkrieg und zuletzt in die Zerspaltung Europas führten. Statt lebendig-organischer Gliederung Europas durch eine Autonomisierung der drei Grundsphären im menschlichen

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 221]

Gemeinschaftsleben - Geistesleben, Rechtsstaat und Wirtschaft - und ihre Förderalisierung zunächst in Mittel-, dann in Ost-Mitteleuropa, ja in Rußland, haben wir die unorganische Zerreißung des Kontinents in statisch-feindliche Blöcke.

Westeuropa und die Vereinigten Staaten sind in den 50 Jahren seit 1917 nicht von der formal-demokratischen Tendenz des nationalen Einheitsstaates losgekommen, der alles und jedes - vom Schul- und Theaterwesen bis zur Wirtschaft - unter seine Fittiche nehmen möchte; und auch ein gewisser monarchischabsolutistischer Einschlag ist manchen nicht fremd. In Osteuropa herrscht die „volksdemokratisch“ (auch in der freien Welt plappert man diesen Pleonasmus unbedenklich nach) verbrämte Diktatur doktrinär verschworener Oligarchien. Mitteleuropa wird den Gedanken lebensvoller Gliederung der großen menschlichen Gemeinschaft ins Spiel bringen müssen, wenn es sich aus den Erstarrungstendenzen monolithischer Einheitsstaatsgebilde ins Freie lebendiger Gemeinschaftsbildung retten und zugleich jenen Völkern sich öffnen will, die in seinem Osten in kollektiver Scheinfreiheit ihre individuelle Freiheit verloren haben.

Da von der Entfaltung neuer, lebensvoller Gedanken, wie sie nur in einem befreiten, auf sich selbst gestellten Geistesleben entstehen und von da aus auch sozial und politisch wirksam vertreten werden können, das Entscheidende für die Zukunft abhängt, sei noch auf die Art und Weise der Gestaltung dieses Lebensgebietes ein Blick geworfen.

Rudolf Steiner spricht, wie oben angeführt, bei der Charakterisierung eines staatsunabhängigen autonomen Geisteslebens von den „sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen“, welche dieses Geistesleben in Selbstverwaltung erfüllen und tragen können. Mit großer Wärme nimmt er sich dieses Gestaltungsprinzipes speziell für das Kulturleben an, wenn er von der notwendigen Rückkehr „zum guten alten, uralten Prinzipe der freien Korporierung“ spricht. Die Wirklichkeit, die aus den wahren Volkskräften in Mitteleuropa spricht, schreibt vor, so sagt er

„bezüglich aller religiösen und geistig-kulturellen Angelegenheiten, wozu auch das Nationale gehört, Verwaltung durch Korporationen, zu denen sich die einzelne Person aus freiem Willen bekennt...“ (a. a. O. Seite 351).

Zur Gliederung des sozialen Gesamtorganismus tritt also ein weiteres Gliederungsprinzip für das Feld der Kultur, das alles Bildungswesen, die Pflege der Künste und auch das Religiöse umfaßt.

Mehr als vor 50 Jahren zeigt sich heute —jedenfalls in Deutschland - ein Verständnis dafür, daß die urmenschlidien Anliegen der Kunst, Wissenschaft, Bildung und Religion nicht staatlicher Initiative und staatlicher Verwaltung überlassen werden dürfen, sondern von den einzelnen Menschen, die sich in Freiheit in entsprechenden Korporationen oder Vereinigungen zusammenschließen, inauguriert und getragen werden müssen, wenn sie nicht einem Element der Ent­

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 222]

fremdung ihrer selbst verfallen sollen. Das gilt z. B. für die Kirchen, welche die Einbuße an religiöser Kraft empfinden, die aus der Liierung mit dem Staate resultiert, das gilt auch für das Schulwesen, innerhalb dessen gerade in jüngster Zeit sich die Stimmen mehren, die sagen, daß es der Menschenbildung nur förderlich sein könne, wenn neben die staatlich reglementierten mehr und mehr freie, aus unmittelbar menschlich-erzieherischen Motiven entspringende Schulen treten würden.

