Offener Brief an Henning Kullak-Ublick und den Bund der Freien Waldorfschulen

Freies Geistesleben und Verschwörungstheorien

01.10.2015

Übersicht über die Kontroverse Freies Geistesleben und Verschwörungstheorien
zwischen Henning Kullak-Ublick und Heinz Mosmann


Sehr geehrter Herr Kullak-Ublick,

nach der Herausgabe Ihrer Broschüre über die „Reichsbürgerbewegung“ haben Sie kürzlich ein Schreiben an die Kollegien der Waldorfschulen verfasst, in dem Sie auf die europäischen „Tendenzen“ hinweisen, „in nationalistische Strukturen zurückzufallen“, und auf die Gefahren aufmerksam machen, die für die Waldorfschulen „im Namen eines vermeintlichen ‚freien Geisteslebens‘“ daraus entstehen könnten. Obwohl ich eine solche Entwicklung innerhalb der Waldorfschulbewegung für unwahrscheinlich halte, kann ich Ihre Sorgen und Befürchtungen durchaus verstehen.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich ein viel ernsteres Problem darin sehe, wenn die „zunehmende Skepsis“ gegenüber den – von Ihnen kritisch angedeuteten – „politischen Strukturen“ und „undemokratischen Entscheidungsprozessen“ mit nationalistischen oder antiamerikanischen Stimmungen in einen Topf geworfen werden. Im Unterschied zu Letzteren ist diese Skepsis nämlich sachlich begründet und keineswegs nur Ergebnis instinktiv-emotionaler Vorurteile. Die Vermengung führt zu einer grundsätzlich falschen, weil undifferenzierten Beurteilung der durchaus vielfältigen gesellschaftlichen Protestbewegungen, die sich zur Zeit unter anderem als Friedensbewegung zu artikulieren bemühen. So erscheint diese Bemühung von vornherein als suspekt, noch bevor sich die Menschen ein eigenes Urteil darüber gebildet haben. Als Lehrer müsste ich mir bei einem solchen Vorgehen mangelnde Unvoreingenommenheit, wenn nicht gar bewusste Indoktrination vorwerfen lassen.

Wer sich zu den Missständen bestehender Verhältnisse kritisch äußert, muss immer damit rechnen, dass sich destruktive und chaotisierende Kräfte diese Kritik zunutze machen wollen. Daher ist es dringend geboten, darin stimme ich mit Ihnen überein, sich von extremistischen Positionen so deutlich wie möglich abzugrenzen. Allein, dies darf nicht dazu führen, soviel sollten wir aus den Zeiten des Kalten Krieges gelernt haben, dass wir uns der Kritik enthalten und den Status quo tabuisieren. Bedenken Sie bitte: keine der individualistischen und freiheitlichen Errungenschaften der modernen Gesellschaft ist durch Anpassung an bestehende Verhältnisse entstanden, sondern sie basieren durchweg auf der „Skepsis oder Ablehnung der bestehenden politischen Strukturen“. Ich denke, dass viel Unfug, wie er heute von populistischen oder – wie Sie es nennen – „neurechten“ Gruppen verbreitet wird, durch schlichte Darlegung von Fakten, im Geschichtsunterricht etwa, geklärt werden kann. Um über den Unfug der „Reichsbürgerbewegung“ aufzuklären, bedarf es keiner besonderen pädagogischen „Weiterbildung“. Viel schwieriger hingegen ist es, den etablierten Strukturen und Machtverhältnissen gerecht zu werden, die unser politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben bestimmen und uns in eine Entwicklung hineintreiben, die unserer Pädagogik und dem Impuls eines freien Geisteslebens diametral entgegen wirkt.

Dass die Waldorfschulbewegung wie auch andere Wirkensfelder der Anthroposophie mancherlei Gefährdungen ausgesetzt ist, wissen wir als Historiker zur Genüge. Unsere Pädagogik muss sich heute immer wieder gegen Vorwürfe zur Wehr setzen, die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners bewege sich in gefährlicher Nähe zu faschistischen, antisemitischen oder ähnlichen Ideologien, und wir tun uns schwer, die Anpassungsbereitschaft anthroposophischer Einrichtungen in der Vergangenheit zu verstehen oder gar zu entschuldigen. Ich ziehe aus solchen Erfahrungen anscheinend andere Konsequenzen als Sie, denn ich bin der Ansicht, eben deshalb sollten wir heute besonders kritisch gegenüber Konformität und Anpassungstendenzen jeder Art sein.

