Peter Bierls Versuch, die soziale Dreigliederung misszuverstehen

01.09.2022

Dieser Artikel ist eine Reaktion auf Peter Bierls Video „Was ist die anthroposophische ‚Dreigliederung?‘ “[1]. Das Video wurde im Rahmen der Kampagne „beuys behind the scenes“ zu Beuys 100. Geburtstag auf verschiedenen Internetplattformen veröffentlicht. Bierl stellt in dem kurzen Clip etliche Behauptungen über die politischen Anschauungen Rudolf Steiners, sowie die Entstehungsimpulse und Inhalte der Dreigliederung auf, ohne dabei eine Quelle anzugeben, was die Überprüfung sehr mühsam macht. Ich will daher hiermit versuchen, Peter Bierls Quellenarbeit nachzuholen und die Behauptungen, zu denen ich etwas finden konnte, auf ihre Gültigkeit hin prüfen.

Dabei beschränke ich mich weitestgehend auf Bierls Aussagen zu Steiners sozialer Dreigliederung, da mir bei Beuys und Schmund die Kenntnisse fehlen, um ohne Quellenangaben Aussagen überprüfen zu können. Peter Bierl ist als Buchautor und freier Journalist tätig und verfasst unter Anderem Artikel für die Süddeutsche Zeitung. In seinen eigenen Publikationen behandelt er vornehmlich Sozialismus- und Umweltthemen und kritisiert politisch rechte Einflüsse auf diese Bewegungen. Dabei hat er es, und ich denke mit Unrecht, auch auf die Anthroposophie abgesehen.

Wilson, Steiner und die Demokratie

Wie war Rudolf Steiners Verhältnis zur Demokratie, und welche Rolle spielt sie in der von ihm entdeckten sozialen Dreigliederung? Wenn wir Peter Bierl vertrauen dürfen, ist die Antwort sehr eindeutig: Steiner lehnte die Demokratie ab.[2] Er hätte es lieber gehabt, wenn eine Elite von Eingeweihten herrschte[3] und habe daher mit der Dreigliederung ab 1917 zu verhindern versucht, dass Woodrow Wilson die Demokratie nach Europa brachte. Laut Peter Bierl ist die Dreigliederung also eine Erfindung Steiners gegen die Demokratie.[4]

Diese Aussage hat mich doppelt stutzig gemacht. Denn einerseits spielt Demokratie in der Dreigliederung, wie ich sie kenne, eine wesentliche Rolle. Andererseits war mir bislang nichts von einem Verhältnis der sozialen Dreigliederung zu Woodrow Wilsons Politik bekannt. Eine Bildungslücke, die sich dank Bierls Hinweis allmählich mit einigen verblüffenden Ergebnissen zu schließen beginnt.

