Individuelle Freiheit und soziale Gemeinschaft

Soziale und antisoziale Impulse

Der ungelöste und scheinbar unlösbare Gegensatz von individueller Freiheit und sozialer Gemeinschaft ist die eigentliche Ursache der unzähligen Fragwürdigkeiten unseres heutigen gesellschaftlichen Daseins, ist das Zentralproblem unserer Zeit. Und doch wissen wir instinktiv: Die beiden Begriffe gehören zusammen; auf sozialem Feld ist dieser Gegensatz paradox, weil er die Grundlage der sozialen Gemeinschaft und damit auch die individuelle Freiheit zerstört. Der Ost-West-Gegensatz ist eine solche politische Paradoxie von Freiheit und Sozialismus.

Die andere Antithese: Soziale und antisoziale Impulse oder Triebe kann man anders, nämlich als rätselhaft erleben - als das Zentralproblem schlechthin des menschlichen Charakters. Ist es nicht so, daß der Mensch damit gegensätzliche Kräfte in sich hat, durch die er sich selbst und die soziale Ordnung zerstört? Wird das Ende der Kampf aller gegen alle sein?

Alle Welt spricht von Aggression. Die Tierforschung fand diesen Begriff für bestimmte Verhaltensweisen bei der Bildung von Tiergruppen. Seitdem ist es Mode geworden, die Aggression auch als menschliche Verhaltensweise zu untersuchen und in der Gruppenbildung bestätigt zu finden. Die Aggression ist dadurch zum Problem Nummer eins für die soziologische und psychoanalytische Spekulation geworden und ein beliebtes Schlagwort für die populäre sozialwissenschaftliche Volksverbildung: "Wieviel Aggression können wir uns noch leisten?" 1

Zu den soziologischen Experimenten, die sich schon so "tierforscherisch liebevoll" mit dem Arbeiter in der Industriearbeit befassen, ist damit noch die sogenannte "Gruppendynamik" gekommen. Dabei spielt die Aggression im Verhalten innerhalb der Gruppe eine dominierende Rolle. Karl Heymann berichtete unter dieser Überschrift im Goetheanum Nr. 45/1969: "Wenn man dabei versucht, in spontaner Weise eine Unterhaltung zustande zu bringen, dann folgt, wie diese Experimente zeigen, die Unterhaltung bestimmten Regeln. Gleich am Anfang versucht jemand aus dem Kreis, die Führung des Gesprächs an sich zu bringen. Diesem Anspruch fügen sich dann einige Teilnehmer ohne weiteres. Bald greift aber einer der Mitwirkenden als Opponent ein. Hierauf beginnt sich eine Parteiung unter den Teilnehmern abzuzeichnen." - Aus einem solchen "Trainingskurs für Gruppendynamik" wurde mitgeteilt, daß selbst mit dem Ziel einer übenden

Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit für zwischenmenschliche Beziehungen an entscheidender Stelle doch wieder das "Grundschema" der Gruppendynamik auftauchte: Jeder Vorschlag versandete durch sofortige Gegenzüge, hinter denen Aggressionen lauerten. Allein: noch spielte sich der Kampf um Führungspositionen, um Macht unter der Oberfläche freundlich-sachlich getönter Gespräche ab." Und dann etwas Beunruhigendes: "Diese Gruppenarbeit mit Gesunden ergab binnen kurzem für einige Teilnehmer schwerste Belastungen. Andere Trainingsgruppen bedurften anschließend psychiatrischer Behandlung."

Behalten wir diese Tatsachen einstweilen im Bewußtsein und untersuchen zunächst das Begriffspaar "sozial und antisozial" des Themas mit der Frage im Hintergrund: "Welcher Bereich des menschlichen Wesens wird durch solche Versuchsanordnungen in Wirklichkeit angesprochen? Wie verhalten sich dazu die "Menschenwürde" und die "Persönlichkeitsentfaltung" nach Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik?" 2 Wer ist wirklich dieser Mensch? - Derjenige, mit dem man wissenschaftlich experimentiert, oder das autonome Subjekt einer freien demokratischen Gesellschaft?

Die heutige Soziologie und Biologie können mit der Terminologie "soziale und antisoziale Impulse oder Triebe" nichts Rechtes anfangen. Sozial - das glaubt man zu verstehen. Aber antisozial? Was nicht sozial ist, das ist eben unsozial. Und dann gibt es noch asoziale Elemente, die sozusagen aus der Gesellschaft herausfallen. Warum also soziale und antisoziale Impulse? Ist antisozial doch etwas anderes als unsozial?

Mit den Worten "sozial und antisozial" ist, wie wir sehen werden, gerade ein wichtiges soziologisches Begriffspaar gegeben, ohne dessen grundlegendes Verständnis- man schlechterdings heute exakte und nützliche Gesellschaftswissenschaft nicht treiben kann. Denn, als

Doppelbegriff führt "sozial und antisozial" zentral hin zu der Frage: Welches ist die geistige Verfassung dieses heutigen Menschen, der im Zusammenleben Aggression entwickeln und als antisozial erleben muß?

Zweifellos kommt man unter dem Einfluß der heute herrschenden allgemeinen, ideologischen und wissenschaftlichen Meinung gar nicht auf die Idee, sozial und antisozial als zwei gleichberechtigte Kräfte im sozialen Leben zu betrachten. Aber nicht nur um zwei gleichberechtigte Impulse allein handelt es sich, sondern um zwei entwicklungsnotwendige, sozialschöpferische Impulse, und das ist nicht ohne weiteres einzusehen. Sozial ist ja nicht nur das Schlagwort für alle sozialistischen Bewegungen, sondern allgemein schon sozusagen ein Modewort, so daß antisozial notwendigerweise einen Beigeschmack von Antipathie hat. Und so ist auch für die Sozialwissenschaft antisozial ein negativer Begriff und nur sozial das Positive, das allein als eine künftige Struktur der Gesellschaft wissenschaftlich eine tragende Bedeutung haben muß, seit der naiv weltanschauliche Sozialdarwinismus nicht mehr so wissenschaftlich unantastbar ist wie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts.

Mit dieser Fragestellung von sozial und antisozial beginnt eigentlich das, was man die Grundwissenschaft der Soziologie nennen sollte; denn, antisoziale Impulse liegen ganz offenbar ebenso im Wesen des Menschen wie soziale Triebe. Antisozial ist eben nicht identisch mit unsozial, sondern ein ebenfalls selbständiger Trieb.

Und jede sozialistische Bewegung ist gescheitert oder wird scheitern, wenn sie ihre gesellschaftlichen Vorstellungen nur auf den sozialen Trieb glaubt gründen zu können, denn sie ist dann als "Sozialismus" allein - gesellschaftliche Utopie.

Unter dem Einfluß solcher utopischer Elemente in den sich bekämpfenden Gesellschaftsideologien kommt man heute schon gar nicht darauf, daß sozial und antisozial nicht Alternativen sind, sondern eine Zusammengehörigkeit bilden - eine Polarität, die ihren Sitz tief im Wesen des Menschen selbst hat.

Tierpsychologie oder geisteswissenschaftliche Menschenkunde?

Aus den Experimenten der Tierpsychologie entstand, wie gesagt, in der Biologie der Begriff der Aggression als eine bestimmte Verhaltensform in der Tiergruppenseele. Aus der Gruppendynamik möchte man tierähnliche seelische Reaktionen, in dem menschlichen Verhalten herauslesen, die dann mit dem berechtigten antisozialen Impuls identifiziert werden. Das liegt ja so nahe, weil man wissenschaftlicherseits im Menschen instinktiv immer noch das höher entwickelte Säugetier sieht und weil für das spezifisch Menschliche der Blick fehlt. Ist dies nicht der tiefere Grund der heillosen Verwirrung in der Psychologie und Soziologie überhaupt, durch die eine wirkliche Anthropologie nicht entwickelt wurde? Müssen sich hier nicht Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft begegnen, damit Anthroposophie beide vereinigen und das wissenschaftliche Unterscheidungsvermögen schärfen kann?

Als nach dem Ersten Weltkrieg auch in Mitteleuropa die sozialistischen Theorien zu sozialistischen Experimenten führten (wie 1919 die "Räterepublik" in Bayern), hielt Rudolf Steiner zwei Vorträge, in deren Mittelpunkt diese Polarität von sozial und antisozial steht. 3

Im Vergleich zu dem, was damit die Geistesforschung dem Verständnis zumutet, erscheint es sehr einfach, geradezu simpel, wenn sowohl in der sozialistischen wie auch in der liberalistischen Ideologie gefordert wird, daß das einseitige Gesellschaftsdogma - Liberalismus oder Sozialismus - zum alleinherrschenden bestimmt wird; doch, zeigt der permanente soziale Konflikt, daß die soziale Wirklichkeit komplizierter ist, als die politischen Programme vorgeben. Kann uns da die Aussage Steiners nicht trotz anfänglicher Schwierigkeit eine Hilfe sein? -

Der soziale Trieb als elementare Kraft

Die Menschen sind, als Individualitäten heutzutage außerordentlich verschieden. Das wird niemand bestreiten, ist doch die individuelle Verschiedenheit das heute im Zusammenleben am meisten Bestimmende, während das gruppenbildende instinktive im Laufe der Entwicklung mehr und mehr zurücktrat. Das heißt, als eigenständige Individualität ist der heutige Mensch - antisozial. Zu der individuellen Verschiedenheit kommt aber - heute gleichsam unter dieser individuellen Verschiedenheit liegend - als ein Gemeinsames, Angemeinmenschliches, was uns gar nicht voll zum Bewußtsein kommt, die Soziabilität - der soziale Trieb, der "als Kraft von Mensch zu Mensch wirkt, eine Kraft, die wirkt, wenn wir einander begegnen, wenn wir im Alltag einander gegenüberstehen. Das ist eine instinktive Kraft, durch die es unmöglich ist, selbst in Gedanken und Empfindungen, in allem, was wir miteinander oder füreinander tun, gleichgültig zu bleiben im Begegnen, im Gegenüberstehen von Mensch zu Mensch. Eine Kraft ist da wirksam, eine elementare Kraft, durch welche eigentlich das erst entsteht, was man "das soziale Leben" nennt und durch das es besteht in der unendlichen Verstrickung, Verknüpfung, Verkettung der bewußten und instinktiven Verbindung der Menschen mit- und untereinander". (So wird diese soziale Impulsivität von R. Steiner beschrieben.)