Solche Korporationen oder auch Trägervereine freier kulturell-geistiger Unternehmungen sollen nach Rudolf Steiner „Privatsache“ sein, „in die sich keine Behörde oder (parlamentarische) Vertretung“ zu mischen hat. Aber dann wird noch eine weitere Konsequenz gezogen, welche für eine von Europa ausgehende Völkerbefreiung durch Menschenbefreiung von großer Bedeutung ist:

„Für wen es ein saurer Apfel ist, daß von soldien Gesichtspunkten aus alle gestigen Kulturangelegenheiten künftig der Privilegierung entbehren müssen, der wird eben in diesen sauren Apfel beißen müssen zum Heile des Volksdaseins.“ (a. a. O. Seite 351).

Wer z. B. Menschenerzieher sein kann, das darf nicht vom Staate bestimmt werden, der in allen geistigen Angelegenheiten lediglich das „Polizeirecht“ hat (S. 342) und die Pflicht, in der Wahrung des Gesetzes für äußere Ruhe und Ordnung zu sorgen.

„Bei der immer weitergehenden Gewöhnung an diese Privilegierung“, so heißt es dann weiter, „wird man ja in vielen Kreisen schwer einsehen, daß man auf dem Wege von der Privilegierung gerade der geistigen Berufe zum guten, uralten Prinzipe der freien Korporierung zurückkehren muß. Und daß die Korporation zwar einen Menschen in seinem Berufe tüchtig machen soll, daß man aber die Ausübung nicht privilegieren, sondern der freien Konkurrenz und der freien menschlidien Wahl überlassen muß.“ (a. a. O. Seite 351/2).

Wenn auch die Verblockung allen Lebens in den nationalen Einheitsstaaten im Zunehmen begriffen ist, so sind doch zweifellos im „freien Westen“ noch genügend Ansätze zu freier Korporierung vorhanden, und es gibt noch immer Ohren dort, die vernehmen können, was gemeint ist, so daß solche Prinzipien, wie sie Rudolf Steiner in seinen Memoranden vertritt, auf ihre Berechtigtheit hin geprüft werden können. Schwerer ist das in den kommunistisch beherrschten Ländern. Denn es ist dort bei den Maßgebenden bis heute ehern gültig, was bei der Revolutionierung Rußlands schon im April 1917 in der VII. Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, ganz in Lenins Sinne, entschieden worden ist:

„Die Partei des Proletariats lehnt die sogenannte ,nationalkulturelle Autonomie' ab, bei der das Schulwesen usw. der Zuständigkeit des Staates entzogen ... wird.“[10]

Das ist deutlich, ebenso wie die politischen Machtgründe, die zu solcher Entscheidung führten. Aber wir sollten nicht übersehen, daß in der Sowjet-Union

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 223]

selber kraftvolle Tendenzen zur Autonomisierung des Geisteslebens vorhanden sind, wie der Kampf vieler Schriftsteller um Geistes-, Schaffens- und Publikationsfreiheit beweist.[11]

Europa steht heute in einem ungeheuren Kampfe, in dem die Frage „Kapitalismus oder Kommunismus? “ (insofern er das Privateigentum an den Produktionsmitteln verneint) vordergründig ist. Es geht um die Grundordnungen der menschlichen Gemeinschaft, also nicht nur um eine soziale, sondern um eine politische Frage im höchsten Sinne. Der westliche „Demokratismus“, welcher immerhin der Freiheit der Individualität noch Spielraum läßt, ist keine Lösung; denn er ist weitgehend der Tendenz erlegen, das Leben der Menschen zentral von einer Stelle, dem politischen Staate aus zu regulieren. Und es ist dazu unverkennbar, daß er - trotz der politischen Feindschaft, welche mit den Machtverhältnissen der „Blöcke“ zusammenhängt - fortschreitend mehr Züge eines totalitären Systems annimmt. Aber auch der zentralistisch-totalitäre Sowjet-Staat (und sein Abklatsch in Ostdeutschland) ist keine Lösung; demi er ist mit dem Odium der Unfreiheit seiner Bewohner behaftet. Lenins Worte aus dem Jahre 1913