Denn es lassen sich tatsächlich erstaunlich viele interessante Äußerungen Rudolf Steiners zu Woodrow Wilson finden. Und oftmals widerspricht Steiner vehement Wilsons Ansichten. Ich konnte allerdings bisher keine Kritik Steiners an der Demokratie bei Wilson finden. Einmal sagte er, Wilson nenne seine Ideale „Demokratie“ und wolle diese der Welt überstülpen.[5] Eine Wertung der Demokratie fehlt hier aber. Stünde diese Aussage zur Demokratie allein da, ließe sich vielleicht eine skeptische Haltung bei Steiner vermuten. Stattdessen sprach und schrieb er aber zu etlichen Anlässen über die Demokratie und ergriff in radikalster Weise Partei für ein demokratisches Rechtsleben, das für ihn die eigentlichen Aufgaben des Staates übernehmen sollte.[6] Es sei „in einem gesunden Sinne heute die Demokratie notwendig“,[7] weshalb er eine gewaltsame Einführung der Dreigliederung auch in den Revolutionszeiten nach dem ersten Weltkrieg ablehnte. Im ersten Heft der Zeitschrift „Soziale Zukunft“ schrieb Steiner im Juli 1919, „Daß Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muß, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben.“[8] Teilweise ging er sogar weiter mit der Forderung nach Demokratie, als wir es heute tun und wollte demokratisch über Arbeitszeitbegrenzungen abstimmen lassen, um eine Ausbeutung der arbeitenden Menschen aus wirtschaftlichem Interesse zu verhindern.[9] Da Demokratiefeindlichkeit zu sehen wirkt für mich grotesk, entweder Peter Bierl kennt diese vielen Äußerungen nicht, oder er deutet sie vollkommen anders. Zwar lassen sich auch kritischere Äußerungen zur Demokratie bei Steiner finden, allerdings nur, wenn er über das Wirtschafts- oder das Geistesleben spricht. Denn für Fragen, deren Antworten dort gefunden werden müssten, hält er demokratische Abstimmungen nicht für hilfreich.[10] Dass Steiner nicht jede Lebensfrage der Demokratie unterstellt, mag abschreckend klingen und es zu kritisieren ist leicht. Ich halte es allerdings für fraglich, ob Peter Bierl selbst wirklich auf das Abstimmungsergebnis zu einer Matheaufgabe vertrauen wollte. Oder zu der Frage, wie viele Karotten in welchen Boden gepflanzt werden sollten. Und würde er sich als Demokratiefeind bezeichnen, wenn er bei solchen Fragen das eigene Urteil oder das fachtüchtiger Menschen dem Urteil der Mehrheit vorzieht? Für Steiner ist die Demokratie kein Allheilmittel, aber sie ist notwendig in allen zwischenmenschlichen Fragen nach Rechten und Pflichten.

Das Problem des Organismusvergleichs

Peter Bierl leitet Steiners angebliche Demokratiefeindlichkeit vor allem von dessen Verwendung des Begriffs „sozialer Organismus“ ab.[11] Für eine solche „organizistische“ Sicht auf die Gesellschaft sei Demokatie „unnatürlich“.[12]

Das führt mich zurück zu meiner zweiten Ausgangsfrage: Was störte Steiner denn an Wilson, wenn es nicht dessen Demokratisierungswunsch war?

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist Wilsons organizistischer Staatsbegriff. Bereits im April 1913, noch vor Kriegsbeginn, bemängelte Steiner Wilsons Erklärung des Staats über Organismusvergleiche.[13] Wilson wollte in Ablösung des newtonisch-mechanischen Gesellschaftsbilds des 19. Jahrhunderts die Staaten darwinistisch und organisch verstehen.[14] Steiner rebellierte. Und ist dieser Kritik auch treu geblieben[15], obwohl er selbst ab 1917 eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ forderte. Heißt das, dass für Bierl auch Woodrow Wilson ein Demokratiefeind war? Bei Steiner scheint ihm der Organismusvergleich ein ausreichender Beweis dafür zu sein. Peter Bierl führt anhand einer antiken Fabel[16] aus, dass es Steiner beim sozialen „Organismus“ um eine Rechtfertigung von Herrschaft gehen müsse. Die gewählte Geschichte, auf die Steiner die Dreigliederung nie bezog, erzählte wohl ein Patrizier, um unterdrückte Plebejer von der Richtigkeit ihrer Einteilung in Stände zu überzeugen. Steiners Dreigliederungidee sei vom „gleichen autoritären Geist“[17] behauptet Bierl und verschweigt, dass Steiner sich explizit gegen eine Ständegesellschaft wehrte.[18] Ihm ging es nicht darum, Menschen einzuteilen, sondern drei Arten sozialen Miteinanders zu finden, an denen jeweils alle Menschen beteiligt sind „(…) weil wir es in der neueren Zeit mit Menschen zu tun haben und nicht mit Ständen“[19]. Nur die Methode der Zusammenarbeit sollte variieren. Trotzdem hat Steiner von einem sozialen „Organismus“ gesprochen und teilweise auch einen Vergleich zum „natürlichen Organismus“ gezogen. Dabei verwies er jedoch streng darauf, „dass mit diesem Vergleich nichts anderes gemeint sein soll als eben ein Vergleich.“[20] Und noch deutlicher: „Wenn man einfach das, was man glaubt gelernt zu haben am natürlichen Organismus, überträgt auf den sozialen Organismus, (...) so zeigt man damit nur, dass man sich nicht die Fähigkeiten aneignen will, den sozialen Organismus (...) ebenso für sich zu betrachten, (…) wie man dies nötig hat für das Verständnis des natürlichen Organismus.“[21] Wilson, gegen dessen für Bierl scheinbar unproblematischen Organizismus Steiner seinen angeblich autoritären Organizismus stellte, fordert genau das: "Living political constitutions must be Darwinian in structure and in practice." [22]