Wo hat diese elementare Kraft ihren Ursprung? Das müssen wir wissen: einerseits, um das Soziale, das noch instinktive in eine soziale Wissenschaft verwandeln zu können, und andererseits, um ein soziales Bewußtsein, ein Bewußtsein für die Tatsache und Notwendigkeit dessen, was heute undeutlich Aggression genannt wird, und für ihre Überwindung zu entwickeln. Das ist ja das Zentralproblem: Wie bändigt man die Aggression, ohne im Zusammenleben gleichzeitig die Individualität zu vernichten? Denn wie dies geschieht, hat dieses Jahrhundert gelehrt!

Daß diese soziale Kraft wirksam, instinktiv wirksam ist im tagwachen Verkehr der Menschen miteinander, hat seine Ursache darin, daß wir auch schlafen müssen, und daß wir sie aus dem Schlaf in das bewußte Tagleben im Verkehr mit den Mitmenschen hereinbringen als diese allgemein-menschliche, soziale Kraft, eine Kraft, die im Gegensatz steht zu dem individuellen Anders-Sein jedes Menschen, dem bewußten Eigensein, zu der Differenziertheit, mit der wir uns als Menschen begegnen und miteinander auskommen müssen. Damit treffen zwei, und zwar polare Kraftwirkungen in der Begegnung aufeinander. Wie sie aufeinandertreffen, das macht, daß dabei Verhaltensweisen, Empfindungen, Handlungen auftreten, die als Gegensatzpaare erscheinen von unsozial, aggressiv, selbstisch einerseits und sozial, aufopfernd, selbstlos andererseits, welche das soziale Leben erst bewirken und seine Ordnung zu einem Mittelpunktproblem unserer Zeit und der Gesellschaftswissenschaft machen. Wie wirken diese polaren Kräfte, die in jedem Menschen da sind, ob wir wollen oder nicht, ob wir sie verschwinden lassen möchten durch Konvention, Sitte, Moral, Postulate, gesellschaftlichen Zwang oder aber, ob wir sie vermenschlichen durch individuelle Disziplin, Ethik, Kultur? Gegensätze, die nach soziologischer Auffassung zum sozialen Konflikt, zum Umsturz oder zur Resignation durch Anpassung führen müssen.

Man muß sich schon ein wenig im Denken stark machen, wenn der Geistesforscher sagt, daß diese soziale Kraft - diese allgemein, aber unter der Decke des sich im Tagesbewußtsein festigenden Selbstbewußtseins wirkende Kraft -, daß diese Kraft in der Begegnung der Menschen die Tendenz entwickelt - wohlgemerkt: die Tendenz! -, auf das Gegenüber "einschläfernd", sein Selbstbewußtsein dämpfend, zu wirken; und daß darin eine notwendige Kraft deswegen liegt, weil sie dadurch im gegenseitigen Verkehr das Vorstellungsvermögen erst fähig macht, die sozialen Triebe wirksam werden zu lassen. (Rudolf Steiner bezeichnet diese okkulte Beobachtung und Erfahrung als "frappierend"; und das ist sie für jeden, der in dieser Weise den Fragen des sozialen Lebens auf den Grund zu gehen sucht.) Beide Triebe werden also erst in der Begegnung sozial wesenhaft, schöpferisch.

Nimmt man diese Mitteilung als sozialwissenschaftliche Arbeitshypothese, dann erweist sie sich als außerordentlich fruchtbar für die Lösung der sozialen Probleme. - Solange wir im Schlafzustand leben, ist das Selbstbewußtsein ausgelöscht; das erfahren wir tagtäglich; der Schlaf läßt uns aber zugleich untertauchen in das Allgemein-Menschliche oder das Soziale schlechthin. Gäbe es nur dies letzte, nur diesen schlechthin "sozialen" (Schlaf-) Zustand, dann gäbe es keine Entwicklung des Menschen zur Freiheit - abstrakt gesprochen -, d. h konkret: keine Herausbildung der individuellen Geistigkeit, des individuellen Selbstes des Menschen. - Wir brauchen das tägliche Untertauchen in unseren physischen Leib, um Ich-Bewußtsein, Eigensein zu entfalten und damit die Tatsache in unserem eigenen Bewußtsein und für das soziale Leben und Tun zu verifizieren, daß wir als Individuen ein eigenes Selbst haben; daß wir als geistige Individualitäten gleichsam dasselbe sind wie eine ganze Tiergruppe und nicht vergleichbar mit dem einzelnen Tier. Und wir können dieses Selbst nur dadurch zu immer größerer Freiheit, Selbständigkeit und Mündigkeit entwickeln, daß wir unter anderen Ichen in Gemeinschaft leben oder - am Ich des anderen erst zum vollen Bewußtsein des eigenen Selbst gelangen. Dazu brauchen wir die Gemeinschaft ebenso wie zu unserer physischen Existenz! Und dieses Aufwachen am anderen geschieht dadurch, daß sich der Mensch in der Begegnung fortwährend sträuben muß, aufbäumen muß, sagt Rudolf Steiner, "ja sich fortwährend aufbäumt" gegen die unterschwellige Tendenz, einen "sozialen", d. h. einen unindividuellen Zustand mit den anderen herbeizuführen, indem es das Aufbäumen des anderen Selbstes unterdrückt. Kann damit ein klärendes Licht auf das fallen, was in der Gruppendynamik als Erfahrung auftritt? Ich möchte es zum Weiterdenken mit wenigen Sätzen versuchen. -

