Die Sekem Vision - Das Herz versucht zu verstehen

01.04.2004

Auszug aus Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten

Auf der Rückreise im Flugzeug dankte ich Allah, dass ich jetzt nicht in Ägypten, sondern in dem schönen Österreich mit meiner Frau und zwei Kindern lebte und auf eine erfolgreiche Karriere blicken konnte. Trotzdem spürte ich, dass die Bilder und Begegnungen mich nicht losließen. Jedes Mal in der Frühe erwachte ich von neuem mit meinen Erlebnissen und merkte, wie mich die Ereignisse dieser Reise verwandelten. Ich beschaffte mir weitere Informationen über den Zustand Ägyptens. Während meiner Reise hatte ich erfahren, wie versalzt die Böden waren und in welchem Übermaß Kunstdünger sowie Pestizide verwendet wurden. Von Österreich aus erfuhr ich nun noch weit Schlimmeres über die Wirtschaft Ägyptens, über die Lage von Bildungs und Gesundheitswesen, über die Landwirtschaft und die Handelsbeziehungen, als ich aus meinen Gesprächen mit Ägyptern schon erfahren hatte. Darüber konnte ich mit den ägyptischen Botschaftern in Bonn und in Wien sprechen, die allerdings nach meinem Eindruck dazu neigten, die Lage eher zu beschönigen. Wenn ich dann aber Zahlen und Fakten vorlegte, die ich mir beschafft und in einer umfangreichen Studie zusammengefasst hatte, löste ich lähmende Betroffenheit bei ihnen aus. Dabei wollte ich niemandem Vorwürfe machen, sondern die Probleme mit anderen Menschen bewegen, um noch mehr Informationen zu bekommen. Die aufkommenden Gefühle versuchte ich in mir selbst zu klären.

Währenddessen beschäftigte ich mich weiter mit der anthroposophischen Geisteswissenschaft und lernte auch ihre praktische Anwendbarkeit auf viele Lebensgebiete näher kennen. Und je mehr ich mich in sie vertiefte, desto mehr ergaben sich mir aus dieser Richtung Antworten auf die bohrenden Fragen und die innere Unruhe, die in mir entstanden waren. Immer wieder blitzten im Nachsinnen über das Gelesene Lösungsansätze auf, durch die etwas verändert werden könnte. Insbesondere faszinierte mich die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die aus der Anthroposophie entwickelt worden war und mit der man in Europa schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich arbeitete. Durch sie, so war ich sicher, würde die landwirtschaftliche Situation in Ägypten entscheidend verbessert werden können. Dennoch blieben viele Fragen offen, mit denen ich oft zu Martha Werth ging. Eines Tages wies sie mich auf einen Vortrag von Georg Merckens hin, der in St. Johann stattfinden sollte. Merckens war Berater der biologisch-dynamisch wirtschaftenden Höfe für Österreich und Italien. Ich erlebte ihn als zauberhaften Erzähler, der mit wunderbarer Stimme, Größe und Anschaulichkeit vortrug. Nach dem Vortrag sprach ich ihn an, weil ich mehr über die biologisch-dynamische Landwirtschaft wissen wollte. Wir fanden eine Woche, in der ich ihn auf einer Tour durch Italien begleiten sollte. Auf dieser Reise wollte er mir das Wesentliche erzählen, das ich gleich auch anschaulich erleben könnte. Endlich hatte ich das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben, der meine Ansicht verstand, dass durch die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise Ägyptens Landwirtschaft zu reformieren wäre: Der Beginn musste meiner Ansicht nach mit dem Aufbau einer tragfähigen Landwirtschaft gemacht werden, der weitere Projekte folgen könnten. Und Georg Merckens ging auf meine Pläne ein, obwohl er öfter erstaunt fragte: "Wo nehmen Sie als Nicht-Landwirt den Mut dazu her?"

In dieser Phase meiner Entwicklung kannte mein Erkenntnisdrang jedoch keine Grenzen. Es gab nichts, was ich nicht wissen konnte, nichts, was ich nicht hätte leisten können. Wo waren die Grenzen? Ich kannte sie nicht! Im Laufe meines Lebens hatte ich mir drei Fähigkeiten angeeignet, auf die ich mich verlassen konnte: zum einen eine hohe Lernfähigkeit. Als zweites erlebte ich immer wieder, dass ich auf Menschen zugehen und sie gewinnen konnte; und zuletzt verfügte ich über eine enorme Schaffenskraft. Ich war der Ansicht, dass ich alles konnte, wenn ich nur genügend Zeit zum Planen und zur Vorbereitung hätte. Denn der einzig begrenzende Faktor, das musste ich schon zugeben, war für mich die Zeit. Doch ich lernte, Prioritäten zu setzen und zu wissen, was im Au-augenblick für mich wesentlich war.