Warum aber nutzt auch Steiner das Wort „Organismus“? Zunächst zeigt das Beispiel recht deutlich, dass die Antwort nicht so einfach ist, wie Bierl sie sich macht. Bei jedem Organismusbegriff müssten wir erst versuchen zu verstehen, was jeweils damit gemeint ist. Steiner geht es beim Organismus nicht um einen „Kampf ums Dasein“.[23] Seine Dreigliederung des natürlichen Organismus will darauf hindeuten, dass im Menschen drei funktional verschiedene Prinzipien wirksam sind.[24] Was Steiner mit dem Vergleich zeigen wollte und warum er ihn, trotz eigener Bedenken verwendet, ist in Sylvain Coiplets Buch „natürlicher und sozialer Organismus“ sehr kritisch und gründlich ausgearbeitet.[25] Und auch Wilson wählte den Organismusvergleich nicht, um die Demokratie zu überwinden. Ihm ging es darum, die einzelnen Staaten entwicklungsfähig und mächtiger zu machen.[26] Wenn ich die letzte Quelle richtig verstehe, forderte er dazu eine Machtkonzentration auf den demokratisch gewählten Präsidenten und weniger Gewaltenteilung.

Herrschsucht der geistigen Elite

Anders als Wilson und anders als von Bierl behauptet, wollte Steiner mit dem Organismusvergleich nicht irgendeine Form von autoritärer Herrschaft rechtfertigen. Wie wenig Steiner von einem „Führer- Gefolgschaftsprinzip“[27] hielt, wird vielleicht daran am deutlichsten, dass er sich stets davor hütete, zu sagen, was konkret die richtigen Entscheidungen in den verschiedenen Bereichen wären. Er deutete nur darauf hin, in welcher Weise die Menschen zusammenkommen müssten, um zu einer realitätsnahen Entscheidung kommen zu können. Was Recht ist, konnte und wollte er nicht entscheiden, das kann erst in einem demokratischen Rechtsleben entschieden werden.[28] Was wirtschaftlich vernünftig ist, konnte Steiner ebensowenig entscheiden, dafür müssten in seinen Augen erst die unterschiedlichen Bedürfnisse von Produzierenden, Konsumierenden, Handelnden, verschiedenen Branchen usw. in einen assoziativen Austausch kommen.[29] Bierls Vorwurf einer herrschenden Elite zielt allerdings vornehmlich auf das Geistesleben ab. Hier beschreibt auch Steiner bei früheren Theokratien und Aristokratien durchaus hierarchische Verhältnisse, die heute aber nicht mehr zeitgemäß wären. Dass das Geistesleben seiner Zeit noch Überbleibsel davon habe, hielt er für sehr schädlich. Es sei falsch „das, was aus dem Empfindungskreise einer sich absondernden Minderheit geistig geboren ist, in die breiten Massen hineintragen [zu wollen]. Nein, die Zeit fordert ein Geistesleben, das in sozialer Weise alle umfaßt.“[30] Dafür sei aber die Freiheit aller Menschen im Geistesleben und ein Freizeitschaffen durch das Rechtsleben eine absolute Notwendigkeit.[31] Autorität kann im Geistesleben für Steiner nur entstehen, wenn die Mitmenschen eine Person auf einem Gebiet für so fähig halten, dass sie sich für gewisse Entscheidungen bei ihr einen Rat einholen.[32] Der hätte allerdings keinen Gebotscharakter, sondern könne nur aus Einsicht befolgt werden.[33] Für mich klingt das nicht nach einem „Führer- Gefolgschaftsprinzip“ oder dem Wunsch nach Herrschaft eingeweihter Führer. Schon in seinem Früh- und Hauptwerk, der Philosophie der Freiheit, schrieb Steiner: „Wir wollen nicht mehr glauben; wir wollen wissen.“[34].