Nicht wenige Waldorfpädagogen sehen heute mit Sorge auf eine Entwicklung, in der die innere Qualität, die geistige Substanz dieser Pädagogik mit ihrer rasanten äußeren Ausbreitung nicht Schritt zu halten vermag. Damit geht die Tendenz einher, gesellschaftliche und staatliche Anerkennung durch Anpassung an etablierte Strukturen und außenbestimmte Standards zu erkaufen, im Bereich der Lehrerbildung ebenso wie in Lehrplan- und Prüfungsgepflogenheiten. Ich schätze Ihr öffentliches Eintreten für die Waldorfschulbewegung, und es mag sein, dass jemand, der täglich in Politik und Öffentlichkeit unsere Pädagogik zu rechtfertigen bemüht ist, versucht ist solchen Tendenzen nachzugeben. Ich glaube allerdings, dass viele meiner Kollegen weniger eine rechtsnationale Unterwanderung unserer Schulbewegung befürchten, als den schleichenden Substanzverlust, der an den genannten Symptomen erkennbar ist.

Sie beklagen eine „an unseren Schulen oft zu wenig akzentuierte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen“. Ein solches Pauschalurteil mag eine gewisse Berechtigung haben, aber Sie sagen damit nur eine halbe Wahrheit. Wo immer in unserem etablierten Bildungssystem besagte „Auseinandersetzung“ stattfindet, ist damit noch lange kein Ausgangs- oder Ansatzpunkt für eine gedeihliche Entwicklung gewonnen. Nimmt man diese „Auseinandersetzung“ nämlich wirklich ernst, muss man auch bereit sein, mit manchen Tabus zu brechen, nicht nur im Bereich des Bildungs- und Wissenschaftsbetriebs, sondern auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet. Hierzu bedarf es konstruktiver und lebensfähiger Sozialideen. Wenn der anthroposophische Sozialimpuls, dem die Waldorfschule ihre Existenz verdankt, in einem solchen Zusammenhang von Ihnen nicht einmal erwähnt wird, stattdessen der Begriff des „freien Geisteslebens“ nur in einem Negativzusammenhang mit rechtspopulistischen Demagogen fällt, ist das zumindest unangemessen. Ich fürchte aber, es ist symptomatisch und geschieht mit Rücksicht auf offizielle Stellen und die öffentliche Meinung, denen man kein Verständnis für diesen Sozialimpuls zutraut.

Überhaupt scheint mir der Gebrauch gewisser Schlüsselwörter in Ihrem Schreiben charakteristisch zu sein für den Versuch, sich der Klischees unserer medialen Öffentlichkeit zu bedienen, um im Schulterschluss gegenüber einem gemeinsamen Feindbild die Loyalität und die Bereitschaft unserer anthroposophischen Bewegung zu demonstrieren, gemeinsam für die Werte der freiheitlich demokratischen Grundordnung einzustehen. Dieses hehre Ideal wird aber zur bloßen Phrase, wenn man unkritisch die Legitimität vorhandener Machtstrukturen bzw. die Integrität der darin handelnden Verantwortlichen voraussetzt. Begriffe wie „Kontrolle der Finanzmärkte“, „gleichgeschaltete Presse“ und „heimliche Weltregierung“ dagegen, über die Aufklärung zu suchen wahrlich nottäte, werden als vermeintliche Unterstellungen der „Verschwörungstheoretiker“ in den Umkreis rassistischer Ideen gerückt und bekommen den Status von obskuren Unwörtern, von denen man besser die Finger lässt.

