Sanktionen gegen junge Erwerbslose verfassungswidrig?

01.09.2010

Am 1. Januar 2005 trat das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ( Hartz IV) in Kraft. Die damalige rot-grüne Bundesregierung signalisierte mit diesem Gesetz ihr Scheitern im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und widmete sich fortan dem erfolgversprechenderen, da gegen einen schwächeren Gegner zu führenden Kampf, dem Kampf gegen die Arbeitslosen.

Der damit einhergehende Paradigmenwechsel prägt bis heute die politische Stimmung der Bundesrepublik. Mit dem damit vollzogenen Verrat der beteiligten Parteien an ihren ideellen Kernideen, bei der SPD eine schon fast tradierte Übung, bei den Grünen, vor dem Hintergrund ihre jungen Geschichte als Antiparteienpartei und den revolutionären Motiven ihrer Gründer wie etwa Dutschke oder Beuys, doch ein schockierender Verfall, ging eine anhaltende, resignative Politikverdrossenheit einher.

Ein Klima der Angst vor dem sozialen Absturz hat seither weiteste Teile der Gesellschaft erfasst, eine Angst die gewollt war, denn die Botschaft dieses Gesetzes war eindeutig: vollständige Unterordnung des Individuums unter die Verwertungsinteressen des Kapitals.

Das Rechtsbewusstsein der Menschen ist dabei nachhaltig auf das empfindlichste verletzt worden. Die private Empörung über das Ausgeliefertwerden durch die Regierenden wurde jedoch nicht in eine machtvolle politische Gegenbewegung umgewandelt, sondern erschöpfte sich in den anfangs eindrucksvollen Demonstrationen gegen die Agenda 2010, oder gebar so zweifelhafte Projekte wie die WASG und die Popularisierung der Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Das mehr oder weniger deutliche Bewusstsein eines Grundgedankens ist jedoch in der Bevölkerung wahrnehmbar: dass der Staat hier das Gegenteil von dem durchführt, was in einer Demokratie seine Aufgabe ist: „durch die Rechtsordnung auf den Wirtschaftskörper so zu wirken, dass der einzelne Mensch seine Eingliederung in den sozialen Organismus nicht im Widerspruche mit seinem Rechtsbewusstsein empfindet.“[1]

Die Agenda 2010 entrechtete dementgegen die Persönlichkeit gegenüber der Kapitalmacht noch mehr als bislang schon und setzte die Interessen der Wirtschaft als allein maßgebende Richtschnur des Handelns durch.

Wie ein Symbolon der Geisteshaltung dieses Projekts wirken dabei die beiden Protagonisten Peter Hartz und Gerhard Schröder: Peter Hartz hebelte als Personalvorstand systematisch über zehn Jahre lang die Rechte der Arbeitnehmer bei VW aus, indem er den Betriebsratvorsitzenden mit jährlich 200.000 Euro, insgesamt zwei Millionen Euro schmierte.

Gerhard Schröder lässt sich aktuell mit einer ähnlichen Summe seinen Vorsitz des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG bezahlen, einer Firma, welche die Nord-Stream-Pipeline plant, baut und betreibt, nachdem Schröder als Bundeskanzler den Bau dieser Pipeline politisch durchgesetzt hatte.[2] Die Nordstream wird zu 51% von dem für seine skrupellose Vorgehensweise und extreme Machtstellung innerhalb der mafiösen Wirtschaftsstruktur Russlands bekannten Staatskonzern Gazprom beherrscht.[3] In diesem wiederum zieht der „lupenreine Demokrat“ Putin über persönliche Verbindungen seine Fäden: „Seit Mai 2001 ist Alexei Miller Vorstandsvorsitzender. Aufsichtsratsvorsitzender ist seit Juni 2008 der ehemalige russische Regierungschef Wiktor Subkow. Beide sind enge Vertraute des russischen Ministerpräsidenten, Putin die dieser bereits aus seiner Tätigkeit in der Stadtverwaltung in Sankt Petersburg kennt. Bis zur Ernennung Subkows als Aufsichtsratsvorsitzender bekleidete der heutige russische Präsident diesen Posten: Dmitri Medwedew.[4]

Kapital und Macht beherrschen das Recht. Hier wie dort.

Für die in Deutschland zur Arbeitslosigkeit genötigten Menschen wird dieser Machtanspruch gegen jeden Versuch des Aufbegehrens mit Sanktionen durchgesetzt. In der Lähmung durch die allgegenwärtige Angst vor dem raschen Absturz und dem Fehlen einer politischen Alternative konnte sich in der ohnehin schon untragbaren Situation ein Skandal ersten Ranges nahezu unbemerkt etablieren: Die gesonderte, härtere Vorgehensweise gegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Neben der entwürdigenden Praxis des zwangsweisen Verbleibens erwachsener Menschen bis zum 25. Lebensjahr bei den Eltern, wurden die Sanktionen für diese Altersgruppe drastisch verschärft. So wird schon beim ersten Verstoß die Regelleistung vollständig gestrichen. Beim nächsten Verstoß auch die Leistung für Heizung und Miete. Eine Kürzung um Hundert Prozent!

Dies kann man als einen vorsätzlichen Angriff auf die Existenz des Menschen ansehen.