Jetzt war es vorrangig, die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise kennen zu lernen. Das tat ich, während ich mit Georg Merckens durch Italien fuhr. Auf den langen Fahrten von Hof zu Hof, ich war sein Chauffeur, erzählte und erklärte er mir die Grundlagen des biologisch-dynamischen Anbaus. Von den Bauern der großen italienischen Höfe wurden wir immer wieder freundlich empfangen. Ich sog alles, was er mit den Landwirten besprach und was ich sehen konnte, auf wie ein Schwamm. Über die Felder und durch die Ställe gehend zeigte er mir an praktischen Beispielen, was aus seiner Sicht in der Umsetzung der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise gelungen war und was noch nicht gelungen erschien. Jeden Abend fand eine Versammlung der Bauern statt, an der er Hintergrundwissen vermittelte und Fragen beantwortete. Bei alldem hörte ich mit größter Konzentration zu, führte interessante Gespräche mit den Bauern und glaubte, bald auch die entscheidende Schwachstelle der biologisch-dynamischen Landwirtschaft herausgefunden zu haben: Es war die mangelnde Kenntnis über die Vermarktung der Produkte. Auch Georg Merckens war kein Vermarkter. Als ich ihn nach dem von Steiner angeregten Prinzip der "Assoziation" fragte - also einer Verbindung der am Wirtschaftsprozess beteiligten Menschen, die sich kennen sollten, um die gegenseitigen Bedürfnisse zu erkunden und zu erfüllen - winkte er ab: "Davon sind wir weit entfernt. Das ist alles Ideal. Das können wir noch nicht!" Ich jedoch war überzeugt, dass man gerade diesen Punkt bei einem Beginn in Ägypten von vorn herein sehr bewusst angehen musste.

Am Ende dieser Woche fuhr ich ihn zurück nach Ulm. In Bad Waldsee machte er mich noch mit Roland Schaette bekannt: "Sie müssen einen Betrieb kennen lernen, der biologisches Tierfutter, Tierarzneimittel und Pflanzenschutzprodukte herstellt, wenn Sie Landwirtschaft aufbauen wollen." Der junge Wissenschaftler hatte gerade bei Professor Wagner in München promoviert und erzählte mir begeistert von seiner Arbeit über Baldrian, gab mir seine Dissertation mit und führte mich durch seinen Betrieb. Die Firma erschien mir im Vergleich zu den mir bekannten großen eher klein und bescheiden und mit einfachsten Geräten ausgestattet. Hier verfügte man aber damals schon über eine über fünfzigjährige Erfahrung im Bereich der biologischen Tierarzneimittel. Die Offenheit, mit der Roland Schaette mir begegnete, bewirkte, dass ich ihn gleich ins Herz schloss, auch weil er zu den wenigen gehörte, die meine Fragen ernst nahmen und mich nicht als Dilettanten wegschoben. Er ging auf alles ein. So verabschiedete ich mich von ihm in der Hoffnung, dass wir zusammen arbeiten könnten.

Meine "italienische Reise" mit Georg Merckens bildete einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu meiner Entscheidung, nach Ägypten zurückzugehen. Vor meinem inneren Auge war die Vision eines auf Ganzheitlichkeit ausgerichteten Projektes entstanden, von dem eine kulturerneuernde Wirkung ausgehen könnte: Zur Landwirtschaft müssten ein oder mehrere Wirtschaftsbetriebe, dann eine Schule sowie verschiedene Bildungseinrichtungen mit Kulturangeboten und eine medizinische Versorgung hinzukommen. Die Aufgabe der Menschenbildung stand für mich an oberster Stelle. Für all dies würden aber konkrete Institutionen geschaffen werden müssen, damit es nicht bei bloßen Idealen bliebe. Daher begann ich, mich auf die Suche nach Mitstreitern zu begeben. Mir war klar, dass ich ein frei finanziertes Projekt ohne jede staatliche Unterstützung umsetzen wollte. Ich wusste nämlich, dass ich auf Schwierigkeiten mit den ägyptischen Behörden stoßen würde (die allerdings später schlimmer wurden, als ich sie mir je vorher ausgemalt hatte). Ich hoffte, idealistische Menschen zu finden und zur Mitarbeit für eine kulturerneuernde Unternehmung zu begeistern. Auch zur Zeit Mohammed Alis hatte etwas Derartiges stattgefunden, als dieser Reformer im 19. Jahrhundert Europäer nach Ägypten gerufen hatte, um sie für den Aufbau des Landes zu engagieren. Mit Ägyptern allein würde es nicht zu schaffen sein. Aber durch eine kulturelle Begegnung zwischen Ägyptern und Europäern könnte etwas Heilsames für dieses geschundene Land entstehen, so war ich sicher. Ich sprach darüber auch mit einigen mir bekannten ägyptischen Ärzten und Landwirten. Sie fanden die Idee zwar fantastisch, hielten sie aber nicht für umsetzbar. Einige erzählten, dass sie sich selbst an Veränderungen in Ägypten versucht hätten, aber an der schwerfälligen Bürokratie gescheitert seien. Sie rieten mir ab, irgendetwas in dieser Hinsicht zu unternehmen. So erlebte ich immer wieder, wenn ich mit Menschen über meine Idee sprach, dass sie diese nicht mit ihren Herzen verstehen konnten, dass sie, anders ausgedrückt, nicht den Mut besaßen, zu beginnen.

In Bonn besuchte ich die ägyptische Botschafterin, eine kluge Frau, und erzählte ihr von meinen Überlegungen, die sich allmählich zu einem konkreten Projekt verdichtet hatten. Sie meinte: "Das ist ja ein Traum, was Sie da erzählen. Wunderschön!" - "Erzählen Sie dem Parlament, dass es so etwas geben könnte!", antwortete ich. - Doch nichts geschah. Ich fand einfach niemanden, der bereit war, mitzumachen.

Drei Jahre waren seit meiner letzten Ägyptenreise vergangen, in denen sich in mir der Gedanke an eine Rückkehr nach Ägypten immer mehr verdichtet hatte. Es wäre mir unerträglich gewesen, aufgeben zu müssen, nur weil ich keine Mitstreiter fand. So war mein Entschluss gereift, es allein zu versuchen.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ibrahim Abouleish und des Verlags Johannes M. Mayer


Die Sekem Vision - Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten