Würdigung und Kritik
Christof Lindenau ging es darum, die soziale Dreigliederung auf den Menschen statt auf Einrichtungen zu beziehen. Die bisher vertretene institutionelle Dreigliederung, die sich auf Rudolf Steiners Schrift Die Kernpunkte der sozialen Frage von 1919 berief, hielt er für ein Missverständnis. Einrichtungen liessen sich demnach nicht einem einzigen Glied des sozialen Organismus zuordnen. Nur dadurch, dass in einer Einrichtung alle drei Glieder – Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben – vorhanden seien, könne der einzelne Mensch in Berührung mit diesen drei Gliedern kommen und die alte Ständeordnung, die den Menschen jeweils einem einzigen Glied zuordnete, überwunden werden.
Dass sich Christof Lindenau dabei auf Halbwahrheiten stützte, hat dazu beigetragen, dass seine Anschauungen seit der 1980er Jahren zum Mainstream der Dreigliederungsbewegung geworden sind, obwohl sie gravierende Fehler beinhalten, welche die soziale Dreigliederung ad absurdum führen.
Zur wahren Hälfte gehört, dass Rudolf Steiner tatsächlich die Fähigkeiten auf das Geistesleben und die Bedürfnisse auf das Wirtschaftsleben bezieht. Unwahr ist dagegen, dass Rudolf Steiner Vereinbarungen, Übereinkünften und Verabredungen zum Rechtsleben rechnet. [1]
Meines Wissens sind in der Tat die Aussagen Rudolf Steiners zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen übersehen worden, bis Christof Lindenau 1977 darauf aufmerksam gemacht hat. Dieser Gesichtspunkt stellt eine Bereicherung dar und hilft Aspekte der sozialen Dreigliederung zu erfassen, die bisher unterbelichtet geblieben waren.
Die Aussage Christof Lindenaus, dass Vereinbarungen, Übereinkünften und Verabredungen zum Rechtsleben gerechnet werden müssen, findet sich dagegen bei Rudolf Steiner nirgends und widerspricht eindeutig seiner Aussage, dass das Wirtschaftsleben auf den Vertrag – und damit auch auf Vereinbarungen – basiert. Bei näherem Hinsehen würde man dasselbe für das Geistesleben feststellen.
Vereinseitigung der sozialen Dreigliederung
Auch wenn es das Anliegen von Christof Lindenau war, einen Weg zu finden, wie der einzelne Mensch an alle drei Glieder – Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben – teilhaben kann, führte seine Behauptung, dass Vereinbarungen zum Rechtsleben gehören, zu einer Vereinseitigung des Verständnisses der sozialen Dreigliederung.
Auf seiner Suche nach einer menschenkundlichen Fundierung der sozialen Dreigliederung wäre Christof Lindenau erfolgreich gewesen, wenn er sich damit zufrieden gegeben hätte, deren Bezug zu Denken, Füllen und Wollen festzustellen. Eine entsprechende Zuordnung findet sich tatsächlich bei Rudolf Steiner.
Geistesleben | Rechtsleben | Wirtschaftsleben |
Fähigkeiten | – | Bedürfnisse |
Denken | Fühlen | Wollen |
Beim Rechtsleben lässt sich, anders als beim Geistesleben und Wirtschaftsleben, nicht vom Zwischenmenschlichen absehen, weil das Rechtsleben laut Rudolf Steiner gerade rein zwischenmenschlich ist. Würde man es versuchen, würde nichts übrig bleiben. Beim Geistesleben und Wirtschaftsleben bleibt dagegen etwas übrig. Wenn man von Fähigkeiten und Bedürfnissen spricht, sieht man entsprechend vom Zwischenmenschlichen im Geistesleben und Wirtschaftsleben ab und schaut nur auf das Einzelmenschliche, auf das reine Menschenkundliche.
Der Fehler von Christof Lindenau war es nicht, das Rechtsleben auf das Zwischenmenschliche zu reduzieren, sondern das Zwischenmenschliche auf das Rechtsleben zu reduzieren.
Damit hat Christof Lindenau dem Geistesleben und Wirtschaftsleben die Möglichkeit abgesprochen, zwischenmenschliche Vereinbarungen treffen zu können. In der Praxis heisst es, dass sie keine selbständigen Entscheidungen mehr treffen können und die soziale Dreigliederung, wie sie Rudolf Steiner vertreten hat, hinfällig ist. Stattdessen herrscht die Vorstellung, dass jede Vereinbarung daran gemessen werden soll, ob sie darauf basiert, dass Menschen auf Augenhöhe stehen, also der reinste Demokratismus.
Um Verträge zu schliessen, die keine Scheinverträge sind, müssen Menschen zwar auf Augenhöhe stehen, Sinn und Zweck des Vertrags besteht aber darin, dass beide Vertragspartner nach dem Vertrag besser stehen als vorher. Zur Augenhöhe kann der Vertrag selber nichts beitragen, sondern nur das Rechtsleben durch allgemeingültige Gesetze. Um in die Richtung einer echten Gliederung zu denken, muss man aufhören, danach zu fragen, was der Vertrag – oder die Schule als Einrichtung – alles braucht, sondern stattdessen fragen, was es selber zum sozialen Ganzen beiträgt.
Die These, dass Vereinbarungen zum Rechtsleben gehören, wird unter anderem von Dieter Brüll, Lex Bos und Michael Schreyer vertreten. Sie ist aber – wie schon erwähnt – seit den 1980er Jahren zum Mainstream geworden und damit zu einem Haupthindernis zum Verständnis der sozialen Dreigliederung.
Anmerkungen
[1] Christof Lindenau [1977] Wie wir durch unsere Menschennatur mit anderen Menschen verbunden sind
Das Goetheanum, 56. Jg., Nr. 26/1977, S. 205-207:
«Wenn wir auf den Menschen als ein ‹mündiges› Wesen hinschauen, kommen dabei in sozialer Hinsicht weder spezielle Kräfte und Fähigkeiten noch eine spezifische Bedarfslage in Betracht, dagegen aber die Tatsache, dass er zu anderen Menschen durch Rechte und Pflichten in ein gegenseitiges Verhältnis tritt. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass er die Übereinkunft über Rechte und Pflichten eines bereits bestehenden Menschenzusammenhanges übernimmt und dadurch in diesen Zusammenhang eintritt, so etwa die Gesetze eines Landes oder auch nur die Regeln des Kraftwagenverkehrs, die zu einer Partnerschaft als Bürger oder als Autofahrer führen. Oder es geschieht dadurch, dass Menschen untereinander über ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten Verträge abschliessen oder Verabredungen treffen, wie z.B. ein Mietvertrag, oder auch nur die Verabredung eines Termins oder Treffpunktes.»
Christof Lindenau [1977] Menschennatur und soziale Dreigliederung
Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, 18. Jahrgang, Heft 31, Dezember 1977, S. 24-33:
«Ein drittes derartiges Verhältnis kommt durch die unser soziales Leben überall durchziehende Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten zustande, in die der Mensch als mündiges Wesen eintritt. Dies geschieht entweder dadurch, daß er sich mit anderen darüber verabredet oder mit ihnen Verträge abschließt, oder dadurch, daß er – etwa als Autofahrer in bezug auf die Straßenverkehrsordnung einer gemeinsamen Regelung beitritt, welche die gegenseitigen Rechte und Pflichten durch Gesetz so verteilt, daß wechselseitig das Recht des einen Partners die Pflicht des anderen darstellt, wie das auch bei einem Vertrag oder einer einfachen Verabredung der Fall ist.»
Stand: 05.10.2024