Anarchismus - Joseph Proudhon und Rudolf Steiner

Die Ideale der französischen Revolution als untrennbare Einheit oder als Ersatz für die Einheit

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Das schon oben besprochene Ideal der nationalen Einheit lehnt Proudhon radikal ab. Er sieht darin nur eine Ablenkung von den Idealen der Französischen Revolution, wobei er hier nur von der Freiheit und der Gleichheit spricht.

"Seit der Französischen Revolution hat die Demokratie "Freiheit und Gleichheit" zu ihrer Devise gemacht. Da sie von ihrem Wesen und ihrer Aufgabe her Bewegung, Leben ist, war ihre Parole: "Vorwärts!"

(...) Aber, siehe da, unerhört, die Demokratie zeigt sich untreu sich selbst gegenüber; sie hat mit ihrem Ursprung gebrochen und sie kehrt ihrer Bestimmung den Rücken.

(...) Kaum ist sie Herrin der Dinge geworden, schon arrangiert sie sich um der lieben Unbeweglichkeit willen, um sich ja nicht mehr fortbewegen zu müssen. Aber, was ist zu tun, wenn man sich "Demokratie" nennt, wenn man die Revolution repräsentiert und plötzlich ganz unbeweglich geworden ist? Die Demokratie hat gemeint, ihre Berufung sei es, die alten Ungerechtigkeiten zu beheben, die niedergeschlagenen Nationen wieder zu neuem Leben zu erwecken, mit einem Wort: die Geschichte neu zu gestalten! Drückt sie doch gerade das mit dem Wort NATIONALITÄT ganz oben in ihrem neuen Programm aus. Aber, nicht zufrieden damit, sich zur Partei des status quo gemacht zu haben, hat sie sich sogar zur Partei des Rückschritts gemacht. Und wie Nationalität, so wie sie dies Wort versteht und deutet, Einheit zur Folge hat, hat die Demokratie ihrer Abdankung das Siegel aufgedrückt, indem sie sich endgültig zur absoluten, unteilbaren und unveränderlichen Macht erklärt hat. "

Diese klare Ablehnung entspricht der Einschätzung von Steiner, wonach die Französische Revolution nicht das Nationale weiterführt, sondern vielmehr sprengt. Beide Elemente werden nämlich von Proudhon als Antagonismen gegenübergestellt.

Das Nationale überlebt aber diese Revolution und wird anschliessend sogar gesteigert durch die beiden Napoleons, den ersten und den dritten. Proudhon wird daher zum persönlichen Feind von Napoleon dem dritten. Anders als die Liberalen läßt er sich nicht begeistern und versöhnen. Den Einsatz Napoleons für die Gründung verschiedener Nationalstaaten hält er für schädlich. Er wendet sich insbesondere gegen die von ihm geförderte italienische politische Einheit.

Die Auseinandersetzung der Anarchisten mit dem Nationalismus würde ein eigenes Kapitel verdienen. Im jetztigen Zusammenhang ist aber die Tatsache entscheidend, daß Proudhon sich nicht wie die damaligen Liberalen abbringen läßt von seiner Forderung nach Freiheit. Er läßt sich aber gelegentlich durch diese Forderung nach Freiheit von der weiteren Forderung nach Gleichheit und Brüderlichkeit ablenken. Aus der Reihenfolge in der revolutionären Formel schließt er auf eine Rangfolge. Die Einführung einer Demokratie und die Gründung von Assoziationen, wie sie die Sozialisten wollen, lehnt er sogar beide ab, weil sie die individuelle Freiheit gefährden.

Anders als Proudhon betont Bakunin, daß die verschiedenen Ideale voneinander untrennbar sind. Ihm geht es dabei vor allem darum, aus der Freiheit als einem unsozialen Ideal ein wirklich soziales Ideal zu machen. Es soll nicht nur um meine Freiheit gehen, sondern auch um die Freiheit des Anderen. Das Bürgertum meint eben unter Freiheit eigentlich nur seine eigene Freiheit. Dies nennt es Liberalismus.