„Der zentralistische große Staat ist ein gewaltiger Fortschritt von der mittealterlichen Zersplitterung zu der kommenden sozialistischen Einheit der Welt, und es gibt und kann keinen anderen Weg geben als den über einen solchen Staat.“

gelten noch immer als Axiom bei denen, welche die Gewalt über die osteuropäischen Völker ausüben. Europa muß sich auf eine eigene Lösung der höchsten Frage, welche an die heutige Politik geriditet ist, besinnen: „Wie sind größere Ganzheiten - von engeren Gemeinschaften über die Völker bis hin zu einer Menschheit - möglich unter voller Entfaltung und Wahrung jener Ganzheiten, welche in der Einzigartigkeit jeder menschlichen Individualität gegeben sind?“

Die gleichzeitige Berücksichtigung der größeren Ganzheit der Gemeinschaften und der Ganzheiten der einzelnen Menschen ist aber nicht möglich, wenn die größeren Ganzheiten auf beherrschende Einheit hin veranlagt und in zentralistischer Weise gelenkt werden. Das ist nur möglich, wenn man an eine lebensmäßige Gliederung denkt, welche berücksichtigt, daß Wirtschaft, Staat und Geistesleben eigenständige Gesetzmäßigkeiten innewohnen, die nicht ohne Schaden vergewaltigt werden können, so daß es also um eine Dreigliederung der größeren Ganzheit geht: um Autonomisierung der Glieder, welche in den drei großen Lebensbereichen bestehen und um Föderalisierung dieser Drei in der Einheit eines sozialen Gesamtorganismus.

Das ist das Anliegen der Memoranden Rudolf Steiners aus dem Sommer 1917. Sie haben ihre Fortsetzung und weitere Ausarbeitung gefunden in den 1919 erschienenen «Kernpunkten der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft».

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 224]

Die Memoranden umrissen zum erstenmal ein - wie es damals genannt wurde „mitteleuropäisches Programm“, das zunächst den wilsonisch-westlichen Rufen nach nationalen Einheitsstaaten entgegengestellt werden sollte. Die „Kernpunkte .. .“ von 1919 sind verbunden mit einem «Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt», der - im Gegensatz zu den Memoranden für die damals Regierenden - sich an die weiteste Öffentlichkeit wendete. Auch dieser zweite Ruf ist verhallt. Man kann aber angesichts der Tendenzen, via Wirtschaftsmacht und Parlamentarismus Europa total zu verwestlichen, andererseits angesichts der Tendenz, es ebenso total zu bolschewisieren, das Gefühl haben: heute ist ein dritter Ruf notwendig, eine Metamorphose aus dem „mitteleuropäischen Programm von 1917“ in ein „europäisches Programm von 1967“. Denn es sind zwar nicht die Einkleidungen und Anknüpfungen an die Geschehnisse von 1917 mehr akut, sondern deren unglückliche Folgen, deren wir täglich ansichtig sind. Aber die „Kernpunkte“ jener Memoranden gelten auch für unsere Gegenwart und ohne Zweifel auch für eine weitere Zukunft.

Und Rudolf Steiners Gliederungs- und Dreigliederungsgedanke als Antwort auf die immer zum Monolithischen neigende und heute in stetiger Zunahme begriffene Staatsomnipotenz, steht gerade auf dem deutschen Schicksalsboden in einer zwar verschütteten, aber dem wahren Volkswesen entsprechenden und fruchtbaren Tradition. Otto von Gierke, der große Rechtsgelehrte und geistige Anwalt eines freien Korporationswesens hat in seinem großen Werk «Das deutsche Genossenschaftsrecht»[12] auf einen gewaltigen autonomen Strom sozialer und politischer Gestaltungskraft hingewiesen, der von den Anfängen her durch unsere Geschichte ging, der Blüten wie die Markgenossenschaften, die frühen Städteverfassungen und freien Einungen (Innungen und Gilden) hervorbrachte, um schließlich aber gegenüber der rigoros zunehmenden wesensfremden Staatsautorität fast gänzlich zu versiegen. Gierke sagt im ersten Band des erwähnten Werkes:[13]