Besonders irritiert in diesem Zusammenhang der völlig unreflektierte und diskriminierende Gebrauch des Ausdrucks „Verschwörungstheoretiker“. Jeder Versuch, die Hintergründe des politischen Geschehens zu erschließen und in dem Gewirr aus Medienmeinungen und Mutmaßungen die Konturen der Wirklichkeit und die Strategien der Macht zu entdecken, wird auf diese Weise diffamiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Dabei wissen wir, dass Verschwörungstheorien in der Politik gang und gäbe sind, etwa wenn es darum geht, völkerrechtswidrige Eingriffe in die Angelegenheiten anderer Staaten zu rechtfertigen, und natürlich auch, wenn gesellschaftliche Kritik mundtot gemacht werden soll. So weisen Sie ohne weiteren Kommentar darauf hin, dass Herr Jebsen sich damit hervortat, „den 11. September 2001 als Aktion der US-Regierung zu bezeichnen“, weil Sie davon überzeugt sind, dass ihn diese Unterstellung per se als demagogischen Spinner entlarvt. Auch ich halte diese Theorie für überzogen und unrealistisch, wie so manches, was man von dieser Seite zugemutet bekommt, aber doch keineswegs für so abwegig, dass sie nicht in Betracht gezogen werden könnte. Beobachtet man die verschlungenen Pfade, die Kapital und Diplomatie in der Welt wandeln, wird manches plausibel, was man zunächst für undenkbar hielt. Dagegen erscheint mir die offizielle Version von den Hintergründen dieses Verbrechens als antiamerikanische Verschwörung eine der vielen „einfachen Antworten für komplexe Zusammenhänge“ zu sein, wie sie von Politikern und Massenmedien als Wahrheit präsentiert werden. Es gibt – spätestens seit den 60er Jahren – auch in den USA eine revisionistische Geschichtsschreibung, die der offiziellen und inoffiziellen Politik und den Machtinteressen ihrer Protagonisten eine erhebliche Verantwortung für die „Tragödie der amerikanischen Diplomatie“ zuschreibt. Man wird ihr wohl kaum antiamerikanische Ressentiments vorwerfen können.

Ich darf hier vielleicht auch darauf hinweisen, dass die Vorträge und Schriften Rudolf Steiners, die sich den Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ gefallen lassen müssen, so zahlreich sind, dass man sie unmöglich unter den Tisch kehren kann. Wenn Sie zudem seine Äußerungen zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit anschauen, werden Sie nicht umhin können, die Offenheit und Aufrichtigkeit zu bewundern, mit der er die bestehenden Verhältnisse anprangerte und die betreffenden Machtstrukturen beim Namen nannte. Nichts war ihm so verhasst wie Anpassung und kritiklose Akzeptanz, sowohl im engeren sozialen und pädagogischen Zusammenhang, als auch in den „bestehenden politischen Strukturen Europas oder der transatlantischen Beziehungen“. Das hat ihn nicht daran gehindert, pragmatisch an den vorhandenen Strukturen und Lebenstatsachen anzuknüpfen, um soziale und kulturelle Entwicklungen in die Wege zu leiten – das ist praktisch gedacht, aber nicht konformistisch.

Durch Anpassung und Konformität verlieren wir gerade jene konstruktiv-kritischen Kräfte in der jungen Generation, deren Unbehagen die Gesellschaft braucht, wenn sie sich aus dem gegenwärtigen Fahrwasser herausmanövrieren soll. Sie sprechen von „einem verstärkten Engagement der Bürgerinnen und Bürger“, das die Gegenwart erfordere. Mir scheint dieses Engagement zunächst darin zu bestehen, dass man lernt, die Quellen des eigenen Wirklichkeitsbildes zu hinterfragen und sich durch keine Macht der Welt von der eigenen Wahrheitssuche und Urteilsbildung abbringen zu lassen. Ich sehe in dieser emanzipatorischen Entwicklung ein wesentliches Erziehungsziel und die Grundlage für ein freies Geistesleben. Gerade die Waldorfschulen haben in dieser Hinsicht, sowohl durch ihre geisteswissenschaftliche Begründung, als auch durch ihre geschichtliche Entwicklung die Verantwortung, hier gesellschaftliche Zukunftsakzente zu setzen.

Mehrmals im vergangenen Jahrhundert ist es der anthroposophischen Bewegung nicht gelungen, in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen ihre Zukunftsbedeutung und ihre soziale Tragfähigkeit zur Geltung zu bringen. Ich gehöre zu der 68er Generation, die ihre Hoffnung auf soziale Erneuerung allein auf marxistische Begriffe zu bauen wusste – und damit zum Scheitern verurteilt war. Von „Dreigliederung“ oder ähnlichen anthroposophischen Ideen hatten die meisten meiner Generation nicht einmal gehört. Wenn die Waldorfschulbewegung heute und in Zukunft eine konstruktive Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen will, muss sie die Sozialideen, aus denen sie hervorgegangen ist, im Dialog mit denen in die Waagschale werfen, denen der Wandel der bestehenden Verhältnisse ein existentielles Anliegen und ein seelisches Bedürfnis ist – anstatt diese Menschen auszugrenzen und sie politischen Marktschreiern in die Arme zu treiben. Wenn Sie die gesellschaftlichen Probleme, an denen die Menschen leiden, außen vor lassen und ihre Ursachen nicht beim Namen nennen, überlassen Sie die Artikulation der brennenden Fragen und Themen eben jenen „Populisten“, vor denen Sie gerade warnen.