" (...) die ungeheure Mehrheit der liberalen Doktrinäre gehört der Bourgeoisie an. Diese so große und beachtenswerte Klasse wünscht nicht mehr, als das Recht oder vielmehr das Vorrecht der vollkommendsten Anarchie mit sich in Einklang zu bringen; ihre ganze soziale Ökonomie, die tatsächliche Grundlage ihrer politischen Existenz, hat bekanntlich kein anderes Gesetz als diese Anarchie, die in den so berühmt gewordenen Worten: "Laissez faire et laissez passer" ihren Ausdruck findet. Aber sie liebt die Anarchie nur um ihretwillen und nur unter der Bedingung, daß die Massen, "zu unwissend, um daraus Nutzen zu ziehen", der strengsten Staatsdisziplin unterworfen bleiben. "

Frei darf man sich aber erst dann fühlen, wenn jeder Mensch frei ist. Es gibt keine Freiheit, oder keine wirkliche Anarchie, wenn nicht alle gleich frei sind. Freiheit ohne Gleichheit ist also unmöglich.

" Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder eine Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung. Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird.

(...) Man sieht, daß die Freiheit, so wie sie von den Materialisten aufgefasst wird, eine sehr positive, sehr vollständige und vor allem äußert soziale Sache ist, weil sie nur in der Gesellschaft und nur in der strengsten Gleichheit und Solidarität aller verwirklicht werden kann. " (Hervorhebungen von mir)

Was in der Argumentation zunächst auffällt, ist, anders als beim vorigen Zitat von Proudhon, der Hinweis auf die Brüderlichkeit, die bei Bakunin oft brüderliche Solidarität heißt, und hier kurz Solidarität. Wer auf die Rezeption der Französischen Revolution genauer eingeht, wird nicht nur bei Proudhon einer solchen Verkürzung ihrer Ideale auf die beiden der Freiheit und Gleichheit begegnen. Eine solche Reduzierung ist üblich. Sie ist auch nicht erst durch die Rezeption entstanden. Ihr Ursache liegt im Verlauf der Französischen Revolution selber: Das Ideal der Brüderlichkeit ist nämlich erst 1793 zu den beiden anderen Idealen hinzugenommen worden. Bakunin scheint hier konsequent alle drei Ideale einzubeziehen. Seine Brüderlichkeit und seine Gleichheit stehen aber nicht für sich. Unter Brüderlichkeit versteht Bakunin nichts anderes als solidarische Freiheit. In seiner Argumentation fehlt auch die eigentliche Gleichheit, nämlich eine Gleichheit, die etwas anderes meint als gleiche Freiheit für alle. Trotz dem ersten Anschein kommt also diese Argumentation doch auf dasselbe hinaus wie diejenige von Proudhon. Es fragt sich nur, ob Proudhon unter Freiheit auch die soziale Freiheit meint. Er wäre sonst bloß ein Liberaler im Sinne Bakunins, der nicht die Anarchie, sondern nur seine Anarchie haben will.

Es gibt allerdings eine andere Stelle bei Bakunin, wo die Gleichheit nicht nur in dem Sinne von gleicher Freiheit für alle gemeint ist. Diese Stelle ist gegen das Christentum gerichtet. Warum er das Christentum für die Negation der Freiheit hält, wird Thema eines späteren Kapitels sein . Bakunin gesteht aber, daß sich diese Religion für die Gleichheit aller Menschen eingesetzt hat. Sie ist nur leider Religion geblieben: ihr geht es um die Verbindung mit dem Jenseits. Sie verspricht daher Gleichheit im Himmel statt auf Erden, im Geiste statt im Leibe.

" Es ist das große Verdienst des Christentums, das Menschentum aller menschlichen Wesen, die Frauen inbegriffen, die Gleichheit aller Menschen vor Gott, verkündet zu haben. Aber wie hat es dies verkündet? Für den Himmel, für das zukünftige Leben, nicht für das gegenwärtige und wirkliche Leben nicht für die Erde. "