Realitätsbezug zur Überwindung der wirtschaftlichen Konkurrenz

Steiner meinte, je realitätsnäher eine Denkart sei, desto mehr könne sie nur Hinweise auf eine Methode und nicht Ergebnisse vorgeben.[35] Bei Wilson vermisste er diesen Realitätsbezug. Der denke unpraktisch und verkünde nicht umsetzbare Ideale.[36] Mit manchen der Problemanalysen Wilsons stimmte Steiner allerdings überein und sah Wilson hier sogar nah beim Sozialismus. Als Beispiel dafür kann die Wirtschaft gelten. Steiner teilte Wilsons Auffassung, die Wirtschaft habe sich schneller weiterentwickelt als das Recht und fordere daher neue Rechtsformen.[37] Steiners Antwort darauf war einerseits das erwähnte Herausnehmen der Arbeit aus der Wirtschaft über demokratische Arbeitsschutzgesetze.[38] Andererseits brauche es dann innerhalb der Wirtschaft die assoziative Zusammenarbeit aller Beteiligten. Handel Treibende, sämtliche Konsumierenden, Produzierende verschiedenster Branchen, alle müssten sich laut Steiner wirtschaftlich aufeinander abstimmen.[39] Mit solchen Assoziationen hoffte Steiner die Konkurrenz in der Wirtschaft zu überwinden. Nötig sei dann nur noch „(…) dieses Aufhören der Konkurrenz in einer gewissen Weise zu unterstützen.“[40] Wilson hingegen forderte eine Förderung der Konkurrenz.[41] Ich wähle dieses Beispiel, weil es auf groteske Weise zeigt, wie Peter Bierl die soziale Dreigliederung entstellt. Er behauptet einfach, für Steiner sollte die Wirtschaft „nach den Prinzipien der Konkurrenz funktionieren,“[42] womit er Steiner das exakte Gegenteil seines eigentlichen Anliegens unterstellt.

