Anarchismus - Michail Bakunin und Rudolf Steiner

Religion: Die Freiheit als Beweis oder als Tod Gottes?

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Freiheit gibt es nicht ohne Materialismus. Dies ist die Überzeugung der meisten Anarchisten. Sie findet sich schon bei einem der ersten Anarchisten, Proudhon. In einer Kampfschrift gegen die Religion stellt er Luzifer als den Befreier der Menschheit dar. Er hat sie nämlich von Gott befreit. Dieser Gedanke findet sich bei Bakunin wieder, nur in einer noch radikaleren Form. Wer einen Gott über sich stellt, der verzichtet auf seine Freiheit.

Jehovah, von allen Göttern [...] gewiß der eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus - man weiß nicht was für einer - Laune heraus , ohne Zweifel, um seine Langeweile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muß, oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde mit allen ihren Früchten und Tieren zur Verfügung, wobei er diesem vollständigen Genuß nur eine einzige Grenze setzte. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Er wollte also, daß der Mensch, allen Bewußtseins seiner selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herren, untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Diesem Gedanken widmet Bakunin eine zentrale Passage in dem Werk, von dem später ein Fragment den Titel Gott und der Staat bekommen hat. Dort greift er einen alten Witz von Voltaire auf, der heißt: Man müßte Gott erfinden, wenn es ihn nicht geben würde. Mit anderen Worten: Daß es Gott gibt, sind wir uns eigentlich nicht mehr ganz sicher, machen wir aber lieber so weiter, als ob es ihn geben würde. Bakunin zieht lieber den Umkehrschluß: Gott müßte man abschaffen, wenn es ihn geben würde. Er mag noch so liebevoll und freiheitlich sein, ein Gott bleibt trotzdem ein Herr.

Wenn Gott ist, so ist der Mensch unfrei, der Mensch kann und soll aber frei sein, also gibt es keinen Gott. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.

Hier zeigt sich wie der Materialismus die Menschheit zur Freiheit erzieht. Nur ist es bei Bakunin eher umgekehrt: Seine Freiheitsliebe hat ihn zum Materialisten gemacht. Seinen Glauben an Gott hätte er gern behalten, wenn er nicht dadurch in diesen Teufelskreis gekommen wäre.Hier zeigt sich auch, warum Mackay von Steiner nichts mehr hören will, als dieser zum Theosophen wird. Steiner wird damit nicht nur zum Spinner, sondern noch dazu gefährlich. Wer dem Materialismus abschwört, der stellt zugleich die Freiheit in Frage. Bakunin und Mackay sind sich wenigstens in dieser Frage einig: Ohne Materialismus keine Freiheit.Bei Mackay klingt es so:

Ich glaubte nie an einen Gott da droben,
Den Lügner oder Toren nur uns geben.
Ich sterbe - und ich wüßte nichts zu loben
Vielleicht nur Eins - daß wir nur einmal leben!