Bakunin ist mit dieser Kritik geradezu ein Paradebeispiel für die von Steiner beschriebene Verlagerung der Gleichheit . Dieses ursprünglich geistige Ideal trägt er aus einer früheren Reinkarnation in sich, muß es aber der neuen materialistischen Zeit anpassen. Nur macht er es ein wenig anders als seine Zeitgenossen. Während sich Steiner bis in den ersten Weltkrieg hinein nach dem üblichen Sprachgebrauch richtet und die Wirtschaft mit dem Staat in ein einziges Wort zusammenwirft, kommt es für Bakunin nicht in Frage. Den Staat lehnt er gerade so ab, wie die Religion. Die Gleichheit will er zwar verleiblichen, aber nicht verstaatlichen. Der Leib liegt allein in der Wirtschaft, der ihm als Ursache für alles Soziale gilt. Hier ist Bakunin ein guter Schüler von Marx und bekennt sich auch offen dazu. Nur geht er konsequenter vor als sein Lehrer. Aus dem historischen Materialismus, der marxistischen Überzeugung, daß die Materie die Geschichte bewegt, schließt Bakunin, daß soziale Änderungen nicht über den Weg des Staates, sondern nur über den Weg der Wirtschaft erfolgen können. Also soll die Gleichheit verwirtschaftlicht werden.

Bakunin bleibt also monokausal. Die Ideale stehen bei ihm zwar gelegentlich jedes für sich. Das Problem liegt aber dann bei der Zuordnung zu den Lebensbereichen. Es wird für die Wirtschaft nicht nur ein unpassendes Ideal gewählt, nämlich die Gleichheit, sondern es wird aus Prinzip nur der Leib berücksichtigt. Dies bringt in die ganze soziale Betrachtung wieder eine Einseitigkeit herein.

Bei Proudhon zeigt sich dieselbe Einseitigkeit. Die Kritik von Marx lehnt er ab, wonach er nicht sehen würde, daß im Sozialen die eigentliche Ursache immer bei der Wirtschaft zu finden sei. Dies macht er aber nicht etwa, weil er die Ursache anderswo sucht oder schaffen will. Er beansprucht vielmehr, selber der Urheber des historischen Materialismus zu sein. Proudhon gehört daher nur mit Einschränkung zu dem, was ausgehend von Marx der utopische Sozialismus genannt wird. Er ist wie Marx schon wissenschaftlich genug, um das Soziale bis zu seinen wirtschaftlichen Ursachen zurückzuverfolgen. Zum wissenschaftlichen Sozialisten fehlt ihm aber noch die Passivität. Auf die wirtschaftlichen Ursachen will er nicht warten. Er will sie stattdessen schaffen. Nur auf den Staat soll man warten, er wird sich schon von selbst ergeben, die Wirtschaft soll man dagegen aktiv gestalten. Soziale Änderung gehen also über die Wirtschaft. Es soll daher die wirtschaftliche Freiheit, sprich die wirtschaftliche Konkurrenz erhalten bleiben. Assoziation bergen in sich die Gefahr, daß alles beim wirtschaftlichen Alten bleibt. Das Gegenargument von Marx ist bekannt und leicht zu beobachten: Die Konkurrenz hebt sich von selbst auf. Nach der mehr oder weniger langen Schlacht bleibt zwangsläufig nur der eine Monopolist übrig. Mit der Konkurrenz ist zugleich die wirtschaftliche Freiheit aufgehoben.

An dieser Stelle gehen Marx und Proudhon auseinander. Spätestens dort ist Schluß mit der Gleichheit im Geiste. Einig und gleich sind sie sich aber in ihrem Materialismus. Sie treffen sich da mit Bakunin: Die Wirtschaft, der Leib ist die einzige Ursache.

Es würde leicht fallen, all diese Anarchisten wegen ihrem Materialismus abzutun. Sie können doch die sozialen Ideale sowieso nicht verstehen, auch wenn sie von ihnen sprechen. Steiner selber kann diesbezüglich ziemlich forsch werden. Bei Kropotkin, einem weiteren Anarchisten, beläßt er es einmal bei diesem Vorwurf des Materialismus. Dort fehlt eine nähere Begründung. Will man sie doch haben, dann muß man sie sich selbst aus verschiedenen seiner Aussagen zusammenbasteln. Steiner mahnt aber andererseits zur Vorsicht: Materialisten können gelegentlich näher am Geiste liegen als manche Spiritualisten. Sie wenden ihn dann an, ohne zu wissen, was sie tun. Spiritualisten können umgekehrt mehr über den Geist, als aus dem Geist sprechen. Ähnlich dazu bleibt es möglich, daß Anarchisten bestimmten sozialen Idealen näher kommen, als manche Anthroposophen. Ihr Materialismus ist also kein Grund, sich von der Untersuchung ihrer Ideale abhalten zu lassen. Oft schaffen sie es sogar auch, das Streben nach ihrer Vereinheitlichung zu überwinden.