Die Frage war schon gestellt: wie verträgt es sich mit der Würde des Menschen und seinem Persönlichkeitsstatuts, wenn in der experimentellen Gruppendynamik Verhaltensformen zu tage treten, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Ergebnissen der Tierverhaltensforschung nahelegen? Wo bleibt da die geistige Individualität, das Selbst, die Autonomie des Ich, die in den sozialen Forderungen nach Selbstbestimmung und sozialer Selbstverwaltung heute so stürmisch hervortritt? - Zu der spezifischen Versuchsanordnung in der Gruppendynamik gehören zwei Dinge: daß die Gruppe sich mehr oder weniger willkürlich und zufällig zusammenfindet und man ebenso zufällig und willkürlich ein Gespräch in Gang bringt, von dem jeder Teilnehmer weiß, daß es auf Tonband aufgenommen wird. Schon durch diese Ausgangssituation ist der Vorgang als ein Leer-Experiment ge kennzeichnet, durch welches das individuell Menschliche der Teilnehmer von einem sozialen oder individuellen Sinn und Zweck aus gar nicht angesprochen wird. Die Gruppe ist genauso Mittel und Zweck für den beobachtenden und analysierenden Experimentator wie die Tiergruppe Mittel und Zweck für den Tierverhaltensforscher. Man schafft künstlich eine verfremdete menschen widrige Situation, in welcher nur die instinkthaften animalischen und pathologischen Untergründe zum Gegenstand der Forschung gemacht werden; die geistige Individualität wird durch den Versuchszwang und die Nichtigkeit des Gesprächs ausgeschaltet. Der Mensch wird sofort in seinem Menschsein als Persönlichkeit, als Subjekt reduziert, beeinträchtigt, ja sogar gestört, wenn er nun durch solche Versuche zum reinen Objekt reduziert wird. Und das führt unter Umständen zu Neurosen. Wenn in dem schon zitierten Bericht gesagt wird: "Hier muß zur Klärung gesagt werden, daß die Teilnahme an Trainingsgruppen Neurosen nicht züchtet, wohl aber latente Störungen auftreten können", so dient dies nicht zur Klärung, sondern Ver-Unklärung. Ist dies doch der auch sonst für Neurosen vielfach ursächliche Fall, wenn die Persönlichkeit durch die sozialen Verhältnisse frustriert wird und Animalisch-Instinktives in Aggressionen durchbricht oder sich in seelischen Abnormitäten manifestiert. Die künstliche Situation, in welche die Teilnehmer gebracht worden sind, hat sie sowohl in bezug auf ihre Individualität wie auch auf ihre Soziabilität verfremdet, und sie schafft außermenschlichen Kräften erst Zutritt. So wird in dem Experiment nicht die tierische Abkunft und Verwandtschaft bestätigt (wie viele schließen), sondern eine animalisch determinierte und undeterminierte Situation erst geschaffen. Die Aggressionen, die hierbei auftreten, haben weder unmittelbar mit dem Tierischen im Menschen etwas zu tun noch mit den antisozialen Impulsen, die ja, genau umgekehrt, die Individualität herausformen. Aber auch die Soziabilität im Menschen wird frustriert, weil sie sich nur in sinn- und sozial zweckvoller Begegnung mit der Individualität manifestieren kann. Dieses Experiment offenbart nichts als seine psychologisch-anthropologische Nichtigkeit (ein verkrampfter, denaturierter Kaffeeklatsch!). - Das alles läßt auch auf die experimentelle Industriepsychologie einige dubiose Lichter fallen!