Sie sorgen sich um das Ansehen der Waldorfpädagogik in der Öffentlichkeit – ein ehrenwertes Motiv, mit dem ich mich ganz identifizieren kann. Aber auch wenn man inhaltlich mit vielem in Ihren Darstellungen übereinstimmt, wird man als Waldorflehrer, sofern man ein Gespür dafür hat, was ein „freies Geistesleben“ sein kann, die Art des Vorgehens im Namen des „Bundes der Freien Waldorfschulen“ als eine Maßregelung empfinden, die zudem der Komplexität der zeitgeschichtlichen Situation nicht gerecht wird. Die Angst vor einer Unterwanderung durch „neue Rechte“ und „Verschwörungstheoretiker“ fordert hier, so scheint mir, einen hohen Tribut. Die Peinlichkeit, verantwortlichen Entscheidungsträgern der Waldorfschulen Mangel an Reflexion zu unterstellen, und die damit verbundene politische Bevormundung haben nicht nur ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit erzeugt, sondern auch innerhalb der Belegschaft der „Freien Waldorfschulen“ für Irritation gesorgt. Wird doch der Anschein erweckt, der Bundesvorstand habe die Deutungshoheit für die gesellschaftlichen Verhältnisse und sei im Besitz unfehlbarer Richtlinien für die Waldorfschulbewegung.

Die Imagesorge verrät in den Augen des aufmerksamen Zeitgenossen eine merkwürdige, mit dem Selbstbestimmungsanspruch der Waldorfschulen schmerzhaft kontrastierende politische und gesellschaftliche Unbedarftheit. Was soll man davon halten, wenn der von einer SMV eingeladene Ken Jebsen von einer Schulführungskonferenz wieder ausgeladen wird, nachdem sie über die Verhältnisse „aufgeklärt“ wurde – ein gefundenes Fressen für die Presse, wo dann genüsslich der Geschäftsführer der Waldorfschule zitiert wird, der versprochen haben soll, „den Vorfall mit dem Kollegium aufzuarbeiten“. Er habe „Fehler der Schule“ eingeräumt: „Da ist etwas an uns vorbei gegangen. Wir sind erst am Wochenende wach geworden.“ Sic! Und schauen Sie sich die Schlagzeilen an: „Waldorfschule in Erklärungsnot“, „Gefährlicher Irrweg“, „Reichsbürger-Bewegung: Waldorfschulen fürchten Unterwanderung durch Rechte“ (Spiegel-Online) … Wer die Pressemeldungen und Internetkommentare verfolgt, die sich an Ihre Broschüre anschlossen, könnte zu dem Schluss kommen, dass dem Ansehen der Waldorfbewegung hier ein Bärendienst erwiesen wurde.

Dagegen scheinen mir die Schüler, die angeblich geschützt werden sollen, wesentlich gelassener und in gewisser Weise „aufgeklärter“. Ich zitiere hier ausführlich aus dem Brief der SMV an die Göppinger Tageszeitung NWZ, die über die „Vorfälle berichtet“ hatte, veröffentlicht auf der Homepage der Freien Waldorfschule Filstal: „Im Artikel der NWZ wird es überdeutlich formuliert: Man könne es uns nicht verübeln, dass wir uns von ‚Verschwörungstheoretikern‘ begeistern lassen würden. So sei das eben bei jungen, dummen Heranwachsenden. ‚Die Schüler der Waldorfschule in Faurndau können einem schon leid tun‘, heißt es im Artikel von Herrn Thiele. – Doch wir können Sie beruhigen. Die Freie Waldorfschule Filstal ist kein Ort, an dem ‚Verschwörungstheoretiker‘ und sogenannte ‚Systemgegner‘ herangezüchtet werden. Ganz im Gegenteil: Es geht ja eben darum, kritisches Denken zu entwickeln. Wir bieten insgesamt 13 Projektgruppen an und eine Podiumsdiskussion über das Freihandelsabkommen, bei der Experten beider Standpunkte vertreten sind. Ein vielfältiges Angebot, das in den Artikeln der NWZ auf einen kleinen Teil reduziert wird. – Viele Fragen tauchen bei uns auf: Darf man sich nicht einmal die andere Seite anhören, ohne sofort etwas ‚auf den Deckel‘ zu bekommen? Ist es schon falsch, wenn man daran interessiert ist, wie andere Menschen denken? Wenn dem so sei, dann schneiden Sie sich ins eigene Bein, denn damit würden Sie genau das bestätigen, was die ‚bösen Verschwörungstheoretiker‘ sagen. – Es ist ein großer Unterschied, wenn man solchen Leuten alleine vor dem Bildschirm ausgeliefert ist und deren ungehemmte Meinung zu hören bekommt und niemanden hat, mit dem man das reflektieren kann, oder ob man das zusammen in einer Gruppe und mit pädagogischer Begleitung zu hören bekommt und danach mit verschiedenen Meinungen darüber debattiert wird. – Wir stehen zu unserem Ursprungs-Konzept: Wir wollen verschiedene Meinungen anbieten. Momentan sind wir aber etwas irritiert. War es nicht auch ursprünglich das Ziel der Presse, dass man beide Seiten zu Wort kommen lässt? So war es auch unser Ziel. Und nicht, weil wir alles anzweifeln und hinter jeder Ecke eine Verschwörung vermuten, sondern weil wir in der Waldorfschule lernen wollen, was es heißt, sich mit zwei gegensätzlichen Darstellungen eine Meinung zu bilden.“