Wer sich mit Frankreich identifiziert, kriegt bei Steiner oft hart zu schlucken. Es ist dann eher eine Überraschung zu sehen, wie er trotz alledem die Ideale der Französischen Revolution aufgreift. Es spricht einerseits dafür, daß Steiner es schafft, unbefangen zu bleiben, was seinen sonstigen Kritiken noch mehr Gewicht verleiht. Es hat aber andererseits damit zu tun, daß durch die Französische Revolution gerade die Enge der Identifizierung mit Frankreich überwunden wird. Mit diesen Idealen kann sich jeder identifizieren, und nicht nur wer Franzose ist. Und so wie diese Ideale von Steiner gemeint sind, da kann sich von den Franzosen nur mit ihnen identifizieren, wer nicht nur Franzose ist. Wer nur Franzose ist, der wird eher seine nationale Einheit vor Steiner retten wollen. Auf den Widerspruch zwischen den verschiedenen Idealen einzugehen, ist nur möglich, wenn das Einheitsstreben überwunden wird. Mit der Französischen Revolution reagiert Frankreich auf sich selbst, wenn auch nur kurz. Dasselbe läßt sich vom Anarchismus in Frankreich sagen: Er ist nur als Reaktion auf den überbetonten Staat zu verstehen. Dies läßt sich nicht auf den Anarchismus im allgemeinen beziehen, sondern nur auf den Anarchismus in Frankreich. Dort bietet er unter den verschiedenen politischen Strömungen die besten Voraussetzungen, um den Schritt von der Französischen Revolution hin zur sozialen Dreigliederung machen zu können.

Manche Anarchisten haben allerdings die Tendenz sich, wie Proudhon, offen oder, wie Bakunin, unbewußt für das einzige Ideal der Freiheit zu entscheiden. Nicht umsonst sprechen sogar Anthroposophen vom Anarchismus als dem erstrebenswerten Ideal im Geistesleben. Sie beziehen sich dabei auf die Stellen, wo der junge Steiner seine Begeisterung für Stirner kundgibt. Diese Stellen haben dazu beigetragen, das wenige zu retten, was Anthroposophen an Individualismus zu bieten haben. Diese Stellen beziehen sich allerdings nicht ausschließlich auf das Geistesleben.

Es fragt sich, ob diese Tendenz, die Freiheit den anderen Idealen vorzuziehen, nicht auch bei Steiner zu treffen ist. Proudhon macht, wie schon erwähnt, aus der Reihenfolge - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - eine Art Chronologie der Revolution. Dabei geht es ihm nicht um die Chronologie der Ausrufung dieser Ideale, sondern um diejenige ihrer Verwirklichung:

" So (...) fasse ich den Marsch der Revolution auf, so müssen wir uns von der Freiheit zur Gleichheit und von der Gleichheit zur Brüderlichkeit erheben. "

Beim späten Steiner findet sich dieselbe Chronologie wieder. Die Freiheit ist das Ideal, das am schnellsten verwirklicht werden kann. Es wird daher vorgezogen, aber nur im zeitlichen Sinne. Es öffnet zugleich den langwierigeren Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit. Es fragt sich dann nur, wie es Steiner während der Dreigliederungsbewegung wagen konnte, sich für die gleichzeitige Verwirklichung dieser drei Ideale einzusetzen.

Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage in einer Aussage Steiners, die sich zwar nicht laut auf diese drei Ideale bezieht, sie aber wohl auch meinen könnte:

" Dasjenige, was sich aber entwickeln muß, bevor dieser fünfte nachatlantische Zeitraum zu Ende geht, das ist bildliches Vorstellen, Imagination. Und es ist die spezielle Aufgabe dieses fünften nachatlantischen Zeitraums, in der Erdenmenschheit die Gabe der Imagination zu entwickeln.

