Eine methodische Anmerkung zu Lindenau

01.06.1976

Übersicht über die Kontroverse
Vom Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus
zwischen Heinz Kloss, Wilhelm Schmundt, Christof Lindenau und Hartwig Wilken

 

Wenn man der Methode nachgeht, die Christof Lindenau zur Beurteilung des Aufsatzes von Heinz Kloss anwendet, dann stößt man auf die drei Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie werden sozusagen als Sonde angesetzt, um festzustellen, ob über die drei sozialen Gebiete sachgemäß gedacht wird: „so muß doch gefragt werden, ob Heinz Kloss und alle, die so denken wie er, sich denn wirklich zum Problem gemacht haben, welche sozialen Lebensgebiete es sind, die sich — verkürzt ausgedrückt — durch das brüderliche, freiheitliche und das Gleichheitselement fruchtbar fortentwickeln lassen.“

Lindenau seziert nun mit diesem Instrumentarium den Aufsatz von Kloss und folgert z.B.: „...Ebenso würde aus der einseitigen Zuordnung der Lehrtätigkeit zum Geistesleben folgen, daß der Lehrer in der Schule nicht unterrichten würde, was seine Schüler brauchen, sondern beispielsweise was ihn gerade selber interessiert, oder was er besonders gut kann, weil es sein Spezialgebiet ist“, usw. So kommt Lindenau, weil er konsequent denkt, dazu, die Unterrichtstätigkeit, weil oder soweit sie den „seelischen und geistigen Bedarf anderer Menschen befriedigen will“, als Wirtschaftsleben zu bezeichnen — wie Schmundt auch. Ja, er behauptet sogar, daß das Rudolf Steiner auch tut. Zwar konnte bisher noch niemand ein Zitat Steiners nachweisen, in dem das zum Ausdruck kommt, wohl aber das Gegenteil (z.B. in dem Aufsatz: Freie Schule und Dreigliederung; GA 24), doch ist das nicht das Entscheidende. (Über das Mißverständnis des Satzes in den Kernpunkten, auf den sich Lindenau offensichtlich bezieht, siehe meinen Aufsatz in diesem Heft).

Viel wichtiger ist die merkwürdige Auffassung von Freiheit, die sich in dem zitierten Satz von Lindenau zeigt. Im Sinne der „Philosophie der Freiheit“ handelt nicht der Mensch frei, der bloß seinen Interessen nachgeht, sondern derjenige, der aus Einsicht handelt. Wenn ich als Lehrer aus Einsicht in das, was das Kind braucht, unterrichte, fühle ich mich frei.

[Beiträge, Heft 28, Seite 60]

 

Zeigt sich hierin nicht die Problematik des methodischen Ansatzes von Lindenau? Er geht von 3 Ideen aus und ordnet in einem deduktiven Verfahren die sozialen Phänomene zu. Die drei Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden als Prämissen gesetzt und die (soziale) Wirklichkeit wird bloß noch untergeordnet und danach beurteilt. Das ist aber exakt die heutige naturwissenschaftliche Methode. Worin liegt der methodische Unterschied, ob ich das sage oder ob ich als Prämisse setze: „Die Geschichte besteht aus Klassenkämpfen“ und die (historische) Phänomene dem unterordne? Freilich, ich kann sagen: die erstere Prämisse ist richtig, die letztere falsch, aber das ist für das soziale Handeln wiederum nicht das Entscheidende, denn es kommt nicht nur darauf an, ob der Ausgangspunkt ein richtiger ist, sondern ob der Weg richtig ist, um zum Ziel zu kommen. Goethe sagte: „Man suche ja nichts hinter (oder über) den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre“, das bedeutet, daß man in die Phänomene hineinschlüpfen muß — ohne vorgegebene Begriffe (wohl aber mit voll ausgebildetem Begriffsvermögen). Tut man das, dann ergeben sich gerade im Sozialen immer wieder andere Aspekte und Zuordnungen, je nach der historischen und menschlichen Situation. Damit ist natürlich nichts gegen gewisse, für die heutige Entwicklungsstufe der Menschheit gültige soziale Urgesetze gesagt, es ist auch nichts dagegen gesagt, daß die drei angeführten Ideale für die drei sozialen Gebiete gelten, sondern nur, daß man nicht zu rechten sozialen Einsichten und Handeln kommen kann, wenn man eine einmal auf einem bestimmten Weg, in einer bestimmten Situation (von Rudolf Steiner) gefundene Wahrheit zu Prämisse erhellt und damit dogmatisiert. Nur nebenbei sei daran erinnert, daß diese Methode in der griechisch-lateinischen Kultursprache bekanntlich ihre Berechtigung hatte, weil damals noch in den Begriffen und Ideen selbst Realität vorhanden war.

[Beiträge, Heft 28, Seite 61]

 

Quelle

Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, 18. Jahrgang, Juni 1976, Heft 28, Seite 60-61