Man muss keine Studie in Auftrag geben, um zu wissen, dass die Folgen solcher Maßnahmen für die Betroffenen aber auch für die Gesellschaft fatal sind. Eine Explorationsstudie eines Mitarbeiters einer Beratungsstelle zeigt daher die erwartbaren Ergebnisse:

„ In vielen Fällen entstanden Problematiken die erst über monatelange Arbeit wieder aufgelöst worden sind. Folge waren nicht selten Verschuldungsprobleme, Räumungsklagen, Verweigerungen von ärztlicher Behandlung, Kündigungen von Bankkonten, Sperrungen von Telefonanschlüssen sowie eine Verschärfung der sozialen und psychischen Lage der Betroffenen“.[5]

Einige persönliche Stimmen verbildlichen die Realität des Sozialstaats bei einer Sanktion auf Null:

- „Ich war mit meinen Nerven am Ende. Man fällt seelisch runter, fällt in ein Tief“.

- „Ein Mensch der unter Druck ist, kann nicht besser sein, wenn er weiß seine Existenz steht auf dem Spiel“

- „Nachts habe ich immer Gedanken gehabt, wie komme ich an Geld, klar.“ „Stehlen kam für mich nicht in Frage“. „Mir ging es während der Sanktion schlecht, ich hatte kein Geld in der Tasche habe nichts gehabt“. „Ich hatte drei Monate Schlafstörungen und Angst“

- „Ich musste Schlafmittel nehmen um überhaupt schlafen zu können vor lauter Sorgen.“ „Ich habe wegen der Sperre gestohlen und wurde dabei erwischt.“ Zudem litt die Person unter schweren Depressionen, da sie keinen Zugang mehr zu Antidepressiva hatte.

- „Man macht sich Gedanken wie es weitergeht. Wie wird man überleben den ganzen Monat, was passiert weiter.“

- „Mein Sohn war total wütend über die Sanktionen, dem war alles egal. Die gesamte Familie hatte Angst, dass er in die Kriminalität abrutscht.“ „Ich war selber kurz davor Lebensmittel zu stehlen so schlimm war es“.

- „Die Sanktion war die schlimmste Erfahrung in meinem Leben. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran wie ich überlebe.“[6]

Die Bundesregierung dazu lapidar: „Die Bundesregierung hat keine näheren Kenntnisse darüber, wie im Sanktionsfall Hilfebedürftige ihre Lebensunterhalt bestreiten.“[7]

Mehr Gedanken zu dem Thema hat sich der Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Uwe Berlitt gemacht. Er hält die gängige Praxis für verfassungswidrig. Das Grundgesetz verbietet eine gleichheitswidrige Diskriminierung. Der demokratische Grundsatz der Gleichheit wird hier zugunsten eines unausgesprochenen autoritären Vorurteils über die jüngere Generation negiert. Menschen in der Altersgruppe unter 25 Jahren werden pauschal als besonders arbeitsunwillig kategorisiert und müssen daher mit härteren Maßnahmen als andere Erwachsene auf Linie gebracht werden.

Es ist erschreckend, wie ein Gedanke auf Stammtischniveau ohne jeglichen soliden Nachweis seiner Begründung Gesetzesform erlangen und ein elementares Grundrecht aushebeln konnte.

Dazu Richter Berlitt: „ Ich halte für verfassungswidrig die schärfere Sanktionierung der unter 25-Jährigen. Für diese Differenzierung allein nach dem Alter gibt es keinen sachlichen Grund. Es gibt keinen empirischen Beleg, nächster Punkt, dass unter 25-Jährige sanktionsunempfindlicher wären oder mehr Sanktionen brauchen, damit man sie auf den „Pfad der Tugend“ wieder zurück führt, als über 25-Jährige.“[8]

Es geht um einen zivilisierten Umgang mit der Problematik der Arbeitslosigkeit, und dabei geht es um den zivilisierten Umgang mit uns allen, denn für einen arbeitsfähigen Menschen werden Zeiten ohne Erwerbsmöglichkeit in diesem kranken System, solange es besteht, immer mehr zum biographischen Standard werden. Es geht um das Überleben jedes Einzelnen der, vor allem wenn er jung ist, mit den aktuellen Regelungen in der Gefahr schwebt in die Kriminalität, die Obdachlosigkeit, die Krankheit getrieben zu werden, dem das Leben in Würde, dem das Existenzminimum verwehrt wird aus vergleichsweise nichtigen Gründen.

Ein breites Bündnis arbeitet seit einem Jahr an der Durchsetzung eines generellen Sanktionsmoratoriums. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit einer Unterstützung ist über die Webseite des Bündnisses (www.sanktionsmoratorium.de) zugänglich.[9]

Anmerkungen

  • [1] Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, S. 62, Rudolf Steiner Verlag, Dornach: 1980
  • [2] http://www.focus.de/politik/ausland/pipeline-posten_aid_106927.html
  • [3] http://www.udo-leuschner.de/energie-chronik/051202.htm
  • [4] http://de.wikipedia.org/wiki/Gazprom
  • [5] http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/sanktionsstudie_nicolas_griessmeier_nov_2009.pdf
  • [6] Ebd.
  • [7] http://www.sanktionsmoratorium.de/
  • [8] http://www.swr.de/report/-/id=233454/nid=233454/did=6503390/1tyo2ny/index.html
  • [9] http://www.sanktionsmoratorium.de/

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