Nationalismus und Rassismus

Am vehementesten aber kritisierte Steiner Wilsons Rassismus und Nationalismus. Dieser wolle Staatsgrenzen „auf Grundlage der Blutszusammengehörigkeit der Völker“[43] bestimmen, während für Steiner „die einzige Realität in der Gegenwart nur sein könnte die Überwindung der Nationalismen, die Auslöschung der Nationalismen und das Ergriffenwerden der Menschen von dem allgemeinen Menschtum.“[44] Auch Steiner hat über Rassen gesprochen und teilweise äußerst kritische Dinge behauptet.[45] Allerdings ging es ihm niemals darum, solche für ihn bestehenden Charakteristika institutionell zu verfestigen, sondern er wollte die Bestimmtheit des Individuums von der Gruppe überwinden.[46] Noch wenige Monate vor seinem Tod warnte er vorm „Streben der Menschen in die Rasse, in die Nation hinein, das heute in einer so unverständigen Weise durch den Wilsonianismus zum Ausdruck gekommen ist. Das ist ja etwas ganz Furchtbares, wie heute die Menschen hineinstreben in Rassen und Völker und wie sie allen Kosmopolitismus im Grunde begraben wollen.“[47] Steiner sprach sich anders als viele Deutsche gegen eine Einverleibung Oberschlesiens durch Deutschland aus, und schlug vor, jenes möge sich unabhängig der Ethnien selbst verwalten.[48] Kritische Fragen für die Volksidentität wie die Sprache sollten vom Staat losgelöst werden, um kulturelle Unterdrückung zu verhindern.[49] Wilson forderte auch noch in seinen berühmten 14 Punkten, dass Grenzen nach der Volkszugehörigkeit gezogen werden sollten.[50] Seine rassistischen Einstellungen und Taten sind allerdings nicht nur Rudolf Steiner übel aufgestoßen, besonders im englischsprachigen Raum wird dieser Umstand gerade intensiv diskutiert.[51] Sogar innerhalb des eigenen Landes praktizierte Wilson mit der Segregation eine Trennung der Bevölkerung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit. Dem afroamerikanischen Zeitungsredakteur Monroe Trotter sagte Wilson auf eine Beschwerde hin, Segregation sei von Vorteil „and ought to be so regarded by you gentlemen.“[52] Hier klingt Wilson wie Bierls Patrizier, der Unterdrückte von der Richtigkeit ihrer ständischen Eingliederung überzeugen will.[53] Daran verdeutlicht sich ein interessanter Umstand: Peter Bierl versäumt es niemals, selbst auch auf nur periphere Bezüge zwischen Personen in der Dreigliederungsbewegung und rassistisch-völkischem Gedankengut hinzuweisen. Er verweist darauf, dass neben Beuys und Schmundt auch der Nationalsozialist und ehemalige Christengemeinschaftspfarrer Werner Georg Haverbeck an der Gründung der Grünen beteiligt war, dass ebenso wie Beuys rechtsextreme Strömungen eine direkte Demokratie fordern und Steiner mit dem sozialen Organismus einen Begriff verwendete, der von Nazis missbraucht wurde.[54] Auch im schon erwähnten Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit steckt noch ein nicht ganz expliziter Nationalismusvorwurf: Steiner habe die Demokratie „wie alle Konservativen und Nationalisten“[55] abgelehnt. Wilsons Rassismus hingegen, der nicht über die Ecke dubioser Bekanntschaften oder Gleichgesinnter konstruiert werden müsste, sondern in seinem politischen Tagesgeschäft offen zutage tritt, verschweigt er. Das erweckt den Eindruck, dass es ihm gar nicht um eine kritische Aufklärung über den Rassismus der angesprochenen Personen geht, sondern er den Rassismusvorwurf nur nutzt, um Menschen und Ideen ohne inhaltliche Auseinandersetzung diskreditieren zu können.[56]

Dass Peter Bierl eine inhaltliche Aufklärung über die soziale Dreigliederung nicht anstrebt, sollte nach den aufgezeigten Entstellungen deutlich sein. Ich verzichte daher zugunsten der Länge des Texts darauf, alle irreführenden Behauptungen einzeln durchzugehen. Unter dem Artikel findet sich eine PDF, in der nach dem Artikel noch einige weitere Äußerungen Peter Bierls mit Zitaten von Steiner und Wilson gegenübergestellt sind.

Fazit

Wahrscheinlich wäre eine Verdrehung der Dreigliederung für Peter Bierl gar nicht nötig, um Kritikpunkte an ihr zu finden. Das Wenige, was ich von ihm an eigenen politischen Sichtweisen finden konnte, scheint sich tatsächlich nicht mit Steiners Gesellschaftsverständnis zu decken. Für solch eine Dreigliederungskritik wäre aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit Steiners Ideen notwendig gewesen. Um ein anfängliches Verständnis dessen, was Steiner mit der Dreigliederung meinte, erlangen zu können, hätte es allemal ausgereicht Steiners Hauptwerk dazu „die Kernpunkte der sozialen Frage“ zu lesen, das mit 160 Seiten für einen Journalisten zu bewältigen sein sollte. Stattdessen doziert Peter Bierl über eine Dreigliederung, die er sich offenkundig nur in der eigenen Vorstellung gebildet haben kann. Ob ein solcher Einsatz der eigenen journalistischen Autorität wohl als Plädoyer Bierls für ein „hierarchisches“ Geistesleben zu werten ist? Mir jedenfalls bereitet es Sorge, dass ein Mensch, dem Sorgfalt oder Wahrhaftigkeit bei seiner Arbeit so unwichtig sind, den journalistischen Ansprüchen der Süddeutschen Zeitung gerecht zu werden scheint; eine der anerkanntesten Zeitungen dieses Landes, die meine jugendliche Weltsicht maßgeblich mitgeprägt hat.

