Wann ist es zu spät?

Quelle
Zeitschrift „Info3“
1/1984, S. 2

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors
Bibliographische Notiz

„So solltens die Deutschen halten, darin bin ich ihr Bild und Vorbild: Weltempfangend, weltbeschenkend, die Herzen offen jeder fruchtbaren Bewunderung, groß durch Verstand und Liebe, durch Mittlertum und Geist - denn Mittlertum ist Geist. So sollten sie sein! Und das ist ihre Bestimmung, nicht aber als Originalnation sich zu verstocken, in abgeschmackter Selbstbetrachtung und Selbstverherrlichung sich zu verdummen. und gar in Dummheit durch Dummheit zu herrschen über die Welt.

Unseliges Volks; es wird nicht gut ausgehen mit ihm; denn es will sich nicht selbst verstehen und jedes Mißverstehen seiner selbst erregt nicht das Gelächter allein, erregt den Haß der Welt und bringt es in äußerste Gefahr. Was gilt's - das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten was sie sind. Es wird sie über die Erde zerstreuen, wie die Juden - zu recht, denn ihre Besten lebten immer bei ihnen im Exil, und im Exil erst, in der Zerstreuung werden sie die Masse des Guten, die ihnen liegt, zum Heile der Nation entwickeln und das Salz der Erde sein.“

Aus Goethes Gesprächen mit Dr. Riemer

Lange hat kein Jahr soviele Befürchtungen, Alpträume. Visionen oder Ahnungen hervorgerufen. wie das vor uns liegende Jahr 1984. Orwell ist da ja nur einer, der das Vorausgedachte mit dieser Ziffer belegt hat. Auch R. Steiner hat, wenn man Anna Samweber [1] folgen darf, darauf hingewiesen, daß 1984 besonders schwierig würde. Und die Solowjeffsche Vision aus dem Antichristen [2] rückt näher, auch wenn sie nicht unbedingt auf ein Jahr datiert ist. Und Goethes Ahnung? (s.o.) Was wird aus Mitteleuropa? Was haben wir der sowjetischen und amerikanischen Militärmaschine entgegenzusetzen? Wie hypnotisiert starren wir auf die Zerstörungspotentiale und die Befehlshaber darüber. Und wir starren ohnmächtig darauf, wie die politischen Führer im geteilten Deutschland den perversen Entschluß gefällt haben, in dem Ost-West-Konflikt Partei zu ergreifen. So nennt es W. Schenke [3]. Die Hoffnung auf einen geistigen Brückenschlag ist so gut wie erloschen. Worauf sollte diese Hoffnung auch gründen? Hat doch Mitteleuropa dieselben nationalstaatlichen Machtstrukturen wieder aufgerichtet wie die imperialistischen Zentren in Ost und West, statt zu gliedern und zu differenzieren in autonome lebensfähige Funktionen Rechtsleben, Wirtschaftsleben, Geistesleben.

Geistige Nachrüstung – ein autonomes kulturelles Leben hätte uns die militärischen „Nach“-rüstungen ersparen können. Warum ist die europäische Friedensordnung, wie sie schon 1917 in der Form von Steiners Memoranden auftauchte [4], so konsequent unterdrückt worden? In dieser Zeitschrift ist immer wieder versucht worden, auf das Friedensstiftende der Dreigliederungsidee hinzublicken, z.B. in eindrucksvoller Weise von H. Köhler, R. Riemeck und R. Wilenius [5] Das genannte perverse Parteiergreifen statt die eigene Sozialgestalt auszubauen, wird Folgen haben. Ich schreibe dies in der zweiten Novemberhälfte vor dem Orwell-Jahr, einem Zeitpunkt also, wo die westdeutschen Volksvertreter sich mehrheitlich dem westlichen Rüstungsdiktat unterworfen haben – abermals. Jeder spürt, daß das nicht bloß eine neue Drehung der Rüstungsspirale hervorrufen wird, während viele Berufspolitiker noch beteuern, der Status Quo sei wieder sicherer geworden.

Da das Jahr 1984 zum Jahr des Vorausdenkens geworden ist, beschreibe ich meinerseits eine Konsequenz dieser Unterwerfung der Parteimaschine.

Eines nahen Tages werden wir aufwachen, uns die Augen reiben und – unter russischer Militärverwaltung weiterleben. Es wird sehr schnell gehen, sozusagen über Nacht; das sogenannte System der Abschreckung wird einfach unterlaufen werden. Die amerikanischen Waffenbrüder werden nicht eingreifen, sie haben längst andere Gebiete der Erde entdeckt. – Kopfschütteln beim Leser. Wir sind so reduziert auf militärpolitische Überlegungen und Argumente, daß jeder es natürlich besser weiß. In dieses Wespennest wollte ich nicht stoßen.

Was sagt die Wirklichkeit?