Ich finde es herzerfrischend und geradezu vorbildlich, wie die Schüler – mit entsprechender Unterstützung durch einige Lehrer – ihre Dialogbereitschaft aufrecht zu erhalten suchen, auch gegen Anweisung von höchster Stelle und gegen die öffentlich manipulierte Meinung. Eben das wird sie auch wach machen gegenüber unterschwelliger politischer Indoktrination – von allen Seiten. Man mag diese Bereitschaft für politisch naiv halten, allein sie trägt den Keim zur friedlichen Veränderung der bestehenden Verhältnisse in sich. Dagegen sind Klassifizierungen und Verurteilungen, die „Systemgegner“ pauschal als „Demagogen“ und „Verschwörungstheoretiker“ abqualifizieren, Hindernisse auf dem Weg zu einer wirklichkeitsgemäßen Urteilsbildung und verhärten die Gegensätze in unserer Gesellschaft.

Welches Ausmaß Diffamierung und Denunziation in der Öffentlichkeit inzwischen erreicht haben, können Sie in dem Zeitungsartikel nachlesen, auf den die Schüler sich beziehen. Da heißt es, die Organisation der Projekttage wurde „von einem Lehrer begleitet. Dessen Rolle soll nun hinterfragt werden… In den sozialen Medien fällt einer der Pädagogen mit besonderen Sympathiebekundungen auf: für Beiträge von Ken Jebsen und Daniele Ganser, einem weiteren Experten in Sachen Verschwörung.“ Soll es in diesem Stil wirklich weitergehen? Mache ich mich nun als Sympathisant der Verschwörungstheorie verdächtig, weil ich Noam Chomsky lese, der Gansers geistiger Mentor ist, oder weil ich Jean Ziegler schätze, den Jebsen interviewt hat? Beides Linke übrigens, aber auch dafür gibt es im neuen Kalten Krieg einen bequemen Begriff: das ist die „prorussische Querfront“. So kann man das Freund-Feind-Spiel endlos weitertreiben, aber wo ziehen Sie die Grenzen? Irgendwann kommt man zu der Einsicht, dass dies alles künstliche Kategorisierungen sind, die uns das Urteil zu vereinfachen vorgeben, es in Wirklichkeit aber verhindern. Denn es gibt heute keine Gruppen und Parteiungen mehr, die Wahrheit für sich beanspruchen und uns durch bloße Zugehörigkeit ins Recht setzen können. Auch nicht unter den Anthroposophen. Es gibt nur den intuitiv gefassten, individuellen Begriff, und den muss ich in jeder Lebenssituation neu finden.

Es ist unsere Aufgabe, der individuellen Urteilsfähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler zur Geburt zu verhelfen. Deshalb sollten wir Pauschalisierungen, Vereinfachungen und Feindbildzuweisungen tunlichst vermeiden, statt dies nur von anderen zu fordern. In diesem Sinne halte ich es für eine unumgängliche Zeitnotwendigkeit, dass die Waldorfschulbewegung, auch durch ihre offiziellen „Spitzenvertreter“, sich um eine deutlichere „Akzentuierung“ in der „Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen“ bemüht. Eben dazu gehört die offene und vorurteilsfreie Kontroverse sowohl mit den Vertretern, als auch mit den Kritikern und „Gegnern“ des Systems.

Heinz Mosmann, Lehrer an der Freien Waldorfschule Heilbronn
Kontakt mosmann@waldorfschule-hn.de

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