In Steiners Dreigliederung spielen weder ein konkurrenzbasiertes Wirtschaftsleben, eine Ständeordnung, Nationalismus, ein hierarchisches Geistesleben noch Demokratiefeindlichkeit eine Rolle. Trotzdem behauptet Bierl all dies, teils explizit, teils in Andeutungen. Er scheint die Dreigliederung als eine anti-soziale Bewegung herrschsüchtiger, weltfremder Esoterikfans darstellen zu wollen. Weltferne Menschen hat es in anthroposophischen Kreisen immer gegeben und vielleicht hatte die Dreigliederung es auch deshalb so schwer. Denn sie trägt nichts Unpraktisches in sich. Sie interessierte sich nie für den anthroposophischen Wohlstand, sondern für die akuten menschheitlichen Probleme ihrer Zeit. Gerade die Demokratie war deswegen für Steiner von elementarer Bedeutung, um an der prekären Lage, in die die arbeitende Bevölkerung durch die Industrialisierung und den Kapitalismus gebracht wurde, etwas ändern zu können.[57] Deswegen wurde Steiner von so vielen arbeitenden Menschen bejubelt und zu etlichen Vorträgen eingeladen.[58] Nicht, weil sie, was Bierl zu glauben scheint, so dumm waren, sich durch ihn im Auftrag ihrer Vorgesetzten ruhigstellen zu lassen,[59] sondern weil er sie verstand und seine Dreigliederung ihnen geholfen hätte.

Natürlich hat Steiner auch viel über Übersinnliches gesprochen, aber es ging ihm dabei nicht um eine elitäre Weltflucht, sondern um eine Vertiefung des alltäglichen Lebens. Denn „es hört auf dasjenige, was aus dem Geist kommt, unpraktisch zu sein, wenn es eben tatsächlich aus dem Geiste kommt. Es wird dann im eminentesten Sinne praktisch.“[60] Die soziale Dreigliederung ist ein lebender Beweis dafür!

Um also auf die Behauptung zurückzukommen, mit der Peter Bierl seine Analyse der sozialen Dreigliederung beginnt: Vielleicht hat Rudolf Steiner die Dreigliederung wirklich entwickelt oder zumindest veröffentlicht, um Woodrow Wilson etwas entgegensetzen zu können. Was Steiner aber tatsächlich an Wilson kritisierte, hat verblüffende Ähnlichkeit mit den Dingen, die Peter Bierl nun gut einhundert Jahre später Rudolf Steiner und der Dreigliederung unterstellt.

Und so möchte ich mit der Frage enden: Hat Peter Bierl möglicherweise Rudolf Steiner und Woodrow Wilson verwechselt?

Erweiterte PDF-VersionPeter Bierl

In dieser PDF-Version werden nach dem obigen Artikel noch einige weitere Äußerungen Peter Bierls mit Zitaten von Steiner und Wilson gegenübergestellt.

Jonas Rybak Peter Bierls Versuch, die soziale Dreigliederung misszuverstehen

Anmerkungen

[1] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“?
https://www.youtube.com/watch?v=gIMh66nb7aw
(das Entnahmedatum für Bierls Video ist jeweils der 13.07.2022)

[2] ebd. min. 0:38
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=38

[3] ebd. min. 2:53
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=173

[4] ebd. min. 0:14
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=14

[5] 13. Oktober 1917: Rudolf Steiner - GA 177 8. Auflage S. 153

[6] 25. April 1919: Rudolf Steiner – GA 330 2. Auflage S. 96
28. April 1919: Rudolf Steiner – die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 112