Das Paradoxe dabei ist, daß das Gedicht, woraus ich diese Zeilen entnommen habe, von Steiner selbst zitiert wird und er dem sogar ausdrücklich zustimmt. Dann läßt sich schon besser nachvollziehen, wieso Mackay von der späteren Wandlung Steiners überrascht gewesen ist. Steiner selber kann man aber auch besser verstehen, wenn man sich den Kontext etwas näher anschaut. Steiner zitiert aus derselben Gedichtssammlung auch ein Jugendgedicht von Mackay, das noch stark religiös gefärbt ist. Diesem Gedicht stimmt er auch zu, mit der Begründung: Wer sich als Jugendlicher so stark hingeben konnte, der darf sich später auf sich selbst stellen. Er macht es nicht aus innerer Armut. Es geht also nicht nur darum, ob Religiosität oder nicht, sondern darum welche Religiosität. Und daher auch welcher Materialismus. Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. Für Mackay ist dagegen bezeichnend, daß er diese Jugendgedichte aus den späteren Auflagen der Sammlung entfernt hat. Was Steiner zu diesen Gedichten zu sagen hatte, scheint ihm also nicht besonders eingeleuchtet zu haben.Ähnliches ließe sich von Bakunin sagen, sobald man seine Jugendbriefe, insbesondere die Briefe an seine Schwester, heranzieht. Dort ist Gott noch allgegenwärtig. Seine engsten Freunde sind auch ziemlich verblüfft gewesen, als er plötzlich zum Atheisten wurde. Mit einer solchen Bekehrung hatte keiner gerechnet, auch nicht diejenigen, welche selber Atheisten waren.Materialismus ist also nicht gleich Materialismus. Religiosität ist aber auch nicht gleich Religiosität. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis Steiners. Er beschreibt mit der größten Selbstverständlichkeit die verschiedensten geistigen Wesenheiten. Sie werden so konkret, daß die Sammelbezeichnung Gott, oder auch Teufel, demgegenüber abstrakt klingt. Aber gerade bei dieser Beschreibung wird deutlich, daß der Mensch den Materialismus brauchte, um zur Freiheit geboren zu werden. Der Materialismus ist für Gott das Mittel gewesen, sich zugunsten der menschlichen Freiheit zu entmachten. Einmal geboren kann aber diese Freiheit aus dem Materialismus herauswachsen. Steiner kritisiert nicht, daß es zum Materialismus gekommen ist, sondern daß es dabei bleibt. Es ist natürlich leichter frei zu sein, wenn man allein bleibt. Hat sich die Freiheit aber befestigt, dann kann sie es sich leisten, noch dazu religiös zu sein.So gesehen ist Steiner nicht mehr ein Anarchist, der die Freiheit an Gott verraten hat, sondern ein Philosoph der Freiheit, der darüber enttäuscht worden ist, wie wenig die Anarchisten aus ihrer Freiheit gemacht haben.Enttäusch wird man aber auch, wenn man lesen muß, wie Bakunin in einer Vortragsnachschrift von Steiner zitiert wird. Die oben erwähnte Formel sieht nämlich dort ganz anders aus:

Wenn Gott ist, so ist der Mensch frei, der Mensch ist Sklave, also gibt es keinen Gott. Ich bin überzeugt, daß niemand aus diesem Kreise heraus kann, und jetzt laßt uns wählen.