Was mit diesem Phänomen deutlich gemacht werden sollte, ist das folgende: Die Resultate der Gruppendynamik sind nur Symptome für die sozialen Krankheiten, die sich in den heute weit verbreiteten psychischen Abnormitäten zeigen, zu denen auch die Aggression gehört. Dadurch, daß die heutigen sozialen Verhältnisse durch ihre Einseitigkeit und ihre veralteten Einrichtungen der individuellen Freiheit nicht in der richtigen Weise Raum geben (durch Selbstbestimmung und soziale Selbstgestaltung der Individuen), werden die sozialen Kräfte, die in den Individuen veranlagt sind, nicht entwickelt, sondern wie die individuellen Kräfte frustriert: Die Frage ist nun, welches sind die Gesetze des sozialen Organismus, durch welche die individuelle Freiheit die antisozialen Triebe so bildet und formt, daß sich aus der Soziabilität, die der Mensch durch das Schlafesleben mitbringt, eine wirkliche soziale Gemeinschaft bilden kann? Ist eine Gesellschaftsstruktur möglich, in der die individuelle Freiheit sozial und die soziale Gemeinschaft frei ist?

Die vier sozialen Gesetze

Die Naturwissenschaft hat die Philosophie von ihrem erhabenen Thron, den sie in der Vergangenheit einmal im Kulturbewußtsein innehatte, durch ihre Erfolge herabgestoßen und sich an ihre Stelle gesetzt. Von da aus hat man die philosophische "Ignoranz" abwertend kritisiert, indem man sie mit einem Mann verglich, der in einem dunklen Zimmer nach einer schwarzen Katze sucht, die gar nicht drin ist. - Die modernen Sozialwissenschaften suchen in den bestehenden sozialen Verhältnissen durch Beobachtung, Analyse und Experiment nach den Gesetzen der modernen Industriegesellschaft, die in diesem heutigen gesellschaftlichen Pluralismus ganz gewiß nicht "drin" sind. Denn dieser Pluralismus ist aus der Auflösung der wohlgeordneten ständisch-hierarchischen alten Gesellschaftsformen entstanden, und er sucht infolgedessen erst noch seine soziale Lebensform.

Aus der Kenntnis der Entwicklungsgesetze des Menschen kann die Geisteswissenschaft dagegen die sozialen Gesetze aufzeigen, die für den heutigen Entwicklungsstand der Individuen gelten, wenn Individualität und Soziabilität, nämlich individuelle Freiheit und soziale Gemeinschaft, in der Gesellschaftsstruktur realisiert werden sollen. - Es sind vier Gesetze, die vorläufig aus spiritueller Forschung konkret formuliert werden können:

1. das soziologische Grundgesetz
2. das soziale Hauptgesetz
3. das geistige Kausalitätsgesetz oder das Gesetz von Ursache und Wirkung im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft
4. das Lebensgesetz des sozialen Organismus

1. Das soziologische Grundgesetz findet man näher ausgeführt in den zwei kurzen Aufsätzen Rudolf Steiners vom Jahre 1898: Er knüpft dort an die offenbare Tatsache an, daß in der gesellschaftlichen Entwicklung die Verhältnisse von primitiven Zuständen sich immer mehr individualisiert haben, und sagt dann, daß es nach Feststellung dieser Tatsachen eines fortschreitenden Individualisierungsprozesses "Aufgabe der soziologischen Philosophen gewesen wäre, überzugehen zu dem soziologischen Grundgesetz, das mit logischer Notwendigkeit daraus folgt" und das er in folgender Weise darstellt: Am Anfang brauchte das Individuum die Gemeinschaft, denn nur aus der Gemeinschaft heraus kann es seine Kräfte entwickeln. So strebt die Menschheit im Anfang der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; in ihnen werden zunächst die Interessen der Individuen der Gemeinschaft geopfert. - Die weitere Entwicklung führt zur Befreiung der Individuen von dem Interesse der Verbände und zu freier Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte der einzelnen. Es schwindet immer mehr das Bewußtsein, daß Gemeinschaften Selbstzweck sein können. Sie sollen Mittel zur Entwicklung der Individualitäten werden.

Wenn man unsere Zeit recht verstehe, so dürfe man wohl sagen, die fortgeschrittensten Menschen streben solche Gemeinschaftsformen an, daß durch die Art des Zusammenlebens das Individuum so wenig wie möglich in seinem Eigenleben behindert wird. Der Staat soll z. B. eine solche Einrichtung erhalten, daß er der freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit den größtmöglichen Spielraum gewährt. Sein Ideal sollte die Herrschaftslosigkeit sein. Die allgemeinen Einrichtungen sollten in dem Sinne gestaltet werden, daß nicht dem Staat, sondern daß den Individuen gedient ist, wobei Rudolf Steiner den scheinbar paradoxen Satz von Fichte zitiert, der Staat sei dazu da, als universaler Repräsentant der Gesellschaft sich allmählich überflüssig zu machen. Das war weit vorausgegriffen.

2. Das soziale Hauptgesetz: Schon in den Jahren 1905/06 hat Rudolf Steiner ein zweites soziales Gesetz - in drei kurzen Aufsätzen mitgeteilt, das bekannt geworden ist als "soziales Hauptgesetz". Es kann uns heute kaum wundern, daß damals auch dieses Gesetz keine Beachtung fand. Von den theoretischen sozialistischen Bewegungen abgesehen, war der Glaube an die allein seligmachende freie Wirtschaft ungebrochen. - Das Gesetz sagt, daß das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen um so größer ist, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht.