[7] 22. Mai 1919 Beilageheft zur Steiner Gesamtausgabe 27/28 S. 23 sowie GA 331 S. 69

[8] Juli 1919: Rudolf Steiner – GA 24 2. Auflage S. 201

[9] 28. April 1919: Rudolf Steiner – die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 76 f.
22. April 1919: Rudolf Steiner – GA 332b 1. Auflage S. 83

[10] Als Geistesleben bezeichnete Steiner die Art des Zusammenlebens, bei der es auf die individuellen Fähigkeiten der Einzelnen ankommt. Also z.B. Bildung, Forschung, Sport etc. Beim Wirtschaftsleben ging es ihm darum, individuelle Bedürfnisse miteinander und vor allem auch mit der Naturgrundlage in einen Austausch zu bringen und so gemeinsam die beste Möglichkeit der Befriedigung der verschiedenen wirtschaftlichen Bedürfnisse zu finden.
11. April 1919 GA 190 4. Auflage S. 139
26. Oktober 1919 GA 332a 4. Auflage S. 86

[11] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“? min. 0:59
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=59

[12] ebd. min. 2:28
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=148

[13] 2. Juni 1913: Rudolf Steiner - GA 146 4. Auflage S. 88

[14] 1913: Woodrow Wilson – The New Freedom S. 45 – 48 und in teils identischem Wortlaut bereits 5 Jahre zuvor:
1907: Woodrow Wilson – Constitutional Government in the United States 8. Auflage S. 56 f.
sowie andeutungsweise bereits 1889 ohne den Namen Darwin zu nennen
1889: Woodrow Wilson – The State. Elements of historical and practical Politics S. 587 u. 609

[15] 22. März 1917: Rudolf Steiner - GA 66 2. Auflage S. 210 f.
16 Juli 1918: Rudolf Steiner - GA 181 S. 347 f.

[16] Michael Hillgruber - Die Erzählung des Menenius Agrippa
21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische„Dreigliederung“? min. 1:26
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=86

[17] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“? min. 2:36
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=156

[18] 28. April 1919: Rudolf Steiner – die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 140

[19] 29. August 1922: Rudolf Steiner – GA 305 3. Auflage S. 231

[20] Rudolf Steiner - Die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 56

[21] Ebd. S. 60

[22] 1907: Woodrow Wilson – Constitutional Government in the United States 8. Auflage S. 57
Übersetzung d. Verf.: „Lebende politische Organismen müssen in Anlage und Umsetzung darwinistisch sein“

[23] 7. Oktober 1916: Rudolf Steiner - GA 171 2. Auflage S. 231, über „Kampf ums Dasein“ allgemein
18. März 1920: Rudolf Steiner – GA 334 1. Auflage S. 125, über „Kampf ums Dasein“ in der Gesellschaftsordnung

[24] 28. April 1919: Rudolf Steiner – die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 57 in der Fußnote

[25] 2019: Sylvain Coiplet – https://www.dreigliederung.de/publish/natuerlicher-und-sozialer-organismus

[26] 1907: Woodrow Wilson – Constitutional Government in the United States 8. Auflage S. 199 f.

[27] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische Dreigliederung min. 2:28
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=148

[28] 26. Oktober 1919: Rudolf Steiner – GA 332a 4. Auflage S. 108

[29] 2. Oktober 1920: Rudolf Steiner – GA 322 6. Auflage S. 89

[30] 26. Mai 1919: Rudolf Steiner - GA 333 2. Auflage S. 15 f.

[31] Ebd.

[32] 24. Juni 1919: Rudolf Steiner – GA 331 1. Auflage S. 167 f.

[33] 19. Juni 1919: Rudolf Steiner – GA 330 2. Auflage S. 326 f.