Vorhin war der Mensch unfrei, wenn Gott ist, nun soll genau das Gegenteil der Fall sein: Wenn Gott ist, so ist der Mensch frei. Und die Verwirrung geht noch weiter. Im Zitat von Bakunin sollte der Mensch frei sein, nun gilt stattdessen: Der Mensch ist aber unfrei. Das Einzige, was bei einer solchen Formel noch verwandt mit Bakunin bleibt, ist der Schluß, der daraus zu ziehen ist: Also bin ich Materialist.Steiner geht es hier allerdings nicht um diesen Schluß. Er geht vielmehr auf den Ausgangspunkt der Formel ein. Seine Kritik richtet sich an Bakunins Freiheitsauffassung. Bei Bakunin soll es immer heißen: Der Mensch ist frei oder unfrei. Frei kann man aber nicht sein, sondern nur werden. Die Freiheit ist dem Menschen nicht gegeben, er muß sie sich selbst erringen. Mit meinen Worten: Steiner geht es um eine Freiheit, die alle Passivität überwunden hat, um eine aktive Freiheit. Für eine solche Auffassung gibt es in der Tat keinen Platz bei der Formel von Bakunin, wie sie von Steiner zitiert wird. Bei der Originalformel aber schon. Dort heißt es: Der Mensch kann und soll frei sein. Bei Bakunin gilt also auch, daß die Freiheit nicht gegeben ist, sondern errungen werden muß.Bleibt man bei der Formel, die tatsächlich von Bakunin stammt, so stellt sich eine andere Frage. Dort geht es, wie bei der von Steiner zitierten Abwandlung, schon um ein entweder - oder. Zwar nicht darum, ob Freiheit oder Unfreiheit, aber darum ob Freiheit oder Religion. Eigentlich wäre es für Steiner Grund genug, um die Formel von Bakunin abzulehnen, weil seine Freiheit und seine Religion sich, anders als die von Bakunin, nicht unbedingt ausschließen. Im Rückblick auf die Zeit seiner Zusammenarbeit mit Mackay spricht Steiner von einer Versuchung. Er sei nah daran gewesen, den Bereich der inneren Freiheit, wie er ihn in seiner Philosophie der Freiheit ausgearbeitet hatte, zu verlassen und diese innere Freiheit mit einer äußeren Freiheit zu vertauschen. Bei dieser Aussage habe ich mich zwischen zwei Interpretationen noch nicht entscheiden können. Sie läßt sich, ausgehend vom vorigen Kapitel, so interpretieren, daß die Philosophie der Freiheit die Betonung auf die Wirklichkeit der Freiheit, Mackay dagegen auf die Möglichkeit der Freiheit legt. Nimmt man dieses Kapitel über die Religion hinzu, dann fragt sich ob Steiner unter äußerer Freiheit nicht auch etwas anderes gemeint haben kann. Ist eine Freiheit, die unbedingt den Materialismus braucht, nicht auch eine äußere Freiheit? War es keine Versuchung wert, weiter über die geistige Welt zu schweigen, um mit den einzigen Freiheitsliebenden seiner Zeit weiter zusammenarbeiten zu können? Dies sind alles Überlegungen, die Steiner hätte anstellen können, wenn er nur Bakunin richtig zitiert hätte. Nun fragt sich, wie er dazu kommt, Bakunin falsch zu zitieren.In seiner Bibliothek steht ein Exemplar von Bakunins Gott und der Staat aus den neunziger Jahren. Dort hätte er das richtige Zitat nachlesen können. Es läßt sich allerdings nicht nachweisen, daß er aber das Buch nicht nur besessen, sondern auch gelesen hat. Gelesen hat er aber auf jeden Fall « Der Anmarsch des Pöbels » von Dmitri Mereschkowski, wie es sich aus dem Zusammenhang seines Vortrages vermuten läßt, und wie ein Blick in seine Bibliothek es bestätigt: das Buch enthält nämlich Kommentare aus seiner Hand. Gehofft habe ich natürlich, daß Mereschkowski es gewesen ist, der Bakunin falsch zitiert. Steiner hätte den Fehler nur übernommen. Ihm wäre nur vorzuwerfen, daß er das Zitat nicht nachgeprüft hat. Schon schlimm genug. Mereschkowski zitiert Bakunin aber fast richtig, nämlich wie folgt:

Gott ist, also ist der Mensch - Sklave. Der Mensch ist frei, also gibt es keinen Gott. Ich bin überzeugt, daß niemand aus diesem Kreise herauskann, und nun lasset uns wählen.

Mereschkowski ist es also gewesen, der aus der aktiven Freiheit von Bakunin eine passive Freiheit gemacht hat: Der Mensch ist frei. Sonst ist aber bei seinem Zitat alles richtig. Gott führt hier wie beim Originalzitat von Bakunin zur Sklaverei und nicht zur Freiheit. Liest man aber bei Mereschkowski weiter, so kommt heraus, daß er sich mit dieser Formel von Bakunin nicht zufrieden gibt. So wie Bakunin die Formel von Voltaire aufgegriffen und verwandelt hat, so greift Mereschkowski die Formel von Bakunin auf und formt sie zu einer eigenen Formel um. Diese Formel könnte ich jetzt zitieren. Dies brauche ich aber eigentlich nicht mehr, weil ich das schon gemacht habe. Die Formel von Mereschkowski ist dieselbe Formel, die Steiner oben dem Bakunin zugeschrieben hat!

Wenn Gott ist, so ist der Mensch frei, der Mensch ist Sklave, also gibt es keinen Gott. Ich bin überzeugt, daß niemand aus diesem Kreise heraus kann, und jetzt lasset uns wählen.