Was die materiellen Ergebnisse der Arbeit betrifft, so liegt dieses Prinzip ja schon im Wesen der industriellen Arbeitsteilung. Insoweit ist dieses Gesetz durch die Arbeitsteilung realisiert; denn der einzelne muß heute seine eigenen materiellen Bedürfnisse aus den Ergebnissen der Arbeitsleistungen seiner Mitmenschen befriedigen. Aber, wie wir wissen, widerspricht das allgemeine Bewußtsein heute ganz und gar diesem Gesetz. Jeder muß zwar durch die Zwangsläufigkeit der Arbeitsteilung die Produkte seiner Arbeit an seine Mitmenschen abgeben, aber das allgemeine Bewußtsein geht den umgekehrten Weg insofern, als es ausschließlich dahin orientiert ist, durch Geldeinkommen für sich selbst zu arbeiten. Das hat seine Ursache in den heutigen Einrichtungen der Gesellschaft, in welcher die Orientierung auf den Eigennutzen von der sogenannten freien Marktwirtschaft ausgeht und den Egoismus zum Antrieb der gesellschaftlichen Leistung macht. "Egoismus müßte aber auf die Dauer Not und Elend erzeugen." Dagegen ist nach diesem Hauptgesetz "die menschliche Wohlfahrt um so größer, je geringer der Egoismus ist".

Nun könnte man daraufhin sagen, die Menschen müßten eben unegoistischer, moralischer werden, damit diese Wirkung in bezug auf die Menschenwohlfahrt erzielt wird. Darum geht es hier gerade nicht. Es geht vielmehr um die gesellschaftlichen Einrichtungen, durch die es allein unmöglich gemacht sein muß, daß der einzelne bei seiner Arbeitsleistung nur an seinen Gewinn, seinen Geldvorteil denkt und denken muß, wie heute.

3. Das Gesetz der geistigen Kausalität im sozialen Organismus. Was man unter dem Kausalitätsgesetz versteht, ist allgemein bekannt. Es ist das Gesetz der toten Natur, nach welchem auf die gleiche Ursache stets die gleiche Wirkung folgt. Im sozialen Leben gilt das nicht. Hier wirkt alles ineinander. Weil in bezug auf das Verhältnis und die Wirkenskräfte zwischen Umwelt und Mensch, zwischen den Menschen und den sozialen Verhältnissen so viel Verwirrung herrscht, ist es für die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse so außerordentlich wichtig, das soziale Kausalitätsgesetz nicht nur klar zu unterscheiden von der Kausalität im Naturgesetz, sondern von den eingebildeten Kausalitäten, denen sich der einzelne durch die ideologisch dogmatischen Vorstellungen ausgeliefert sieht, die ihm von dem politischen und weltanschaulichen allgemeinen Glauben aufgezwungen werden.

Zwei Texte von Rudolf Steiner können uns am schnellsten ein deutliches Verständnis vermitteln, was mit dem sozialen Kausalzusammenhang gemeint ist und was man leicht verstehen kann, wenn man bedenkt, daß sich der Mensch einerseits Gedanken macht über die sozialen Einrichtungen (das ist die Aufgabe der Sozialwissenschaft), durch welche sich die gesellschaftlichen Verhältnisse doch mehr oder weniger schnell und doch fortwährend ändern können, daß aber auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmende Wirkungen auf die Gedanken und die Verhaltensweisen der einzelnen ausgehen. Eine Wechselwirkung besteht also, durch die menschliche Gedanken und soziale Verhältnisse immer Ursache und Wirkung zugleich sind. "Wir müssen uns klar sein, daß (im sozialen Leben, d. V.) jedes Ursache und jedes Wirkung ist, daß alles ineinanderwirkt, und daß wir die Frage aufwerfen müssen: Was für Einrichtungen müssen da sein, damit die Menschen die richtigen Gedanken haben können in sozialer Beziehung? Und was für Gedanken müssen da sein, damit im Denken auch diese richtigen sozialen Einrichtungen entstehen?" 4

Das sagte Rudolf Steiner in einem Vortrag vom 29.08.1920, also in einer Zeit, in der die marxistische Behauptung, die ökonomischen Verhältnisse seien die Ursache (Basis) für alle geistig-kulturellen Erscheinungen - d. h. Kunst, Religion, Recht usw. seien nur der "Überbau" - zum Glaubensbekenntnis aller derjenigen geworden war, die den gesellschaftlichen Umsturz und die sozialistische Weltrevolution lehren. Darin ist der materialistisch-positivistische Aberglaube des vorigen Jahrhunderts, daß das Gehirn so die Gedanken produziere wie die Leber die Galle, auch auf die gesellschaftlichen Vorgänge übertragen, wo er nicht weniger absurd ist. In welch folgenschwerer Weise damit dem unvoreingenommenen Denken Zwangsfesseln auferlegt worden sind, wird der äußere Gang der Geschichte noch erweisen. Wo ist da der Anfang?