(...) Im sechsten nachatlantischen Zeitraum soll sich insbesondere eine Art Inspiration der Volksgenien entwickeln. Und aus dieser Inspiration heraus sollen sich entwickeln Rechtsvorstellungen, welche empfunden werden wie eine Art Gabe für das irdische Leben.

(...) Und der letzte Zeitraum würde vorzugsweise die Intuition zu entwickeln haben. Erst unter dem Einfluß dieser Intuition kann sich das ganze Wirtschaftsleben entwickeln, wie man es eigentlich als Wirtschaftsleben wie ein Ideal auffassen könnte. Aber das ist das Eigentümliche, daß von jetzt ab man nicht die Dinge so trennen kann, wie ich es eben auch mehr oder weniger abstrakt auf die Tafel geschrieben habe: V.: Imagination - VI.: Inspiration - VII.: Intuition.

Man kann ganz gut sprechen vom urindischen Zeitraum, urpersischen Zeitraum, ägyptisch-chaldäischen Zeitraum, griechisch-lateinischen Zeitraum, als für sich bestehende Zeiträume, die nach hinten und vorne abgegrenzt sind; in jedem entwickelt sich eine ganz bestimmte Art des Menschenlebens. Das kann man zukünftig nicht mehr, da vermischen sich die Kulturimpulse. So daß, was als intuitives Leben im siebenten Zeitraum auftritt, in den fünften Zeitraum schon hereinwirkt, auch Inspiration in den fünften hereinwirkt, während die Imagination, die im fünften nicht voll erreicht wird, in den späteren Zeiträumen nachgetragen werden kann. Das geht alles durcheinander, wir sind nicht so streng voneinander abgegrenzt. Die Menschheit hat jetzt schon nötig, hinzuarbeiten auf dasjenige, was im imaginativen, im inspirierten Leben, im intuitiven Leben erreicht werden soll. Aber was zeitlich sich gewissermaßen durcheinanderschiebt, das muß eben gerade äußerlich vom Menschen auseinandergehalten werden.  (Hervorhebung von mir) "

Auf den Unterschied zwischen Imagination, Inspiration und Intuition soll hier nicht näher eingegangen werden. Wichtig ist zunächst nur, daß sich die verschiedenen Glieder des sozialen Lebens unter ihrem Einfluß zu ihrem jeweiligen Ideal hinentwickeln können. Gibt es bei der Ausbildung der Imagination, Inspiration und Intuition keine strenge Aufeinanderfolge mehr, so gilt dies auch für die Verwirklichung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Es lassen sich zwar die anderen Ideale aus dem Ideal der Freiheit herausentwickeln. Sie können aber genauso parallel zur Freiheit verwirklicht werden. Anders als bei Proudhon ist die Freiheit nicht mehr unbedingt der erste Schritt. Sie gehört aber auf jeden Fall zum ersten Schritt.

Der Ausspruch von Proudhon ist von späteren Anarchisten stark kritisiert worden. Nettlau, der Historiker des Anarchismus, sieht darin sogar den Hauptirrtum Proudhons. Die drei Ideale bedingen sich gegenseitig. Sie in aufeinanderfolgenden Stadien voneinander zu trennen sei daher unmöglich. Was ich aber bisher bei keinem Anarchisten gefunden habe, ist die Erkenntnis Steiners, daß diese Ideale gerade deswegen institutionnell auseinander gehalten werden müssen, weil sie zeitlich durcheinander kommen. Ob diese Anarchisten eine solche institutionnelle Trennung für eher möglich gehalten hätten als eine zeitliche, das muß offen gelassen werden. Sicher ist nur, daß sie es versucht haben, die einseitige Fixierung auf die Freiheit zu überwinden. Was sich bei Bakunin noch ziemlich ungeschickt ausnimmt, findet bei Kropotkin seinen Höhepunkt. Er führt in die anarchistische Diskussion einen neuen Begriff ein, das Prinzip der Gegenseitigen Hilfe.