Gründe für diese Verwechslung lassen sich nur vermuten. Mereschkowski wird nicht müde zu betonen, wie Bakunin trotz seiner Ablehnung Gottes seine frühere religiöse Gesinnung behalten hat, nämlich seinen fanatischen Eifer. Er ist nur vom Orthodoxen zum Ketzer geworden. Er ist aber religiös geblieben. Bei Mereschkowski ist diese Aussage eher verdächtig, weil er als Christ überall Religiöses sehen will. Bezüglich Herzen, einem Freund von Bakunin, geht Mereschkowski noch weiter. Er unterstellt ihm, daß er zwar bewußt antireligiös gewesen ist, daß er aber unbewußt zu seiner eigenen Behauptung tendiert hat: Ohne Gott, gibt es keine Freiheit. Vielleicht hat Steiner diese Bemerkung nicht nur auf Herzen, sondern auch auf Bakunin bezogen. Das könnte ich gerade noch verstehen. Steiner macht aber an dieser Stelle überhaupt keinen Unterschied zwischen bewußt und unbewußt. Stimmt die Nachschrift, dann tendiere ich also zu einer anderen Interpretation: Steiner hat das Buch von Mereschkowski einfach nicht aufmerksam genug gelesen.Zu diesem Schluß war ich gekommen, als ich von Karl-Martin Dietz auf eine weitere Stelle aufmerksam gemacht wurde, wo Steiner sich vier Jahre früher über Bakunin ausspricht. Dort geht es auch um Gott und die Freiheit. Der Unterschied ist nur, daß Steiner diesmal Bakunin fast richtig zitiert, nämlich so wie er von Mereschkowski zitiert wird.

Wenn Gott existiert, so ist der Mensch Sklave. Der Mensch ist frei, also gibt es keinen Gott.

Steiner interessiert hier auch nicht, ob Bakunins Freiheitsauffassung aktiv oder passiv ist, sondern nur der Kontrast zur Formel von Voltaire. Da dieses richtiges Zitat früher entstanden ist als das falsche, so steht für mich fest, daß die Nachschrift mit dem falschen Zitat nicht stimmen kann. Wer von Steiner viel hält, mag dadurch erleichtert sein. Nicht Steiner sondern der Schreiber hat gepfuscht. Dies hat er aber so raffiniert gemacht, daß einem dabei jede Nachschrift verdächtig wird.Es lohnt sich daher möglichst viele Stellen zu vergleichen, wo Steiner dasselbe Thema anschneidet. Dieser Vergleich ist nicht nur bei unseren beiden Stellen über Bakunin lehrreich. Er läßt sich auf all die Stellen ausweiten, bei denen es Steiner um passive und aktive Freiheit geht. Als typisches Beispiel für passive Freiheit bringt Steiner sonst nicht Bakunin, sondern immer wieder Wilson an. Und diesmal stimmt auch das Zitat:

« Was ist Freiheit? » sagt der andere. « Das Bild, das mir vorschwebt, ist eine große, mächtige Maschine. Setze ich die Teile so unbeholfen und ungeschickt zusammen, daß, wenn ein Teil sich bewegen will, er durch die anderen gehemmt wird, dann verbiegt sich die ganze Maschine und steht still. Die Freiheit der einzelnen Teile » - wohlgemerkt: die Freiheit der Teile der Maschine! - « würde in der besten Anpassung und Zusammensetzung aller bestehen. » - Um die menschliche Freiheit zu charakterisieren, sagt er das alles! - « Wenn der große Kolben einer Maschine vollkommen frei laufen soll, so muß man ihn den anderen Teilen der Maschine genau anpassen. Dann ist er frei ... » - Um zu wissen, wie der Mensch frei wird, untersucht man also die Maschine! - «... dann ist er frei, nicht weil man ihn isoliert und für sich allein läßt, sondern weil man ihn sorgfältig und geschickt den übrigen Teilen des großen Gefüges eingefügt hat. Was ist Freiheit? Man sagt von einer Lokomotive, daß sie frei laufe. Was meint man damit? Man will sagen, die einzelnen Bestandteile seien so zusammengesetzt und ineinandergepaßt, daß die Reibung auf ein Minimum beschränkt wird. Man sagt von einem Schiff, das leicht die Wellen durchschneidet: wie frei läuft es, und meint damit, daß es der Stärke des Windes vollkommen angepaßt ist. Richte es gegen den Wind, und es wird halten und schwanken, alle Planken und der ganze Rumpf werden erzittern, und sofort ist es gefesselt. » - jetzt zeigt er, daß das so geht bei der menschlichen Natur wie bei der Maschine, bei dem Dampfschiff und so weiter: « Es wird nur dann frei, wenn man es wieder abfallen läßt und die weise Anpassung an die Gewalten, denen es gehorchen muß, wieder hergestellt hat. »

Freiheit heißt also Anpassung. Da hat Steiner wirklich ein gutes Beispiel gefunden: Passiver geht nicht. Zugleich deutet er an, das Problem würde darin liegen, daß Wilson das Vorbild der menschlichen Freiheit bei der Maschine sucht. Dies ergänzt sich gut mit einer anderen Stelle, wo Steiner von Wilsons Freiheit sagt, sie sei keine Freiheit, weil Wilson den Menschen auf den Leib reduziere. Als weiteren Grund gibt er dort an, daß Wilson den Unterschied zwischen Tier und Mensch unterschätzt. Bei ihm soll es daher keine richtige Entwicklung geben.Was dahinter steckt, ist wieder die Frage, wie weit sich der Darwinismus mit der Freiheit verträgt. Wie steht es um die menschliche Freiheit, wenn der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen abstammt ? Diese Frage stellt sich nicht nur bei Wilson. Auch der späte Bakunin führt den Menschen gern auf das Tier zurück. Wer diese Frage beantworten will, muß aber zuerst klären, was alles unter einer richtigen Entwicklung verstanden werden kann.Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird unter Entwicklung verstanden, daß vom Einfachsten zum Kompliziertesten aufgestiegen wird. Dies ist die allgemeingültige Entwicklungstheorie. Die Entwicklung hat nur eine Richtung. Sogar Kropotkin hält sich daran. Die Richtung, die er der Entwicklung unterstellt, ist zwar unüblich. Mit Darwin ist er sich aber trotzdem einig, daß der Mensch die Richtung der tierischen Entwicklung nur weiterführt. Richtungswechsel darf es in der Entwicklung nicht geben. Kropotkin lehnt deswegen Hegel als völlig unwissenschaftlich ab, weil dieser in jeder Entwicklung nach Richtungswechseln sucht. Die Entwicklung geht vom Positiven aus, schlägt dann ins Negative um, um in einem dritten Schritt zuletzt zu einer höheren Synthese zu kommen. Dies ist für Hegel eine richtige Entwicklung, eine dialektische Entwicklung.Der späte Bakunin konnte sich zwar für den Darwinismus begeistern. Sogar gegen eine Entwicklung vom Einfachsten zum Kompliziertesten hat er nichts einzuwenden. Auf die Idee, Hegel deswegen zu verdammen, ist er aber nicht gekommen. Er baut vielmehr auf das weiter auf, was er selber aus Hegel gemacht hat. Als Junghegelianer hat er nämlich den Richtungswechsel bei der Entwicklung noch stärker betont als Hegel selbst. Ihn interessiert nur der Umschlag vom Positiven ins Negative.

Das Positive und das Negative sind folglich nicht gleichberechtigt, wie die Vermittelnden es denken; - der Gegensatz ist kein Gleichgewicht, sondern ein Übergewicht des Negativen, welches der übergreifende Moment desselben ist; - das Negative, als das bestimmende Leben des Positiven selbst, schließt in sich allein die Totalität des Gegensatzes ein und so ist es auch das absolut Berechtigte.