"Wie nur derjenige den menschlichen Körper versteht, der weiß, daß dieser der Ausdruck der Seele ist, so kann auch nur derjenige die äußeren Einrichtungen des Lebens richtig beurteilen, der sich klarmacht, daß diese nichts anderes sind als das Geschöpf der Menschenseelen, die ihre Empfindungen, Gesinnungen und Gedanken darin verkörpern. Die Verhältnisse, in denen man lebt, sind von Mitmenschen geschaffen, und man wird niemals selbst bessere schaffen, wenn man nicht von anderen Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen ausgeht, als jene Schöpfer hatten."

Diese Sätze von Rudolf Steiner (aus "Geisteswissenschaft und soziale Frage" 1905/06), zerschlagen wie mit einem Schwerthieb den Knoten, der sich da gebildet hat aus wissenschaftlichen Vorurteilen wie dem, der Mensch sei nur ein Produkt aus Vererbung und Milieu, oder die verbreitete Meinung, man könne an den sozialen Verhältnissen nichts ändern, man müsse zuvor den Menschen selbst ändern. Unter solchen Vorurteilen kann es dann zu der grotesken Denkweise heutiger Biologen kommen, der Mensch sei eine charakterliche Fehlkonstruktion; man müsse ihn durch genetische Eingriffe ändern, ihn anpassen, d. h. zum Beispiel, die Aggressionsneigung durch erbbiologische Veränderungen ausmerzen. Aber diese Wissenschafter sehen weder ein Kulturziel noch die tiefgehenden Änderungen des menschlichen Bewußtseins im Laufe der großen Kulturperioden. So können weder die Soziologen noch die Psychologen und Biologen zu der Einsicht kommen, daß die soziale Ordnung und das menschliche Bewußtsein- auch polare Kräfte darstellen, in deren Zusammenwirken allein Entwicklung, Kulturfortschritt, Höherentwicklung des Menschen möglich ist. In welcher Weise läßt sich dies konkret anschaulich machen? Indem man zu den dargestellten drei sozialen Gesetzen das folgendes vierte hinzunimmt und sie in ihrer Gesamtwirkung, in ihrem geistig produktiven Ineinanderwirken begreift, in welchem der Mensch der zentrale Wirklichkeits- und Wirkungsfaktor ist.

4. Die Dreigliederung, das Lebensgesetz des heutigen sozialen Organismus. Diese Ordnungsidee, durch welche die Ganzheit des sozialen Organismus durch eine relative Selbständigkeit des Kultur- und Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschaftslebens zustande kommt, ist von Rudolf Steiner in umfassender Weise dargestellt und begründet worden. Eine solche Gliederung der Gesellschaftsstruktur korrespondiert mit der Gliederung des menschlichen Einzelorganismus in die drei Funktionen des Stoffwechselsystems, des rhythmischen Systems und des Nervensystems, wie dies schon genügend dargestellt worden ist und sich in den Kernpunkten der sozialen Frage (1919) findet. In dieser Dreigliederung ist der soziale Organismus selbst ein Abbild des zur Freiheit in der Gemeinschaft herangereiften individuellen Menschen unserer Zeit.

Der Zusammenklang der Gedanken

Es soll nun versucht werden, den Zusammenklang der dargestellten Phänomene in einigen Zügen zu verdeutlichen. Die Zerrissenheit und die Paradoxien im heutigen wissenschaftlichen Weltbild können, ja sie müssen auf die Dauer den Menschen und die Menschheit physisch und geistig krank machen. Dafür gibt es unzählige Anzeichen. Es herrscht kein sozialer Wohlklang durch das Zusammenstimmen produktiver sozialer Gedanken, sondern eine Kakophonie zerfetzter Einzelerkenntnisse, denen die wahrhaft menschliche Melodie ganz fehlt. Das konnte hier nur auf der wissenschaftlichen Ebene, an der Ergebnislosigkeit der Psychologie, der Soziologie, der Nationalökonomie anschaubar gemacht werden. Wieviel lauter und mißtönender sind erst die Gegensätze im sozialen Leben selbst! Die Aggressionen im großen, in den sinnlos gewordenen Kriegen, in den Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern usf. Was kann diese Wissenschaft, die für die Ordnung der sozialen Verhältnisse, für den sozialen Frieden, ein falsches Bild vom Menschen hat, weil sie nicht einmal ein halbes Bild hat, tun, wenn "der Mensch, der sich als selbständiges Ich auf die Spitze seiner Persönlichkeit stellen muß, Immer mächtigere und mächtigere antisoziale Triebe entwickeln wird? ... denn die Menschheit hat noch keine Ahnung, wie mächtig immerwährend bis ins dritte, Jahrtausend hinein die antisozialen Triebe sich entwickeln müssen" sagt Rudolf Steiner. Sie müssen sich entwickeln, damit der Mensch durch seine individuelle Freiheit sich als individueller selbständiger Geist entwickeln kann. Aber diese Individualität kann der Mensch nur als Errungenschaft seines Wesens sich dadurch aneignen, daß sich die antisozialen Triebe nur in der sozialen Gemeinschaft richtig, individuell, produktiv entfalten können.