Zum einen: Das sowjetische System wird sich nicht von einem Lande Erstschlagwaffen von ungeheurer Präzision vor die Tür stellen lassen, von dem es selbst im zweiten Weltkrieg überfallen worden ist, selbst wenn damals ein anderes politisches System in Deutschland die Herrschaft erobert hatte. Es wird das unterbinden und alles mit seinen Panzern überfluten für einige Zeit. Dann werden die Reste äußerer Freiheit ganz schwinden. Diejenigen, die noch an einer eigenen europäischen Friedensordnung arbeiten, werden Katakomben-Stimmung erarbeiten müssen [6], aber nicht als Flucht nach innen, sondern als energische geistige Vorbereitung für soziale Erneuerung. Wenn wir es schon in sehr viel äußerer Freiheit nicht schafften, werden wir es dann vielleicht tun?

Zum anderen: Die Bundesrepublik Deutschland hat nach 1945 vorgegeben, aus den Schäden und Ursachen des Dritten Reiches lernen zu wollen. – Stattdessen sind wir schnell hineingeschlittert in neuen Militarismus, Staatsräson, kollektiven Handel mit menschlicher Arbeitskraft, Spekulation mit Produktionsmitteln, Berufsverbote, Staatserziehung und Diktatur von Kapitalmassen statt Bedarfsdeckungswirtschaft – schließlich: Massenarbeitslosigkeit. Gleichzeitig eine fast panische Verdrängung der kommunistischen Herausforderung, die eine geistige ist und u.a. auch auf eigene Fehler aufmerksam machen kann ... Wir sind abermals wie unter Hitler der Versuchung erlegen, dieser Herausforderung militärisch zu antworten statt durch Entwicklung friedfertiger sozialer Strukturen der Selbstverwaltung. – Es vergeht nun kein Tag mehr, an dem im ehemaligen Mitteleuropa das Wirtschafts- und Staatsgebilde, zu dem die BRD nach 1945 gegen alle Erwartung aufgestiegen ist, von den Weltmächten zur Stellungnahme aufgefordert wird. Aus dem Westen tönt es: Wollt ihr als starke Wirtschaftsmacht die dichteste und gefährlichste Militärbasis des Westens werden? Seid Bollwerk unserer äußeren Freiheiten! – Und aus dem Osten: Liefert uns Beweise Eurer Friedfertigkeit! Erhebt Eure eigene europäische Stimme! – Die Unruhe schlägt hoch, Angst geht um, Widerstand regt sich offen in der Bevölkerung.

Und schließlich: Wie andere Nachbarn sind auch die Russen betrogen um die Kulturfrüchte des Goetheanismus, der sich in Mitteleuropa hätte entwickeln können bis in die Sozialformen hinein. Die östlichen Nachbarn haben am meisten unter seinem Ausbleiben gelitten.

Es ist nicht gleichgültig für soziale Strukturen, wie Menschen lernen zu denken und zu empfinden. Im Gegenteil ... Kann ich meine Denkfähigkeit zur Bildhaftigkeit fortentwickeln, so bin ich imstande mit ihm in Lebensprozesse einzutauchen, auch solche des sozialen Organismus. Ihn können wir nur entwickeln, wenn wir dies wollen. Sonst bleibt es bei dem Bollwerk der äußeren Freiheit mit den unfreien, nämlich gut rentierenden Arbeitsantrieben, der Herrschaftsmacht des Kapitals statt seines Kreislaufs nach Fähigkeiten. Es kann keinen sozialen Frieden geben, solange Arbeit Ware bleibt und nicht herausgegliedert wird aus dem Wirtschaftskreislauf. – Statt dafür Erkenntnisfähigkeiten und Willensorgane auszubilden, wappneten wir uns militärisch. Was soll die Nachbarn hindern, in das dahinter befindliche Vakuum vorzustoßen?

Die Leser mögen einem Mitleser diesen absonderlichen Neujahrsgruß nicht verübeln, treffen wir uns doch durch eine Zeitschrift, die sich dem Rätsel der Überlebensfähigkeit einer geistigen Bewegung verschrieben hat.

Anmerkungen

[1] Anna Samweber, Erinnerungen aus meinem Leben. 2. Auflage. 1981
[2] Wladimir Solowjeff, Kurze Erzählung vom Antichrist. 4. Auflage, München 1981
[3] Wolf Schenke, Parteinahme - die deutsche Daseinsverfehlung nach 1945 in: „Was soll bloß aus Deutschland werden?“ Berlin 1982
[4] Siehe hierzu: Renate Riemeck, Mitteleuropa - Bilanz eines Jahrhunderts. Lizenzausgabe Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 1983
[5] In Info3, 10/1983
[6] Diesen Ausdruck aktualisiert Boris Tullander in bezug auf die Dreigliederungsbewegung in: Bausteine für eine soziale Zukunft. Heft 4/1983, Freiburg.

 

Bildunterschrift
Rudolf Steiners „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ (1919/1920) in russischer Übersetzung. Sollten wie sie, vorsorglich, in Millionenauflage drucken lassen? „Brüder, nicht schießen“ – hier habt ihr unseren zugegebenermaßen noch nicht realisierten Beitrag zum Weltfrieden. Gebundene Fotokopien können bei der Redaktion bestellt werden. 95 Seiten DM 28,plus Porto. Deutsche Ausgabe über den Buchhandel (Rudolf Steiner Verlag, Taschenbuch DM 8,80, Leinen DM 31,).