„In der alten Genossenschaft gab es keine von der Summe aller Volksgenossen verschiedene Einheit. Die Abstraktion eines Staates oder eines Gemeinwesens war unbekannt. In Alle war die Einheit zerstreut; wenn Alle zusammen waren, dann und nur dann konnte diese Einheit wollen und handeln... Kein Gesetz gab es über dem Volk: nur ein in allen lebendiges Volksrecht bestimmte sein Leben. Der Gesamtheit aller Genossen immanent waren der Friede, die Gewalt, das Besitztum, welche der Gemeinschaft entsprangen.

Um vieles früher als unser Volk gelangte das Altertum zum Staatsbegriff: aber die von ihm wunderbar früh vollzogene Abstraktion war eine einseitige und führte zum Untergang alles individuellen Redites in der idealen, aber despotischen Staatseinheit. . . . Kühnheit des Gedankens, Fügsamkeit für gewaltige und glänzende Formen, bewunderungswürdige Schnelligkeit der Bildung und eherne Konsequenz zeichneten diese Staatsidee aus und zeitigten ihre herrlichsten Blüten.

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 225]

Und doch konnte sie, so hoch sie die bürgerliche Freiheit stellte, keine allgemeine und dauernde Freiheit erzeugen, weil sie der individuellen Freiheit vergaß.“

Und weiter sagt Gierke:

„Unklar und ungefügig blieb lange der germanische Gedanke; spät vermochte er erst sich zum Begriff der idealen Einheit zu erheben; wudiernde Auswüchse trieb er: aber eine unvergängliche Kraft, eine gewaltige Tiefe, eine Macht zu versöhnen und zu vermitteln, wohnte ihr inne. Erst nach Jahrtausenden und nicht ohne aus der antiken Ideenwelt zu schöpfen, kamen die Germanen zum Staatsbegriff, schieden sie die unsichtbare Einheit des Volkes von seiner Vielheit oder seinem Herrn: aber diese Einheit trat ihnen nunmehr nicht als eine luftige Abstraktion außer und über das Volk (entgegen), sondern blieb dem Volke immanent, wurde als die zu rechtlidier Gestaltung gelangte Volkspersönlichkeit selber erkannt; und nicht der Untergang des Individuums im Staat, sondern seine vollste und freiste Entwicklung soll durdi die harmonische Verbindung bürgerlicher und individueller Freiheit erstrebt werden.“

Man sieht, daß Gierke den Unterschied von kollektiver und individueller Freiheit erfaßt hat. Er spricht von der nötigen „Versöhnung“ beider und von einem Weg, „dessen Ziel noch immer weit vor uns liegt.“ Hundert Jahre, nachdem diese Zeilen geschrieben wurden, liegt dieses Ziel der Versöhnung noch weiter vor uns in der Zukunft als jemals, und zwischen heute und damals liegt der wahnsinnige Versuch der totalen Verstaatung unseres Volkes.

Die frühen Bindungen in Blutsgenossenschaften, Gemeinden und Berufskorporationen sind aufgelöst, und das Volk der europäischen Mitte ist zerspalten. Die gleichsam gottgegebene genossenschaftliche Kraft aus der Frühzeit ist aufgezehrt; es bedarf einer neuen „genossenschaftlichen“ Idee, aus der, im individuellen Menschengeiste bewußt und neu geschöpft, die Kraft zu neuer Gestaltung der Gemeinschaft hervorgehen kann. Diese Idee ist seit 1917 in der Welt. Sie arbeitet heraus: was nötig ist, ist nicht die Kollektivfreiheit von Völkern, sondern die Freiheit der inzwischen voll mündig gewordenen Iche oder Individualitäten, die in voller Einsicht in die Lebensbedingungen eines größeren Ganzen und in freiwilliger Weise sich neu korporieren: brüderlich in wirtschaftlichen Assoziationen, gleich zu gleich auf dem Boden des Rechtsstaats und frei, keiner staatlichen Dirigierung unterworfen, im Geistesleben, aus dem heraus das Leben der Menschen fort und fort neu befruchtet werden kann.