Die spätere Synthese, die von Hegel angestrebt wird, interessiert ihn überhaupt nicht. Dies drückt er in einer Formel aus, die ihn als Revolutionären berühmt gemacht hat: Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schöpferische Lust!  Wer die alte Welt zerstört, schafft zugleich eine neue Welt. Und diese Art der Dialektik ist es, die Bakunin auf den Darwinismus überträgt.Was bei Bakunin als « Synthese » aus Hegel und Darwin herauskommt ist ziemlich einzigartig. Der Mensch stammt also vom Tier ab, schlägt aber durch die Entwicklung ins genaue Gegenteil um. Er wird zum negativen Bild des Tieres, der Natur. Ist das Tier immer Sklave, so wird der Mensch frei. Der Materialismus führt eben immer zur Freiheit. Nur führt er bei Bakunin, anders als bei Wilson, zu einer aktiven Freiheit. Für weise Anpassung und Gehorsam hat Bakunin eben nichts übrig.

Alle Zweige moderner, gewissenhafter und ernster Wissenschaft wirken zusammen, diese große, diese grundlegende und entscheidende Wahrheit zu verkünden: Jawohl, die soziale Welt, die menschliche Welt im eigentlichen Sinne, die Menschheit mit einem Wort ist nichts anderes als die - für uns und unseren Planeten wenigstens - letzte und oberste Entwicklung, der höchste Ausdruck der Animalität. Da aber jede Entwicklung notwendig eine Verneinung einschließt, nämlich die Verneinung ihrer Grundlage oder ihres Ausgangspunktes, ist die Menschheit zugleich und vor allem die bewußte und fortschreitende Verneinung der tierischen Natur in den Menschen, und gerade diese ebenso vernünftige als natürliche Verneinung, die nur vernünftig ist, weil sie natürlich ist, geschichtlich und logisch wie die Entwicklungen und Produkte aller Naturgesetze, gerade diese Verneinung bildet und schafft das Ideal, die Welt der geistigen und moralischen Überzeugungen, die Ideen.
Ja unsere ersten Vorfahren, unsere Adams und Evas waren, wenn nicht Gorillas, doch sehr nahe Verwandte des Gorilla, omnivore, intelligente und wilde Tiere, die in unendlich höherem Grade als alle anderen Tierarten die zwei wertvollen Fähigkeiten besaßen: die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören.

Und wie steht es dann um die menschliche Freiheit, wenn man den Menschen nicht vom Affen abstammen läßt ? Wer den Menschen von Gott abstammen läßt, schafft ihn auch nicht nach dem Bild Gottes, sondern nach dessen Gegenbild. Er macht aus ihm das Gegenteil von Gott. Gott ist absolut frei, der Mensch soll daher Sklave sein. Die Theologen und Idealisten sind deswegen alle Feinde der menschlichen Freiheit. Sie gehören zur alten positiven Welt und damit abgeschafft.

Sylvain Coiplet

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Tabelle 2 : Überblick über die verschiedenen Bakunin-Zitate

 

 

Bakunin
im Original
1871Wenn Gott ist, so ist der Mensch unfrei,
der Mensch kann und soll aber frei sein,
also gibt es keinen Gott.

Bakunin
laut Mereschkowski
1907Gott ist, also ist der Mensch - Sklave.
Der Mensch ist frei, also gibt es keinen Gott.

Bakunin
laut Steiner
1914Wenn Gott existiert, so ist der Mensch Sklave.
Der Mensch ist frei, also gibt es keinen Gott.

Mereschkowski
contra Bakunin
1907Wenn Gott ist, so ist der Mensch frei,
der Mensch ist Sklave, also gibt es keinen Gott.

Bakunin
laut Steiner
1919Wenn Gott ist, so ist der Mensch frei,
der Mensch ist Sklave, also gibt es keinen Gott.

 

Sylvain Coiplet