Die vier Gesetze des sozialen Lebens sind im Grunde sehr leicht zu verstehen. Dir Mensch ist für das Leben in der Gemeinschaft organisiert,- und die Gemeinschaft ist für den Menschen da. Das wird jeder zugeben. Wir empfinden, daß da ein ausgewogenes Verhältnis besonderer Art bestehen muß. Man denkt bei diesem Satz gleich an eine Waage, aber man kann diesen Vergleich für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht statisch gebrauchen; denn die Kulturentwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß sich dabei die Gewichte verändern: Das "Gewicht" der Individuen ist im Lauf der Entwicklung fortwährend gestiegen im Verhältnis zur Gemeinschaft, so wie der Einzelmensch durch sein Heranwachsen zur Mündigkeit fortlaufend an "Gewichtigkeit" seiner Persönlichkeit gewinnt. In diesem Fall tritt er, aus den ihn heranbildenden erzieherischen Umweltsbedingungen mehr und mehr heraus in Lebensverhältnisse, in denen er durch seine Fähigkeiten selbst tätig werden kann. Das ist der natürliche Gang. Wie - so muß man fragen - muß sich im großen Gang der Entwicklung die Gesellschaft verwandeln, damit sich in steigendem Maß das Gewicht der Persönlichkeit produktiv entfalten kann in der Gemeinschaft? Das geht nur dadurch, daß die Gemeinschaft den mündigen Menschen frei und immer freier läßt. Wenn man das freilich nur postuliert, so bleibt es abstrakte Theorie. Verwirklichen kann es sich nur dadurch, daß sich die Gemeinschaftsstruktur so grundlegend ändert wie die Umweltsverhältnisse für einen Menschen, der nach dem Abschluß seiner Erziehung und Ausbildung "ins Leben" tritt, das ihm nun die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Kräfte bietet. Mit dem nötigen Körnchen Salz Iäßt sich diese entwicklungsgesetzliche Wandlung der Gesellschaft als die Wandlung vom beherrschenden theokratischen Gemeinschaftsideal der Vergangenheit über die autoritative Bildungsgesellschaft in die freie Gesellschaft verstehen. Aber diese freie Gesellschaft, dh. diejenige Struktur, die den einzelnen nicht nur frei läßt zu sich selbst, sondern frei macht für eine initiative soziale Selbstgestaltung, muß selbst so "strukturiert sein, daß sie eine "ausgewogene" Verfassung der drei konstituierenden gesellschaftlichen Kräfte - der geistig-kulturellen, der rechtlichen und der wirtschaftlichen - annimmt, und das heißt: Dreigliederung des sozialen Organismus! Nur in dieser ausgewogenen Verfassung des sozialen Organismus kann dies verwirklicht werden, daß die Gesellschaft als solche keinen Zwang mehr auf die Entfaltung der Persönlichkeit ausübt, entweder durch religiösen oder weltanschaulichen Glaubenszwang oder durch staatliche Macht oder durch wirtschaftliche Interessen. Es war das Ziel dieser Darstellung, zu zeigen, wie und warum sich die Gemeinschaft dreigliedern muß, wenn die individuelle Freiheit gewährleistet sein soll. Und das kann jeder begreifen, wenn, er ohne ideologisch liberalistische oder sozialistische oder die heutigen wissenschaftlich-weltanschaulichen Vorurteile an die Problematik von individueller Freiheit und sozialer Gemeinschaft herantritt.

Dann wird man auch verstehen, daß man die Ausgewogenheit in der Polarität von sozialen und antisozialen Impulsen braucht, wenn die individuelle Freiheit mit sozialer Gemeinschaft nicht in der Alternative von Chaos durch individuelle Freiheit - oder Despotie gegen die aggressive individuelle Freiheit enden soll. -

Nur polare soziale Kräfte sind einer solchen Steigerung fähig. Daß es solche polaren Kräfte im Menschen und in der Gemeinschaft gibt, das ist allein die Voraussetzung für eine Höherentwicklung der Gesellschaft.

1 Schlagzeile über einem Titelbild der Zeitschrift "akut" mit zwei, wütend gegeneinanderstoßenden Köpfen.
2 Art. 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Art.. 2: Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.
3 Vortrag "Soziale und antisoziale Impulse" (GA 186, S.158-187, 3/1990, 12.12.1918) und "Das Verhältnis des Seelisch-Geistigen zum Physisch-Leiblichen" (GA 188, S.91-92, 2/1967, 10.01.1919).
4 GA 305, S.228-230, 29.08.1922.


Quelle: Zur Pathologie der modernen Gesellschaft, Berlin 1973, S.57-66. Literaturhinweise leicht überarbeitet. Ursprünglich: Vortrag, gehalten auf dem Symposion der Arbeitsgemeinschaft für freie Menschenbildung, Schloß Elmau, 1971


Veröffentlichung mit der freundlichen Erlaubnis der Erben von Hans Georg Schweppenhäuser.