Hier ist die Fahne zu wirklicher Völkerbefreiung in Europa, die sichtbar werden muß nach Osten und Westen. Sie muß wehen, von freien Individualitäten in freien Völkern getragen, auf einem Wege, der immer mehr und mehr durch eine sich ausdehnende Menschlichkeit in eine sich selber verstehende und tragende Menschheit hineinführt.

Dabei ist es unsere Überzeugung: der Teil des deutschen Volkes, der in den westlichen Gebieten wohnt, kann auf die Dauer nicht leben - die heutige Krise beginnt es deutlich zu machen -, ohne zu Taten durch das Schaffen

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 226]

neuer Ordnungen zu kommen. Ordnungen, welche besonders den osteuropäischen Völkern, unsere Landsleute im Osten eingeschlossen, unmittelbar einleuchtend machen: die kommunistische „Humanität“, die von ihren Beherrschern betont in Anspruch genommen wird, ist nicht human; denn sie unterdrückt das höchste Menschliche, das freie Denken und Handeln der zur Freiheit geborenen Individualität. Und weiter: Die Fahne der Humanität muß wehen über einem neuen Europa, in das hinein wir die geschichtliche Metamorphose zu bewirken haben, in welcher das freigewordene Ich und die Gemeinschaft sich versöhnen. Rudolf Steiners Memoranden von 1917 waren der erste geschichtliche Schritt in dieser Richtung.

[Die Drei, 4/1967, Juli-August 1967, Seite 227]

Anmerkungen

[1] Dies ist der Titel der grundlegenden Schrift Rudolf Steiners, welche heute als Neuauflage (im 81. bis S5. Tausend) im Rahmen der Gesamtausgabe vorliegt (Dornach 1961).

[2] Siehe die Wortlaute in dem Bande «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage. 1915-1921». (Dornach 1961).

[3] Siehe Boris Meissner «Sowjet-Union und Selbstbestimmungsrecht» in der Sammlung «Dokumente zum Ostrecht», Köln 1962. Seite 151.

[4] Meissner a. a. O. Seite 151.

[5] Meissner a. a. O. Seite 258.

[6] Siehe seinen diesbezüglichen Beitrag in dem Buche «Weltwende 1917». Für die Ranke-Gesellschaft herausgegeben von Helmut Rößler. Musterschmidt Verlag Göttingen. 1965.

[7] Siehe Meissner a. a. O. Seite 230.

[8] In einem dreigegliederten sozialen Organismus würde die Rechtsprechung zum autonom verwalteten Geistesleben gehören, Strafvollzug und Gesetzgebung hingegen würden in die Funktion des demokratischen Rechtsstaates fallen.

[9] Wenn das „Nationale“ - etwa in der Literatur oder der bildenden Kunst - sich autonom in einem freien Geistesleben auswirkt, ohne vom Staate machtmäßig-politisch benützt (d. h. zumeist: stranguliert) zu werden, dann bekommen auch „Grenzen“ eine andere Bedeutung. Geist und Wirtschaft kennen ihrer Natur nach überhaupt keine Grenzen. Polnisches, tschechisches und deutsches Kulturleben müssen sich schranken- und grenzenlos von Mensch zu Mensch begegnen können.

[10] Siche Meissner Seite 203.

[11] Vgl. den Bericht über den IV. sowjetischen Schriftstellerkongreß auf Seite 258 dieses Heftes.

12 Otto von Gierke «Das deutsche Genossenschaftsrecht». Unveränderter Nachdruck der ersten Ausgabe von 1868 in vier Bänden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1954.

13 a. a. O. Band I «Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft», Seite 45/6.