[34] 1894: Rudolf Steiner – die Philosophie der Freiheit 1. Auflage S. 5
bzw. in GA 4: 17. Auflage im zweiten Anhang S. 268

[35] 28. April 1919: Rudolf Steiner - die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 114

[36] 1. Oktober 1917: Rudolf Steiner – GA 177 8. Auflage S. 49
28. April 1919: Rudolf Steiner – die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 143

[37] ebd. S. 63 f. (Für Steiner brauchte es allerdings auch ein neues Geistesleben)

[38] 22. April 1919: Rudolf Steiner – GA 330 2. Auflage S. 36
28. April 1919: Rudolf Steiner - die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 54

[39] 10. Oktober 1920: Rudolf Steiner - GA 337b 1. Auflage S. 211

[40] 12. Oktober 1920: ebd. S. 232

[41] 1913: Woodrow Wilson – The New Freedom S.157 f.
Ebd. S. 144 f.

[42] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“? min. 3:02
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=182

[43] 26. Oktober 1917: Rudolf Steiner - GA 177 8. Auflage S. 221

[44] 3. April 1920: Rudolf Steiner – GA 198 2. Auflage S. 79

[45] 21. Juni 1908: Rudolf Steiner – GA 104 8. Auflage S. 98
10. Juni 1910: Rudolf Steiner – GA 121 6. Auflage S. 86 f.

[46] 1994 GA 4 16. Auflage S. 237 ff.

[47] 18. September 1924: Rudolf Steiner – GA 346 2. Auflage S. 206

[48] Januar 1921: Rudolf Steiner – GA 24 2. Auflage S. 475

[49] 28. April 1919: Rudolf Steiner - die Kernpunkte der sozialen Frage GA 23 7. Auflage S. 138f.
ebd. S. 142

[50] 8. Januar 1918: Woodrow Wilson - 14 Punkte
http://documentarchiv.de/in/1918/14-punkte-wilsons.html (Entnahmedatum: 13.07.2022)

[51] https://newrepublic.com/article/158356/woodrow-wilson-racism-princeton-university
https://www.history.com/news/woodrow-wilson-racial-segregation-jim-crow-ku-klux-klan
https://www.nationalreview.com/corner/woodrow-wilsons-racism-progressive/
https://thelibertarianrepublic.com/top-10-racist-quotes-progressive-hero-woodrow-wilson/
https://www.marketwatch.com/story/woodrow-wilsons-segregation-policies-of-100-years-ago-decimated-the-black-middle-class-for-decades-1160528726
https://dasgoetheanum.com/woodrow-wilson-und-die-rassenbasierte-gesellschaft/ (Entnahme jeweils 13.07.2022)

[52] 1914 Wilson und Trotter im Gespräch:
http://historymatters.gmu.edu/d/5719/ (Entnahmedatum: 7.7.2022)
Übersetzung d. Verf.: „und sollte von Euch Herren auch so angesehen werden“

[53] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“? min: 1:25
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=85

[54] ebd.
über die Gründung der Grünen
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=293
über direkte Demokratie min. 6:49
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=409
über Organismus min. 2:13
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=133

[55] ebd. min. 0:40
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=40

[56] Um dem Einwand vorzubeugen, dass Wilsons Rassismus nicht relevant für die Dreigliederung sei: Das kann normalerweise vielleicht stimmen. Im Narrativ von Peter Bierl wird allerdings eine klare Gegenüberstellung von Wilson dem Demokraten und Steiner dem nationalistischen Antidemokraten gezeichnet. Das funktioniert nur, solange Wilsons Organizismus, Rassismus und Nationalismus verschwiegen werden.

[57] 25. April 1919: Rudolf Steiner – GA 330 2. Auflage S. 96
Steiner sprach vor Arbeitenden der Daimler Werke über demokratische Arbeitszeitbegrenzung

[58] Hier sei die erste Hälfte des Beilagenhefts 27/28 zur Gesamtausgabe Rudolf Steiners zum Nachvollziehen empfohlen.

[59] 21. Mai 2021: Peter Bierl – Was ist die Anthroposophische „Dreigliederung“? min. 3:36
https://youtu.be/gIMh66nb7aw?t=216

[60] 20. Juni 1924: Rudolf Steiner – GA 260a 2. Auflage S. 315